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Kinofilm "Stiller Sommer"
Eine Feier des inkompletten Lebens

Wenn das deutsche Kino Beziehungsstoffe verhandelt, geht es dabei selten heiter und leicht zu. Regisseurin und Drehbuchautorin Nana Neul ist mit "Stiller Sommer" genau das gelungen – und ein sehr spannender und ungewöhnlicher Film noch dazu.

Von Rüdiger Suchsland | 06.04.2014
    Szene aus dem Kinofilm "Stiller Sommer" von Nana Neul
    Nana Neuls Kinofilm "Stiller Sommer" (Zorrofilm)
    "Bist Du eigentlich glücklich, oder stellst Du Dir ein anderes Leben vor?" Szenen einer Ehe in Südfrankreich: Kristine, eine Kunsthistorikerin und Herbert sind ein Paar. Zwei Alphatiere, die seit bald 30 Jahren verheiratet sind, und deren Partnerschaft schon einige Höhen und Tiefen erlebt hat, im Großen, Ganzen aber erstaunlich stabil und immer noch sehr gut funktionierend ist.
    Plötzlich verliert sie ihre Stimme - und nimmt das als Zeichen, dass sie eine Auszeit braucht. Sie zieht sich in ihr Ferienhaus in den Cevennen zurück. Dort trifft sie überraschend ihre Tochter Anna, die durch eine wichtige Uni-Prüfung gerasselt ist und sich mit ihrem Lover Franck zurückgezogen hat.
    Bald trifft Kristine alte Freunde, auch Herbert kommt nach, und peu à peu spitzt sich die Situation zu: Franck lässt nichts anbrennen und flirtet auch mit der Mutter seiner Freundin. So erlebt man eine Gruppe aus lauter über 50-Jährigen, die sich im heißen südfranzösischen Sommer wie Teenager benehmen, ihren Leidenschaften freien Lauf lassen. Aber auch Lebens- und Liebeslügen prallen aufeinander, unausgetragene Konflikte werden mit sich herum geschleppt. Die Tatsache, dass Hauptfigur Kristine nicht reden kann, ist da mehr ein - überaus sprechendes - Kuriosum am Rande. Zugleich nehmen alle Mitmenschen dieser sonst wohl sehr beredten Frau ihr erzwungenes Schweigen zum Anlass, endlich mal selbst zu sagen, was sie denken ...
    Feier des ganz normalen Lebens
    "Das Tolle an Deinem Stimmverlust ist: Wir können gar nicht streiten. Du hörst mir zu." - "Willst Du nicht, oder kannst Du nicht?"
    Regisseurin und Drehbuchautorin Nana Neul ist mit ihrem zweiten Spielfilm - ihr Debüt "Mein Freund aus Faro" war vor einigen Jahren ein großer Festivalerfolg - ein sehr spannender und ungewöhnlicher Film geglückt, der von einer sehr gelassenen fröhlichen Grundstimmung durchzogen ist. Gerade auch im Vergleich zu den üblichen Beziehungsstoffen des deutschen Kinos wirkt er untypisch in seiner heiteren Leichtigkeit, seinem Charme, den nicht zuletzt die Tatsache ausmacht, dass hier endlich einmal ein Film seinem Publikum keine Lektionen erteilen will: Keiner muss sich hier den eigenen Lebenslügen und Abgründen stellen, keineswegs findet jeder Topf einen Deckel und jedes Problem eine Lösung. Stattdessen werden wir Zeugen einer unausgesprochenen, auch unaufdringlichen Feier des Inkompletten, des ganz normalen Lebens.
    Hervorragende Besetzung
    In vielem ist dies auch eine multiperspektivische Charakterstudie über die verschiedenen Generationen: Die Hauptfigur Kristine ist manchmal aufgedreht und experimentierfreudig, eine Art Späthippie. Dann aber wieder still und melancholisch. Dagmar Manzel spielt diese Hauptrolle.
    Auch sonst ist die Besetzung hervorragend: Ernst Stötzner spielt den immer vernünftigen, emotional scheinbar zugeknöpften Ehemann, Hans Jochen Wagner und Victoria Trauttmansdorff sind in weiteren Rollen zu sehen.
    Rebellion in zarten Ansätzen
    Die gelassenste von allen Figuren ist die von Marie Rosa Tietjen gespielte Tochter. Von den vielen egozentrischen Älteren wird sie ein bisschen vernachlässigt, links liegen gelassen. Schon deswegen fliegen ihr die Sympathien des Publikums zu. Man weiß nicht recht, was sie antreibt, aber sie ist eine typische Repräsentantin ihrer Generation, auch darin, dass ihr die Eltern und ein gutes Verhältnis zu ihnen viel wichtiger ist, als es das ihren Eltern umgekehrt ist. Sie wirkt etwas unreif für ihr Alter, muss sich abnabeln. Sie kommt immer wieder, Rebellion oder Boheme-Verhalten erlebt man bei ihr nur in zarten Ansätzen.
    Dramatisches Finale
    Mit einer guten, entspannten Kamera, geführt von Ridley Scotts ehemaliger Kameraassistentin Leah Striker, die ihre Figuren mit poetischen Naturbildern der südfranzösischen Landschaft kontrastiert, und in einer Erzählweise, zu der gelungene Rückblickspassagen gehören, entfaltet der Film eine angenehme Rätselhaftigkeit. Filmästhetik und Handlung entsprechen einander auch darin, dass der Film mitunter etwas gefällig und gut gelaunt aber richtungslos dahinplätschert wie ein ruhiges Gewässer, sich dann aber plötzlich in einen reißenden Gebirgsfluss verwandelt, so wie in der Geschichte eine sommerliche Kanufahrt plötzlich eskaliert und zum Katalysator der Gefühle wird.
    Denn "Stiller Sommer" legt Spuren und Rätsel, die sich im letzten Drittel zu einem dramatischen Finale bündeln. Allein schon deshalb sollte man sich den Film nicht entgehen lassen.