Archiv


KINtop - Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films

KINtop" ist ein seit 1992 jährlich erscheinendes Buch über den frühen Film, also vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Das Verständnis dieser Zeit ist entscheidend für unser Verständnis des heutigen Films. Im frühen Film mußten Dinge entschieden werden, die alles Folgende prägten: Filmtechnik, Filmästhetik, Rezeptionsverhalten, Filmindustrie. Martin Loiperdinger, Medienwissenschaftler an der Universität Trier und Initiator des Jahrbuchs: "Wir sahen einen Handlungsbedarf. Es stand das 100jährige Jubiläum des Films vor der Tür, in Deutschland gab es kaum Forschung zu den ersten 20 Jahren des Films. Heute kennen wir den Kinofilm als langen Spielfilm mit Vorprogramm. Den gibt es aber erst seit dem Ersten Weltkrieg. Vorher war Film Nummernkino, mit viel mehr Formen, die sehr interessant zu erforschen sind."

Maximillian Schönherr | 23.03.1999
    Anweisungen für Filmschauspieler Augen: Schauen Sie nicht aus den Augenwinkeln! Sie werden niemals das gewünschte Resultat erzielen, wenn Sie diese äußerst schlechte Angewohnheit annehmen. Briefe lesen: Wenn eine Dame einen Brief von ihrem Geliebten oder Ehemann erhält, so darf sie ihre Freude nicht dadurch zeigen, daß sie das Schreiben küßt. Das ist übertrieben und durch den häufigen Gebrauch in Filmen und auf der Bühne abgeschmackt und langweilig geworden. Staub: Achten Sie sorgfältig darauf, keinen Staub aufzuwirbeln. Wenn Sie auf einem Pferd reiten, so ist es nicht nötlig, die Kamera zu umkreisen. Wenn Staub in die Kamera kommt, führt dies zu Kratzern, zudem werden Sie den gerechten Zorn des Kameramanns auf sich ziehen. Fluchen: Fluchen Sie nicht im Film. Tausende Taubstumme besuchen die Lichtspielhäuser und können jede Lippenbwewegung verstehen.

    Das ist ein Text von 1910, ausgegeben von der Selig Polyscope Co. an ihre Schauspieler, und jetzt erstmals auf deutsch erschienen, in "KINtop" Band 7. Die insgesamt 20 "Anweisungen für Filmschauspieler" sagen uns cineastisch erfahrenen Lesern des ausklingenden Jahrhunderts viel mehr als manch theoretische Analyse der frühen Filmzeit. Unter anderem sagen sie, daß das Medium Film 1910 bereits so etabliert war, daß es über seine eigenen Klischees zu stolpern begann, etwa das des Briefeküssens.

    Vor allem aber kämpfte der frühe Film mit den ausschweifenden Gesten der großen Theaterbühnen. Aber woher anders als aus der Theatertradition sollte der Filmschauspielstil auch kommen? 1910 jedenfalls waren zumindest die Amerikaner so weit, sich von den auf bildhafte Wirkung zielenden breiten Gesten zu distanzieren und einen eigenen, nämlich zurückhaltenderen Stil der kleinen Gestik und Mimik zu entwickeln. Weil der Zuschauer nun anders als im Theater die Augen des Schauspielers bildfüllend auf der Leinwand sehen konnte, mußte er seine Augenarbeit verfeinern und durfte nicht mehr extrem aus den Augenwinkeln blicken.

    "KINtop" hat sich im siebten Band zum Thema das "stumme Spiel, die sprechende Gesten" gemacht und setzt sich mit diesem Übergang detailliert auseinander. Die zentrale Arbeit auf diesem Gebiet hat 1992 Roberta Pearson geliefert. Die Filmwissenschaftlerin wies anhand der Filme der amerikanischen Biograph Co. nach, daß 1912 der histrionic style des Theaters durch den modernen, kinogerechten versimilar style abgelöst wurde. Einige Aufsätze von "KINtop" greifen diese Aussage von Pearson als zu pauschal an. Allein wegen des Umstands, daß das Theater mit Stimme und Sprache arbeite, der frühe Film aber stumm sei, könne man Filmschauspielerei niemals in einen Topf mit Theaterschauspielerei werfen.

    Um die Vielschichtigkeit dieser Frage zu beleuchten, untersuchten Ben Brewster und Lea Jabobs die Geschwindigkeit von Handlungen im Theater und im Kino Anfang des Jahrhunderts. Schon bei der Quellenforschung stießen sie auf Probleme: Während die Auswahl an Theaterkritiken reichlich ist, sind Filmkritiken rar. Die Feuilletons ließen erst gegen 1920 das neue Medium Film in ihre heiligen Hallen. Vorher wurden Filme in Branchenblättern diskutiert, die Autoren dieser Fachzeitschriften verstanden sich als Förderer einer neuen Industrie und nicht als Kulturkritiker. Brewster und Jacobs stellen fest, daß zur Jahrhundertwende das Theaterspiel eine erhebliche Verlangsamung erfuhr. Yeats berichtet von schier unendlicher Langsamkeit bei einer Phèdre-Aufführung in London im Jahr 1902: "Für lange Zeitspannen standen die Schauspieler einfach nur da und nahmen Posen ein; einmal zählte ich recht langsam bis siebenundzwanzig, bevor auf der reichlich gefüllten Bühne irgend jemand auch nur mit den Augen zwinkerte."

    In den Filmen, die Brewster und Jacobs untersuchten, fanden sie nur wenige Szenen, in denen die Schauspieler bestimmte Posen länger als einige Sekunde hielten. Besonders der damals sehr einflußreiche amerikanische Biograph stand im Ruf, extrem schnell spielen zu lassen, um möglichst viel Handlung auf möglichst wenigen Metern Film unterzubringen. In einer Rezension von "A Girls’s Stratagem" von 1913 heißt es kritisch: "Das Suchlicht der Szenengestaltung springt hin und her von einem Darsteller zum anderen und scheint die verschiedenen Elemente der Situation geradezu gleichzeitig herauszugreifen. Das ist eine rasante Methode, die dafür sorgt, daß der Film im ganzen verständlich ist, auch wenn dies bisweilen auf Kosten des Spiels geht. Die Szenenwechsel geschehen so schnell, daß die Schauspieler manchmal nur noch aus Armen und Händen zu bestehen scheinen."

    Ivo Blom stellt in seinem Aufsatz zur Körpersprache der italienischen Filmdiva Lyda Borelli fest, daß das Genre der Diven-Filme einen eigenen Stil hervorbrachte, der sich genau gegen die herrschende Entwicklung wandte: Die Spielweise von Lyda Borelli entspricht einer Rückbesinnung aufs Theater, gerade zu der Zeit, als die USA den Übergang vom breiten Theaterstil zum minimalen Spiel und der schnellen Montage vollzogen hatten. Diven-Filme verbreiteten sich in den 10er Jahren in ganz Europa und Japan; nur amerikanische Herzen konnten sich nicht dafür erwärmen.

    Die Erforschung des frühen Films ist Quellenforschung praktisch ohne Film, denn "Etwa 90% der Filme sind verloren. Filmzeitschriften und autobiographische Dokumenten sind weitgehend erhalten."

    Z.B. auch der Bericht einer unbekannten Filmschauspielerin bei Pathé Fraire in Paris, in einer französischen Zeitschrift 1914, gefunden und übersetzt: "Ich habe Theater gespielt. Ich wollte zum Film, unter anderem aus Neugier. Ich ging also vor dem kinematographischen Apparat ‘spielen’. Doch eigentlich sollte man gar nicht von ‘spielen’ reden: Auf der Bühne spielt man. Beim Film muß man mehr und Besseres leisten: Man muß leben. Man muß sich bewegen und handeln wie in der Wirklichkeit.

    "KINtop" schließt mit einem Aufsatz über eine eigene Projektionskultur im Japan des letzten Jahrhunderts und einem Appell an Filmsammlungen, nicht so sehr auf ihren mühsam rekonstruierten Schätzen herumzuglucken, sondern nach draußen zu gehen, sich zu vernetzen und Recherche-Anfragen nicht mehr als lästige Störung zu empfinden. "Wir sind Nachzügler in Sachen Medienwissenschaft", so Loiperdinger. "Die Nazis haben das Medium zur Propaganda mißbraucht. Wir versuchen mit ‘KINtop’, das deutsche Publikum mit der internationalen Forschung vor allem der romanischen Länder und USA bekannt zu machen. ‘KINtop" regt durch die Publikationsmöglichkeit inzwischen die Forschung hierzulande auch an, vorüber wir froh sind."