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Kirchboitzen
Das Dorf als Schulhof

In Kirchboitzen im niedersächsischen Heidekreis wird derzeit die Grundschule saniert. Und eigentlich sollten die Schüler dafür in Container ziehe. Die sind aber aufgrund der Nachfrage durch die Flüchtlingssituation zu teuer. Die Lösung: Die Dorfgemeinschaftshalle wird zum Klassenzimmer.

Von Torben Hildebrandt | 30.09.2016
    Der Blick in ein Container-Klassenzimmer
    Container sind derzeit gefragt als Unterkunft für Flüchtlinge. Container-Unternehmen verlangen deswegen höhere Preise. (picture-alliance / dpa/Bernd Weißbrod)
    Unter mächtigen Eichen steht ein schlichter Holzbau, die Dorfgemeinschaftshalle von Kirchboitzen. Hier feiern die Einwohner normalerweise Erntefest, hier werden Theaterstücke gezeigt, die Einwohner erinnern sich auch an die eine oder andere Abi-Party. Seit Kurzem lernen die Kirchboitzer Kinder hier lesen, schreiben und rechnen. Schulleiter Dirk-Hilmar Bünger ist mit zehn Kollegen und 112 Kindern eingezogen:
    "Wenn man um die Ecke gucken würde, da versteckt sich die Theke hinter Schränken. Hier sind mit Leichtbauwänden drei Klassenräume entstanden, und ein vierter Klassenraum befindet sich noch in dem sogenannten Klubraum."
    In der Sektbar, einer Art Holzhütte in der Ecke, wird zurzeit nicht angestoßen und geschunkelt, hier stehen bunte Kinder-Stühle – der Ort rauschender Feste hat sich in einen Betreuungsraum verwandelt:
    "Die Kinder, die morgens noch keinen Unterricht haben, aber ab 7.30 Uhr betreut werden müssen, sammeln sich hier in der Sektbar."
    Kuhglocke als Pausengong
    Dass die Kirchboitzer einfallsreich sind, zeigt sich auch am Pausengong – eine Kuhglocke lockt die Kinder nach der Pause wieder in die Klassen. Improvisieren und zusammenrücken, heißt es gerade für Schüler und Lehrer – und für die Einwohner, denn das Dorfleben steht Kopf: Im Sportheim ist das Lehrerzimmer untergebracht, nebenan, im Schützenhaus sitzen die ersten Klassen - und mittendrin liegt der Fußballplatz, zurzeit ist das der Pausenhof. Kirchboitzen wird zum Grundschulcampus - das freut auch Jens Rübke, den Vorsitzenden des Schützenvereins:
    "Traumhaft – so viele Kinder! Herrlich! Da sind 30 Kinder und laufen einem Ball hinterher, da machen sie Tauziehen, da spielen sie Pferdchen – dafür lohnt es sich, den Vereinsport zurückzustellen und hier glückliche Kinder zu sehen."
    Die Schützen haben ihre Gewehre weggeräumt, die Fußballer trainieren woanders – damit der Schulbetrieb weiter laufen kann. Die Stadt Walsrode als Schulträger spart so mehrere zehntausend Euro, weil sie keine Container anmieten muss. Gewinner ist aber nicht der kommunale Haushalt, sondern das Dorf Kirchboitzen, sagt Schulleiter Bünger:
    "Es ist so, dass das Geld, was eingespart wurde, nicht von der Stadt behalten wird, sondern, die Vereine bekommen eine Entschädigung und auch die Schule bekommt was."
    Nämlich eine Lehrküche und digitale Tafeln für insgesamt 50.000 Euro – so eine Ausstattung wäre ohne die Kreativität der Kirchboitzer nicht möglich gewesen.
    Zwischen Sportheim und Schützenhaus
    Schule mal anders – das heißt: Lehrer müssen zwischen Sportheim und Schützenhaus pendeln und die Uhr noch mehr Blick haben. Die Kinder finden ihren neuen Lernort aufregend. Und das Wort Unterrichtsklima bekommt im Dorfgemeinschaftshaus eine völlig neue Bedeutung:
    "Es ist morgens halt ein bisschen kalt und nachmittags ein bisschen zu warm."
    Die Grenzen zwischen Vereinen und Schule verschwimmen im 600-Einwoher-Dorf Kirchboitzen - auch sonst, im normalen Alltag. Dorf und Schule – beide wissen, was sie voneinander haben, sagt der Schulleiter:
    "Wir haben im Ganztag die Feuerwehr dabei. Wir haben eine Kooperation mit der Kirchengemeinde, mit dem Posaunenchor eine Bläser-AG – oder sei es der Matheunterricht, wenn es ums Thema Schätzen geht, dann werden Maiskolben, Maiskörner mitgebracht – also, das findet sich immer wieder."
    Und deswegen war es auch keine Frage, dass die Vereine ihre Gebäude der Schule zur Verfügung stellen - ganz nebenbei hat die Aktion auch einen pädagogischen Effekt, glaubt der Schützenvereinsvorsitzende Jens Rübke:
    "Also, ich glaube schon, dass das Thema gemeinsame Rücksichtnahme schon ganz wichtig ist. Weil man ja wirklich auf engem Raum lebt, das ist hier noch mal mehr gefordert, als in einem normalen Schulbetrieb, wo es viel weitläufiger ist."
    Andernorts werden kleine Grundschulen infrage gestellt werden – nicht so in Kirchboitzen. Und das liegt auch daran, dass der ganze Ort hinter der Schule steht. Ein paar Tage noch wird die Kuhglocke in Kirchboitzen noch zu hören sein; dann ist das Abenteuer Übergangsschule wieder vorbei. Nach den Herbstferien soll die richtige Schule fertig saniert sein.