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Kirsten Boie: "Schwarze Lügen"
Fatale Vorurteile und ein Ausnahmeschicksal

Kirsten Boies neues Buch "Schwarze Lügen" ist ein Krimi, in dem Jugendliche mit schwarzafrikanischen Wurzeln die Hauptrolle spielen. Die Probleme dieser Kinder kennt die Autorin gut - und zeigt so gesellschaftliche Missstände in Deutschland auf.

Von Ursula Nowak | 17.05.2014
    Eine Jugendliche bei einem Bewerbungstraining in Paris.
    Die dunkelhäutigen Jugendlichen in Boies Buch sind gute Schüler. (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman ecomedia)
    Amadeus wird verdächtigt, eine Bank überfallen zu haben und seine Schwester Melody soll seine Komplizin gewesen sein. Die beiden Teenager kommen aus Afrika, haben eine schwarze Hautfarbe und leben heute in einer norddeutschen Kleinstadt. Es ist ein purer Zufall, der den Verdacht auf die beiden lenkt. Melody trägt die gleiche Tasche, die am Tatort gesichtet wurde. Und es wurde eine afrikanische Voodoo Puppe ebenfalls am Tatort gefunden.
    "Neger" oder "Bimbo" nennen die Kinder ihre afrikanischen Klassenkameraden. Auch die Polizei hat in Kirsten Boies Krimi "Schwarze Lügen" ein negatives Bild von den Afrikanern. Klischeehaft rasseln in der Fahndungskomission die Vorurteile von den Schwarzen, die ja alle an Voodoo glauben würden und meistens ihr Geld auf illegale Weise verdienen.
    Doch das ist bei Amadeus nicht der Fall, er ist ein leistungsstarker Gymnasiast und jobbt als Nachhilfelehrer. Melody geht ebenfalls zum Gymnasium und spielt in ihrer freien Zeit im Schulorchester Klarinette. Kirsten Boie:
    "Und dann kollidiert das natürlich mit unserer Erwartung, die ja durch Jahrzehnte eher rassistischer Afrikanerbilder geprägt ist. Ja, dass die Afrikaner immer Menschen sind, die schlichten Geistes sind, nicht besonders gebildet, vielleicht auch nicht besonders schlau, die an Voodoo glauben und so weiter."
    Kirsten Boie kehrt das Vorurteil um. In ihrem Krimi sind die Protagonisten aus Schwarzafrika Musterschüler, verehren die klassische Musik, daher die Namen Amadeus, Melody und Soprano, so heißt die kleine Schwester. Aber die Familie ist arm, lebt im sozialen Brennpunkt in einem Mietshaus. Als der Vater der Kinder starb, bekam die Mutter Schwierigkeiten mit dem deutschen Gesetz, denn sie musste nachweisen, dass sie die drei Kinder alleine ernähren kann. Das war nicht möglich mit dem Gehalt einer Putzfrau. Sie heiratet einen Deutschen. Der "Arsch", so nennen die Kinder den Stiefvater, ist Alkoholiker und er ist gewalttätig.
    "Es war wie jedes Mal. Immer wenn sie dachte, dass sie es irgendwo geschafft hatte, dass sie dazugehörte, ging es wieder schief. Und nur, weil Mama sich nicht vom Arsch trennen konnte. Solange der Arsch bei Ihnen lebte, konnte es nicht gut werden. Sie konnte sich anstrengen und anstrengen, am Ende zerbrach er ihr doch wieder die Klarinette oder kotzte mit seinem besoffenen Kopf auf die Präsentation, an der sie vier Wochen lang gearbeitet hatte und mit der sie am nächsten Morgen dran gewesen wäre, das war letzten Monat gewesen und hatte sie mindestens eine Zeugnisnote in Biologie gekostet." (S. 28)
    Extreme soziale Gegensätze
    Die Mutter schickt die Kinder in einen gut situierten Stadtteil zur Schule, weit entfernt von ihrem Wohnort. Amadeus und Melody sind fleißige Schüler, mit Erfolg. Amadeus gibt einem Mitschüler mit Namen Lukas in verschiedenen Fächern Nachhilfe. Lukas kommt aus einem sehr reichen Elternhaus. Er hasst die Schule und dementsprechend sind auch seine Noten. Seine Eltern sieht er selten, dafür gibt es ausreichend Geld und Personal.
    Lukas ist das Produkt wohlhabender Verwahrlosung, er nimmt Drogen und hat eine Menge Schulden bei seinen Dealern. Er ist es auch, der die Bank überfallen hat und nun geschickt versucht, den Verdacht auf seinen afrikanischen Mitschüler zu lenken. Kirsten Boie schildert in "Schwarze Lügen" extreme soziale Gegensätze, sie überzeichnet das Bild der Wohlhabenden, Reichen und Schönen im Gegensatz zu den Bewohnern des muffig stinkenden Mietshauses. Aber sie verliert nie den Blick auf die Realität, denn Kirsten Boie hat persönliche Erfahrungen gesammelt.
    "Ich hab ja relativ viel mit Jugendlichen auch in sogenannten sozialen Brennpunkten gearbeitet, im Zusammenhang meistens mit Leseförderprojekten und da lernt man vielleicht Jugendliche kennen, mit denen man sonst vielleicht gar nicht so viel zu tun hat. Und es gibt inzwischen in unseren Großstädten ja Stadtteile, da sind in jeder Klasse ganz sicher zwei drei schwarzafrikanische Kinder vertreten, die aber so in unserem Bewusstsein eigentlich noch gar nicht so richtig aufgetaucht sind."
    Kirsten Boie mahnt zum vorsichtigen Umgang mit dem Fremden. Sie zeigt, welche Irritationen entstehen können, wenn ein schwarzhäutiger Mensch auftaucht. Die Reaktionen auf das Fremde sind so vielfältig wie die Figuren in Kirsten Boies Krimi "Schwarze Lügen". Es gibt massive Ablehnung gegenüber den Schwarzen, aber auch ungewollten Rassismus. Ein russisch deutscher Polizist stellt mit Unbehagen fest, dass er auf sein eigenes Vorurteil reingefallen ist und daher den Falschen festgenommen hat.
    "Er rief sich zur Ordnung. Unsinn, so dachte keiner von ihnen. So waren sie nicht. Woher jemand kam, welche Religion er hatte, welche Hautfarbe und welche Nationalität, spielte bei ihren Ermittlungen keine Rolle. Zumindest beim Kommissar war er sich da am dritten Tag der Zusammenarbeit ganz sicher.
    Aber das ungute Gefühl blieb. Und wie weit konnte er sich selbst trauen?"
    Identifikationsfiguren für Jugendliche
    Mit ihrem neuen Buch "Schwarze Lügen" zeigt Kirsten Boie, welche fatalen Folgen Vorurteile haben können. Aber es gibt auch humorvolle Momente in dieser Geschichte, wie beispielsweise die Begegnung von Melody mit dem blinden Fabrikanten. Er hat das Mädchen mit seiner Enkeltochter verwechselt und staunt über das schöne Klarinettenspiel seiner vermeintlichen Enkeltochter. Es entsteht ein Gespräch zwischen den beiden, der Blinde ist an Melody interessiert und vor allem ist er unvoreingenommen. Für Melody ist es eine Ausnahme, wenn bei der ersten Begegnung mal nicht nach ihrer Herkunft gefragt wird.
    "Anderen stellte niemand solche Fragen: woher sie kamen, nicht mal danach, was ihre Eltern arbeiteten. Nur von ihr wollten immer alle alles genau wissen, und dahinter steckte, wie verborgen auch immer, der Vorwurf: ‚Eigentlich gehörst du doch gar nicht hierher. Du gehörst nicht zu uns.'" (S. 200f.)
    Melody ist eine Figur, mit der sich Jungen und Mädchen identifizieren können: Sie ist klug, kämpft in der Schule um ihre Position und setzt alles daran, ihr Bild von sich selbst zu erschaffen. Wie alle Teenager träumt Melody von ihrem Leben als Erwachsene. Darunter liegt immer wieder die große Sehnsucht nach einem glücklichen Leben. Und das ist das großartige dieses Krimis, Kirsten Boie erschafft mit Melody eine Figur, die in verschiedenen Welten lebt, wie sie gegensätzlicher nicht sein können. Melody ist klug und sie erkennt, dass Geld nicht nur glücklich macht, aber ein bisschen schon.
    "Sein Geld konnte dem alten Mann nicht sein Augenlicht zurückgeben, es konnte ihm keine Freunde schenken, keine liebevolle Familie. Geld machte nicht glücklich. Einerseits. Aber er lebte in diesem wunderbaren Haus, er hatte eine Frau Iversen, die ihn versorgte und einen Gärtner. Wie würde es ihm denn ohne seine Millionen gehen, alt, allein und blind? Ein bisschen glücklicher machte Geld eben doch." (S. 190f)
    Kirsten Boie schildert gekonnt die menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung und Anerkennung und sie weiß aus ihrer Arbeit mit Jugendlichen sehr gut, dass es in der Pubertät darum geht, die persönliche Zukunft zu erschaffen. Das ist ein Prozess. Und Melody arbeitet hart an ihrer Persönlichkeit. Sie kämpft für ihre Ziele und sucht sich ihren eigenen Weg. Und schließlich spielt das Glück ein bisschen mit.
    "Es ist ja kein Problembuch in dem Sinne, sondern es versucht ja eine spannende Geschichte zu erzählen. Und ich denke bei einer spannenden Geschichte wünschen wir uns ein Happy End. Und dazu gehört nicht nur, dass der Kriminalfall aufgeklärt wird, sondern auch, dass die größten Schwierigkeiten des privaten und persönlichen Lebens der Hauptfiguren bewältigt werden. Und deshalb gibt's eben da auch am Schluss diese zugegeben sehr optimistische Lösung."
    Kirsten Boie gelingt es, in ihrem neuen Buch "Schwarze Lügen" ein Ausnahmeschicksal einer schwarzafrikanischen Familie in Deutschland drastisch und realitätsnah zu schildern. Sie zeigt gesellschaftliche Missstände auf und ermahnt mit ihrer Geschichte zur Achtsamkeit im Umgang mit den Vorurteilen. Mit ihrer großartigen Erzählkunst ist Kirsten Boie ein spannender Krimi gelungen für Kinder ab 12 Jahren.
    Kirsten Boie: "Schwarze Lügen". 416 Seiten gebunden; erschienen im Verlag Friedrich Oetinger, empfohlen ab 12 Jahren, 17,95 Euro.