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Jugendbücher
Von Abstieg und Armut vieler Kinder in Deutschland

In Deutschland leben laut Kinderschutzbund mehr als zweieinhalb Millionen Kinder in Einkommensarmut. Viele Autorinnen und Autoren geben dieser für viele Menschen anonymen Masse ein Gesicht. Wir stellen einige davon vor.

Von Karin Hahn | 18.01.2014
    In allen Jugendbüchern, die heute vorgestellt werden, fehlt es den jungen Protagonisten substantiell an fast allem, was für ihre Entwicklung wichtig ist: Sie kennen keine materielle Sicherheit, keine Förderung oder Vermittlung von Bildung und Kultur und keine regelmäßigen warmen Mahlzeiten. Häufig sind die Eltern nicht in der Lage, ihren Kindern Zuwendung und Geborgenheit zu geben. Aber auch Väter und Mütter geraten unverschuldet in Krisen, durch die ihre Kinder den gewohnten Schutzraum verlieren.
    Kinder im Teufelskreis
    Kinder wie Jugendliche, die sich in solchen Lebenssituationen wiederfinden und oftmals viel zu viel Verantwortung übernehmen müssen, entkommen diesem Teufelskreis nur selten. Der Buchmarkt wird von sozialkritisch unbequemen Lebensgeschichten nicht gerade überschwemmt, ein Grund mehr zu schauen, wie Autoren sich inhaltlich und literarisch dem Sujet nähern.
    "Ich finde, das ist ein Thema, was wenn man Jugendbücher schreibt, einfach nicht hinweggucken kann. Ich lebe hier in Köln und gehe mit sehr aufmerksamen Augen durch die Stadt und sehe das auch immer wieder. Ich bin auch als Elternvertreterin lange in der Klassenkonferenz in der Gesamtschule gewesen und habe da auch solche Kinder kennengelernt und daher interess"ieren sie mich, und ich finde, sie haben so wenig Stimmen in der Öffentlichkeit."
    … sagt Brigitte Glaser. Als sie ein aggressives, aber doch sehr verletzliches Mädchen aus einem Brennpunkt-Kiez kennenlernte, entstand die Idee zu ihrem neuen Jugendroman "8 Tage im Juni". Die Geschichte beginnt um Mitternacht auf einem Kölner U-Bahnhof. Hier wird Lovis brutal zusammengeschlagen und auf die Gleise gestoßen. Jenny rettet ihm das Leben. Aber sie will, obwohl sie die drei Schläger gesehen hat, nichts mit der Polizei zu tun haben, denn sie wohnt in der Roten Burg, einer heruntergekommenen Arbeitersiedlung, und fühlt sich dadurch sowieso schon stigmatisiert. Außerdem hat sie unter den prügelnden Jugendlichen Toni erkannt, einen Jungen, mit dem sie groß geworden ist.
    Jenny lebt mit ihrer labilen Mutter Jasmin, ihrem kleinen Bruder und ihrem Hund in einer sehr beengten Wohnung. Die Mutter kümmert sich um die kranken Tiere, die die Nachbarn ihr bringen. Die Verantwortung für den Bruder, die ständigen Geldsorgen und den oftmals leeren Kühlschrank überlässt sie ihrer Tochter. Die Mutter löst lieber Kreuzworträtsel.
    Buchausschnitt – 8 Tage im Juni:
    "Es wäre doch toll, wenn ich die Waschmaschine gewinnen würde."
    "Weißt du, wie viele bei so einen Kreuzworträtsel mitmachen?" schrie Jenny.
    "Weißt du, wie gering deine Chance ist zu gewinnen?"
    "Glück", murmelte Jasmin und sah Jenny mit großen Augen erschreckt an. "Meinst du, dass ich nicht einmal Glück haben könnte?"
    Jenny drehte sich um, knallte die Tür zu und stürmte in die Küche. Ihr Körper wurde von kleinen, schmerzhaften Schluchzern durchgerüttelt, die Nase füllte sich mit Rotz,Tränen brannten auf ihren Wangen. Dabei wusste sie, dass Heulen nichts nutzte.
    Protagonisten stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus
    Lovis dagegen muss sich um nichts sorgen. Er lebt in äußerst wohlhabenden Verhältnissen mit seinem energischen Vater. Durch den gewaltsamen Übergriff und die demütigende Erinnerung beginnt Lovis wieder zu stottern. Dabei hatte er diese Sprachstörung, wie er glaubte, längst überwunden. Trotzdem will er sich bei Jenny für die Rettung persönlich bedanken. Er will sie unbedingt kennenlernen. Wie Romeo und Julia verlieben sich die beiden Hauptfiguren, obwohl sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen. Brigitte Glaser lässt den Leser nicht nur in Jennys Innenwelt blicken, sie gibt auch Lovis einen eigenen Erzählton, was beim Schreiben nicht immer einfach war.
    "Jungen fallen mir grundsätzlich schwerer als Mädchen. Ja, bei Lovis war einfach das Problem, dass ich ihn ja einführe in einer Szene, in der er sehr schwach ist und dass er auch erst über lange Strecken in diesem Buch sehr schwach und verzweifelt ist. Der ist mir ganz lang entglitten, da habe ich sehr lange gebraucht, bis ich mich in Lovis hineinversetzen und ihn schreiben konnte. Bei Jenny ist mir das einfacher gefallen."
    Eine Sozialarbeiterin bietet Jenny einen Platz in einer Mädchen-WG an, damit sie endlich ungestört für die Schule arbeiten kann und Zeit für sich hat. Aber Jenny glaubt, dass sie ihre kleine Familie nicht allein lassen kann. Und sie fühlt sich innerlich zerrissen, denn Toni erwartet von ihr eine Falschaussage bei der Polizei für die Nacht, in der er Lovis überfallen hat. Außerdem zieht Toni Jennys kleinen Bruder in seine kriminellen Machenschaften hinein. Lovis hat ganz andere Probleme, er muss sich mit den Vorurteilen seines besten Freundes auseinandersetzen.
    Buchausschnitt – 8 Tage im Juni:
    "Nils kannte Jenny nicht! Niemals war sie die Braut von so einem Bandenchef.
    "Oder", fuhr Nils mit düsterer Stimme fort, "sie haben das Mädchen auf dich angesetzt. Was glaubst du wohl, warum die so plötzlich bei euch übernachten wollte? Wenn du gleich heimkommst, sieh nach, was fehlt. Die klauen doch alle wie die Raben." "Du kennst sie doch gar nicht!" Lovis merkte, wie sehr ihn Nils dummes Gerede aufregte."
    "Proll-Tussi"
    Brigitte Glaser erzählt einfühlsam, komplex und vor allem alltagsnah von der behutsamen Annäherung zweier Jugendlicher, die sich von der äußeren Welt nicht beeinflussen lassen wollen. Sie hat für ihren Roman intensiv recherchiert und durfte einen Streetworker bei seiner Arbeit begleiten. Ihre lebendig dargestellten Figuren agieren wie normale Menschen mit all ihren Schwächen und Fehlern, völlig frei von gängigen Klischees. Für Lovis ist Jenny ein Mädchen, das trotz seiner schwierigen Situation, Ziele hat. Sie interessiert ihn, auch wenn sie von seinen Freunden als "Proll-Tussi" beschimpft wird. Und Jenny fühlt sich geborgen und angenommen von dem ruhigen, sensiblen Jungen. Brigitte Glaser konstruiert kein alle glücklich machendes Happy End, sondern bleibt bis zum Ende auf Jennys Seite.
    "Ich habe natürlich schon auch den Wunsch, dass ich in meinen Geschichten jugendliche Augen öffne für Welten, die sie sonst nicht sehen würden oder das sie den Blick auch mal verändern können auf Dinge, über die sonst hinwegsehen oder denen sie sonst nur mit Vorurteilen begegnen. Mich interessieren in meinen Jugendbüchern immer fremde Welten, die ganz nah sind. Diese beiden, Jenny und Lovis, die wohnen Luftlinie vier Kilometer entfernt, die sind sich eigentlich ganz nah räumlich und trotzdem wissen sie so gut wie nichts voneinander."
    Geographisch weit entfernt, aber thematisch nah dran ist der Jugendroman "No place, no home" des amerikanischen Autors Morton Rhue. Er handelt vom gnadenlosen Absturz einer ganz normalen Mittelschichtfamilie. Die tief verzweifelten Eltern des 17- jährigen Daniel Halprin verlieren nicht nur nach und nach ihre Jobs, sie können auch nicht mehr die Raten für ihr Haus zahlen. Nach einem kurzen, spannungsreichen Aufenthalt bei Daniels Onkel Ron, der ebenfalls existentiell zu kämpfen hat, verlassen die Halprins das Familienasyl und ziehen in das Obdachlosencamp der Stadt. Dignityville wird das Zeltlager genannt, das mitten in einer zentral gelegenen Parkanlage für Menschen in Not entstanden ist. Was sich anhört wie ein Sozialdrama, wurde für viele Amerikaner 2007 durch die Finanzkrise in beängstigender Schnelligkeit bittere Realität und wirkt bis heute nach.
    Daniel, ein angesehener Schüler und Baseballspieler an seiner Highschool, versucht die prekäre Lage seiner Familie, auch aus Scham vor seinen Freunden, geheim zu halten, was ihm jedoch nur kurzzeitig gelingt. Am Boden zerstört und wütend versteht Daniel zwar die Situation seines Vaters, aber er beginnt ihn auch dafür zu hassen. Ein schwerer innerer Konflikt entsteht, den Morton Rhue sehr eindringlich beschreibt.
    "Es ist wirklich schwierig. Von einem Moment zum anderen verliert er sein Zuhause, das ist für einen Teenager kaum zu verstehen. An bestimmten Punkten innerhalb der Geschichte macht er seine Eltern dafür verantwortlich, sicher. Aber es ist nicht der Fehler der Eltern. Die Wirtschaft ist mal im Aufschwung und dann wieder in der Abwärtsbewegung. So einfach funktioniert die Welt, aber das versteht ein Teenager nicht."
    Daniel versucht mit Sarkasmus und Ironie, diese für ihn undurchsichtige Situation zu überspielen.
    Buchausschnitt – No place, no home
    "This is the end... bumm, bumm, bumm...", sang mein Vater den Song von den Doors und zwinkerte mir zu, als wäre alles halb so schlimm.
    "Ich betrachte es lieber als Neuanfang", meinte Mom.
    Ich schüttelte den Kopf. "Schwer zu glauben."
    "Das musst du auch nicht", sagte Dad. "Betrachte es als vorübergehenden Rückschlag, Dan. Wir kriegen das schon wieder in den Griff. Wart's ab."
    "Immerhin haben wir noch unsere Gesundheit", warf Mom ein.
    "Ach ja, hab ich ganz vergessen. Dann ist ja alles bestens", sagte ich. Als wäre es nicht weiter tragisch, sein Haus zu verlieren, solange man nicht im Rollstuhl saß.
    "Ich erzähle es aus Dans Perspektive, weil ich möchte, dass junge Leute mein Buch lesen. Und wenn man möchte, dass Teenager Bücher lesen, muss es aus ihrer Perspektive geschrieben sein. Realistische Geschichten, nicht immer aber meistens, werden aus dem Blickwinkel eines Jungen geschrieben. Mädchen haben kein Problem damit eine Geschichte aus der Perspektive eines Jungen zu lesen, aber Jungen finden es schwer, sich der Denkweise eines Mädchens zu nähern."
    Nach und nach erkennt Daniel, der sich nie für sozialkritische oder gesellschaftliche Fragen interessiert hat, dass im Camp nicht nur sogenannte Sozialschmarotzer, Loser oder Alkoholiker gestrandet sind, sondern viele Menschen, die durch Krankheit, den Verlust ihrer Jobs oder sogar mit regulärer Arbeit ihr Leben nicht mehr finanzieren können. Durch seine persönliche Lage überdenkt Daniel seine bisherigen Ansichten und erkennt, dass auch er immer der Meinung war, dass doch jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Die Realität jedoch kann er sich nicht mehr schönreden.
    Buchausschnitt – No place, no home
    "Ich lebe in einem Zelt, nehme an der kostenlosen Schulspeisung teil, lasse meine Freundin für mich bezahlen und bilde mir tatsächlich immer noch ein, ich wäre NICHT arm?"
    "Er entwickelt viel mehr Sympathie für Leute, die nicht so viele Möglichkeiten haben, wie er. Und das ist auch der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ich möchte das junge Leute in den USA dieses Gefühl entwickeln.
    Keine Frage, Dan hat Glück, er hat immer noch die Chance zur Universität zu gehen. Ich denke, er wird erwachsen werden und es wird alles gut. Aber er wird viel mehr Sensibilität für die Schwierigkeiten anderer Menschen entwickeln. Das ist ein Problem in den USA, dass wirklich nicht viele Menschen verstehen, wie viel Armut es in den USA gibt. Fast ein Drittel aller Menschen in den USA leben in Armut oder hart am Existenzminimum. Aber wir sehen sie nicht Tag für Tag oder wir sind immun dagegen. Ich denke, die Menschen müssen verstehen, dass das eine gigantische Anzahl von Leuten ist."
    Neben der existentiellen Krise, die Daniel und seine Eltern bewältigen müssen, baut Morton Rhue eine zweite Erzählebene ein. Die Arbeitslosenunterstützung von Daniels Vater läuft aus und er begibt sich in die Hände von Leuten, der die öffentliche Ausstellung der Armut in ihrem Stadtzentrum nicht passt. Dignityville ist für sie geschäftsschädigend und so greifen sie zu kriminellen Mitteln, um das Zeltlager zu zerstören. In die durchaus spannende und gut nachvollziehbare Handlung fließen auch immer wieder gesellschaftskritische Fakten ein. So erfährt der Leser fast nebenbei, dass in den USA aktuell mehr Menschen obdachlos sind als jemals zuvor in der Geschichte des Landes.
    Oftmals zählen zu den sozial schlechter gestellten Menschen alleinstehende Mütter. Im schwedischen Jugendroman "Hoffnung" von Åsa Anderberg Strollo trauert die viel zu junge Mutter von Jonna, die sich zeitweilig mit Sozialhilfe durchschlägt, ihren Teenagerträumen hinterher. Ihre 16-jährige Tochter jedoch sehnt sich nach einem normalen Familienleben und einem gemütlichen Weihnachtsfest mit der Mutter. Als sich jedoch ihre Freude auf gemeinsame Feiertage abrupt in Luft auflöst, die egozentrische Mutter fliegt lieber mit ihrem neuen Freund nach Mallorca, läuft Jonna mit Schultasche, wenig Geld und in viel zu dünnen Turnschuhen von zu Hause fort.
    Buchausschnitt – Hoffnung
    "Verfluchte Mama, der alles egal ist! Und Großmutter, die ganz genau wusste, was Jonna und Mama für Weihnachten dieses Jahr ausgemacht hatten, und die trotzdem nicht protestiert hat. Großmutter, die von Rücksichtnahme und Zusammenarbeit und Geduld labert, aber immer nur an ihr Enkelkind gerichtet, nie an ihr Kind. Wenn Oma ein einziges Mal, nur heute, Jonnas Partei ergriffen und sie gegen Mama verteidigt hätte, dann wäre das eine ganz andere Sache gewesen. Aber nein, sie war auch noch Mamas Meinung und ermunterte sie, hörte sich alle Pläne an und ließ Mama damit davonkommen."!
    Als Jonna spontan vier Tage vor Weihnachten von Kolsva nach Stockholm aufbricht, hofft sie recht unerfahren auf Arbeit und eine eigene Wohnung. Doch schnell folgt die Ernüchterung und die erste Nacht in bitterer Kälte. Åsa Anderberg Strollo erzählt ihre Geschichte im direkten Präsens und in der dritten Person. Durch den eingeschränkten Blickwinkel ihrer Hauptfigur legt die Autorin ungeschönt Jonnas Innenleben offen. Das Mädchen ist durch die Gleichgültigkeit ihrer Familie gefrustet, sehnt sich nach Zuwendung und nach einer echten Freundin. Auf der Straße trifft sie die erfahrene Alex, die sich zwar anfänglich um sie kümmert, sie dann aber gefühllos in kriminelle Handlungen verwickelt. Jonna muss bei ihrem entbehrungsreichen Leben auf der Straße brutale Gewalt erleben, Prostitution, Schmutz, Alkoholexzesse, sie wird lügen und stehlen. Und doch fährt sie nicht nach Hause, sie telefoniert mit der Großmutter.
    Buchausschnitt – Hoffnung
    "Sie sagt "Wo bist du eigentlich?" und nicht "Wo bist du nur!", das ist ein verdammter Unterschied. Jonna bleibt die Luft weg. Egal, wenn sie betrunken ist, aber was für eine verdammte Frage ist das? Hat die Frau nicht einmal gemerkt, dass Jonna weg ist?
    "Bist du bei einer Freundin, Jonna?"
    Freundin? Sie hat keine Freundinnen, verdammt noch mal! …. Hat sie wirklich gedacht dass IRGENDJEMAND in Kolsva ihr aus Sorge oder Sehnsucht nachweinen würde? Meine Güte, nach dem Morgen und nachdem sie sechzehn verdammte Jahre mit diesen beiden Frauen verbracht hat – hat sie denn immer noch nichts gelernt?"
    Fürsorge der Sozialarbeiterinnen sind ein Lichtblick
    Aber Jonna erlebt auch Solidarität und Mitgefühl von den Mädchen, die wie sie aus den emotionalen und sozialen Sicherungen herausgefallen sind, z.B. von Elina, die in ihrem Verschlag im U-Bahnschacht Kuscheltiere um sich versammelt. Ein Hoffnungsschimmer für Jonna ist die Fürsorge der Sozialarbeiterinnen im Enter, die sich um obdachlose Jugendliche kümmern. Ist Jonnas Großmutter allem gegenüber gleichgültig und die Mutter egozentrisch, so sorgt sich Jonna trotz eigener seelischer Verletzungen um andere Menschen und ist da, wenn Alex in Schwierigkeiten steckt.
    Lebensnah und glaubwürdig, mal in kurzen heftigen Sätzen, dann wieder langen Erzählpassagen schreibt Åsa Anderberg Strollo von Jonnas Sehnsucht nach Geborgenheit. "Hoffnung" ist nicht nur der Titel des Buches, es bleibt die Hoffnung, dass Jonna wahrscheinlich auf sich gestellt ihren eigenen Weg finden wird.
    So ein unbeschütztes Leben wie Jonna führt der 17-jährige Punker Tim, der für sich beruflich keine Zukunft sieht. Er streunt mit seinem Welpen durch die Straßen von Berlin. Livia, sie ist 14, läuft ihm über den Weg und verguckt sich nicht nur in das Hundebaby, dem sie regelmäßig Futter kauft. Als Tim nicht mehr auftaucht, macht sich Livia zum ersten Mal nicht nur Sorgen um ihr trendiges Outfit, Geld hat sie ja genug, sondern auch um den freundlichen Punker mit den blauen Augen. Der Jugendroman "Subway sound" von Katrin Bongard erzählt aus Livias Sicht von ihrem unbeschwerten, aber auch ziemlich einsamen Leben in der Großstadt. Livias Mutter wohnt in Spanien, der Vater ist fast nie zu Hause. Auch hier wie in "8 Tage im Juni" verlieben sich zwei Jugendliche aus verschiedenen Milieus. Die verwöhnte Livia ist neugierig auf den obdachlosen Tim, jedoch nicht so oberflächlich wie ihre Freundin.
    Buchausschnitt - Subway Sound
    "Johanna meinte, dass die Leute, die auf der Straße leben, selber schuld seien.
    Sie hätten ihr Geld versoffen oder sich nie nach einer Arbeit umgesehen, und man sollte kein Mitleid mit ihnen haben. Anna und ich haben ihr vorsichtig widersprochen. Was ist mit den Kindern auf der Straße? Und, obwohl ich es nicht sagte, sondern nur gedachte habe: Was ist mit Tim?"
    Der junge Punker provoziert Livia, nachdem sie ihn vor ihren wohlstandsverwöhnten Freundinnen verleugnet hat, und behauptet, dass sie es nicht einen Tag und eine Nacht, ohne Handy, Geld oder Scheckkarte, auf der Straße aushalten würde. Livia lässt sich sorgfältig gestylt auf das Abenteuer Straße ein, bettelt mit Tim, lernt die vulgäre Straßensprache kennen, wird von brutalen Typen mit Kampfhund verjagt und bemerkt immer wieder die abschätzigen Blicke der Passanten.
    Buchausschnitt – Subway Sound
    "Essen ist das Wichtigste!, denke ich. Wichtiger als alles andere. Tim führt mich auf eine kleine Grünfläche mit einem Spielplatz. Hier gibt es Bänke, auf die wir uns setzen können. Ich wusste vorher nicht, wie wichtig öffentliche Bänke sind. Nun schwöre ich mir, es nie mehr zu vergessen."
    Katrin Bongard, das ist gut gemeint, überspringt in ihrer Geschichte einfach alles Trennende und erfindet eine starke Mädchenfigur, die trotz mäßiger Einwände der Eltern und trotz Mobbing ihrer besten Freunde sich in ihrer Zuwendung zu Tim nicht beirren lässt. Die Autorin konzentriert sich auf ihre leider zu blassen Hauptfiguren, spart echte Konflikte aus und verharrt doch sehr im Klischee des liebenswerten Punkers, der einfach abgerutscht ist und gegen die gesellschaftlichen Normen trotzt.
    Armut hat viele Gesichter, ob nun in Europa oder in Afrika. Die Hamburger Autorin Kirsten Boie engagiert sich in Hilfsprojekten vor Ort, aber sie reist auch immer wieder nach Swasiland, einem kleinen Staat, der zwischen Südafrika und Mozambique liegt. Unter dem Titel "Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen" hat sie vier Geschichten veröffentlicht.
    "Als ich diese Geschichten geschrieben habe, habe ich sie, und zwar wirklich alle vier, zunächst hauptsächlich für mich selbst geschrieben, um eben die Dinge, die ich da in Swasiland immer wieder erlebe, auch zu verarbeiten. Und ich wollte das tatsächlich nicht öffentlich machen, denke aber inzwischen, dass es zumindest nichts schaden kann, wenn wir hier auch was hören, von einem Elend das ja weit, weit, weit alles übersteigt, was wir bei uns an Elend erleben."
    In Swasiland sind gut 45% der Kinder Voll- und Halbwaisen.
    Durch die grassierende Krankheit AIDS liegt die Lebenserwartung der Menschen durchschnittlich bei 31 Jahren. Kinder und Jugendliche lernen durch die hohe Sterblichkeitsrate kaum etwas von ihren Eltern, z.B. wie man das Land bestellt und somit fehlt eine wichtige Lebensgrundlage für ganze Generationen.
    Buchausschnitt – Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen
    "Ich kenne einen Jungen in Afrika. In den Hügeln von Shiselweni lebt er, nicht weit hinter Hlatikuku, wo am Morgen die Sonne rot über die Gipfel steigt und die Ferne in einen blauen Dunst taucht; und wo es schöner ist als irgendwo sonst auf der Welt, das weiß Thulani genau."
    Der elfjährige Thulani lebt mit seiner jüngeren Schwester bei seiner Gugu, seiner Großmutter, die gelähmt ist. Er träumt von der großen Fußballerkarriere. Jetzt, wo Mutter und Vater gestorben sind, ist er der Mann im Haus. Allerdings hört die kleine Schwester nicht auf ihn, sie holt kein Wasser und auch kein Holz. Alles bleibt an Thulani hängen, auch die Verantwortung für seine Schulbildung.
    Die Kinder in Kirsten Boies ruhig erzählten, sehr reduzierten Geschichten leben mit dem Tod als unsichtbarem Begleiter. Ohne mit dem Schicksal zu hadern, prägt die Angst vor dem Ausbruch der Krankheit ihr tägliches, karges Dasein. Sonto und Pholile jedoch wollen Gewissheit haben, ob sie mit HIV infiziert sind. Auf dem langen, steinigen Fußweg zur Krankenstation liest Sonto ihrer Schwester aus dem Erinnerungsbuch der Mutter vor. Sie ist längst wie der Vater und der Bruder verstorben. Die Mutter erzählt von ihrer Familie, von der Geburt der Kinder, was sie gern, als sie noch kleiner waren, gespielt haben, von der Herkunft der Großeltern und sie schreibt Dinge auf, die sie nicht erzählen konnte. Sonto und Pholile hüten das Buch ihrer Mama wie einen kostbaren Schatz.
    Buchausschnitt – Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen
    Behutsam öffnet Sonto die Dose. Auch an die Dose hat Mama noch gedacht, kann man denn ahnen, ob die Termiten nicht auch wissen möchten, was Mama geschrieben hat? "Und was die Termiten lesen, fressen sie auf!", hat Mama gesagt und gelacht. Mama hat lustige Dinge gesagt, bis zuletzt.
    Kirsten Boie hat ihre authentischen Geschichten, beeinflusst von eigenen Erfahrungen und Begegnungen in Swasiland, aus der Perspektive der Kinder geschrieben. Das ist eigentlich für eine Kinderbuchautorin normales Handwerk. Doch diese Mal war es anders.
    "Ich habe aber durchaus Zweifel und Skrupel gehabt, das zu machen, weil ich bin eine Europäerin, die unter völlig anderen Bedingungen lebt, die also ganz offensichtlich auch zu bestimmten Themen ganz andere Assoziationen hat usw. und dann aus der Perspektive eines afrikanischen Kindes zu erzählen, das unter so extremen Bedingungen lebt, das ist schon ein bisschen kühn und vielleicht sogar anmaßend. Ich gehe auch nicht davon aus, dass alles was ich diesen Kindern an Gedanken und Gefühlen in den Mund oder in den Kopf lege, tatsächlich authentisch ist."
    Von der Tragik der elternlosen Kinder, die zu viel Verantwortung für sich und ihre Geschwister übernehmen müssen, erzählt die Geschichte "Jabus Schuhe". Jabu hat ihre Schuhe verloren und nun muss die ältere Schwester Lungile in der Stadt gebrauchte besorgen, damit die Schwester wieder in die Schule gehen kann. Von staatlicher Seite aus ist es Kindern verwehrt zu arbeiten. Verzweifelt versucht Lungile, ihre Schlafmatten auf dem Markt zu verkaufen. Am Ende des Tages jedoch weiß das minderjährige Mädchen vor dem letzten Innehalten der Kindheit, dass sie nur eine Wahl hat.
    Buchausschnitt – Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen
    "Der erste Fahrer ist mager. "Virgin?", flüstert er aus seinem Fenster, und Lungile nickt und sagt: "Hundred!", weil sie siebzig braucht und weil sie doch nicht wissen kann, ob der Mann noch handeln will; aber der Mann lacht und sagt: "Thirty", und Lungile weiß nicht, ob das der Preis ist, den die Fahrer bei Matsapha Truck Stop für ein Mädchen bezahlen."
    So individuell Kirsten Boies Geschichten sind, so allgemein gültig sind sie, weil sie zeigen, wie der Mikrokosmos Familie sich in der Gesellschaft langsam auflöst. Die jungen alleingelassenen Protagonisten müssen viel zu früh verstehen, was es bedeutet, zu überleben. Nur mit Schuhen kann Jabu am Unterricht teilnehmen und Bildung könnte beiden Schwestern in der Zukunft helfen.
    "Wir werden ja überschüttet und Kinder und Jugendliche eben auch, weil die ja die Medien nutzen, mit Bildern von allen möglichen ganz ganz furchtbaren Katastropen. Und ich denke, wir haben uns da ein kleines bisschen Hornhaut auf der Seele wachsen lassen und wachsen lassen müssen. Man könnte das ja gar nicht mehr alles an sich ranlassen, so dass Bilder gar nicht mehr so viel auslösen können. Und ich habe immer noch die Hoffnung, dass über Sprache und über Geschichten es vielleicht so einen kleinen geheimen Hintereingang zu unseren Gefühlen geben könnte. Und ja, diese Geschichten vielleicht so einen Schleichweg nehmen können und da emotional was auslösen und vielleicht eine größere Wachheit für das Elend, das es anderswo gibt."
    Der Subtext um Toleranz, Respekt und ein tiefes Verständnis für die Situation von Kindern und Jugendlichen fügt sich bruchlos in die unterschiedlichen Geschichten und Romane ein und wirkt somit in keinem Augenblick belehrend. Als Fazit der Lektüre bleibt, alle Kinder und Jugendlichen sollten die gleichen Chancen auf ein normales Leben haben.

    Brigitte Glaser: 8 Tage im Juni.
    Boje Verlag, Köln 2013, 221 Seiten, €11,99, ISBN 978-3-414-82363-2
    Åsa Anderberg Strollo: Hoffnung.
    Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann, Heyne Verlag, München 2013, 304 Seiten, €12,99, ISBN 978-3-453-31526-6
    Katrin Bongard: Subway Sound.
    Pink Oetinger Verlag, TB, Hamburg 2013, 215 Seiten, €11,99, ISBN 978-3-86430-012-7
    Morton Rhue: No place, no home.
    Aus dem amerikanischen Englisch von Katarina Ganslandt, Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2013, 285 Seiten, €14,99, 978-3-473-40100-0
    Kirsten Boie: Es gibt Dinge, die man nicht erzählen kann.
    Oetinger Verlag, Hamburg 2013, 112 Seiten, €12,95, ISBN 978-3-7891-2019-0