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Klagelieder und Marschmusik

In Spanien beginnt am Palmsonntag die Semana Santa: die heilige Woche. Bis Ostermontag wird der Leidensweg Christi in Passionsprozessionen in Szene gesetzt. Nirgendwo nimmt die Bevölkerung daran so großen Anteil wie in Andalusien. Zehn Millionen Besucher reisen jedes Jahr nach Südspanien.

Von Matthias Sommer | 24.03.2013
    Wenn Musik wie diese durch die Straßen Andalusiens schallt, dann haben die Osterprozessionen begonnen. Die Semana Santa. Ich bin in der zweitgrößten Stadt des Südens - in Malaga und schlängele mich durch die verstopften Straßen. Ganz Malaga scheint auf den Beinen zu sein. Alte, Junge und erstaunlich viele kleine Kinder. Es riecht nach Weihrauch und gebrannten Mandeln. Eine Mischung aus religiöser Tradition und Volksfeststimmung.

    Am Straßenrand singt eine Frau eine Saeta: ein Klagelied der Muttergottes, über den Leidensweg ihres Sohnes. Diese Saeta ist auch der Prozession gewidmet, einer der berühmtesten der Stadt: "El cautivo": Jesus von Nazareth der Gefangene.

    Die Bruderschaft El cautivo, gehört zum Stadtviertel Trinidad, 4.000 Menschen begleiten sie und Hunderttausende schauen am Straßenrand zu. Acht Stunden dauert das Spektakel.

    Die Glockenschläge geben den Trägern ein Zeichen. Rund 350 Männer der Bruderschaft El Cautivo haben die Figur Jesus von Nazareth auf ihre Schultern geladen. Sie ist aus Holz geschnitzt und trägt eine weiße Tunika - die riesige Konstruktion sieht aus wie ein prächtig mit Kerzen geschmückter Altar, bis zu 5 Tonnen wiegt so ein Thron. Die Männer der Bruderschaft laufen darunter, Mann neben Mann, dicht zusammengedrängt, sie können nichts sehen und werden dirigiert, im Wiegeschritt ziehen sie durch die Straßen - gefolgt von Hunderten Nazarenos, den Büßern in ihren langen weißen Gewändern und den spitzen Kapuzen, die das Gesicht verdecken, für die Augen bleibt nur ein kleiner Spalt, sie tragen Kerzen.

    Viele Touristen fühlen sich an den Ku-Klux-Klan erinnert. Im Mittelalter aber waren die Kapuzen dafür gedacht, vor Ansteckung wie der Pest zu schützen, dann später wollten die Büßer unerkannt bleiben. Einige von ihnen laufen barfuß, wie die Träger, die sich mit Gebeten an Jesus von Nazareth wenden, weil sie gesündigt haben, oder weil sie ihn nach Schicksalsschlägen, wie unheilbare Krankheiten oder anderen persönlichen Nöten um Hilfe bitten.

    Über 8 Stunden zieht die Prozession durch die Straßen und alle wollen Jesus von Nazareth aus der Nähe sehen. Die Trommeln kündigen ihn an. Die Menge stockt - an der Straßenkreuzung ist kein Durchkommen.
    Ich treffe Maria del Mar und ihren Mann Diego. "Sing ein Lied von der Semana Santa", sagen sie zu ihrem Sohn Hugo.

    Hugo ist drei Jahre alt. Die Eltern geben die Tradition an die Kinder weiter. Die junge Familie kommt aus einem kleinen Bergdorf, eine Stunde entfernt, die Drei haben sich hier mit ihren Freunden verabredet, diese Prozession wollen sie nicht verpassen.

    Einen guten Platz zu finden, ist gar nicht so einfach. Der Figur von Jesus ist 1,77 Meter groß, wir können sie sehen. Es scheint, als würde er an den Menschen vorbei schweben. Plötzlich wird es ganz still. Neben mir ein älteres Ehepaar im Sonntagsstaat - die beiden haben Tränen in den Augen.

    "Jesus der Gefangene hat schon so viele Wunder vollbracht. Er hat den Menschen hier geholfen. Er wird von Hunderten Menschen getragen und Tausende folgen ihm."

    Ich frage Maria del Mar, aus Alhurin el Grande, warum diese Prozession in Malaga so beliebt ist.

    "Weil Jesus aussieht, als würde er leibhaftig vorbeigehen. Während man ihn betrachtet, geht der Wind durch seine Tunika und es sieht so aus, als würde er sich bewegen."

    Maria del Mar erzählt mir, wie "ihr" Dorf die heilige Woche feiert - und lädt mich ein, am Karfreitag vorbeizukommen. Denn das ist der wichtigste Tag der Osterwoche.

    Ich verabschiede mich, denn ich will in dieser Nacht noch weiter nach Sevilla, die größte Stadt im Herzen Andalusiens - dort sollen die Prozessionen noch prächtiger und andächtiger sein. Direkt zur Jiralda soll ich gehen, die spätgotische Kathedrale ist das Wahrzeichen der Stadt.

    Vor dem imposanten Bau stehen schon die Musikgruppen. Sie warten darauf, dass sie endlich spielen können. Neun verschiedene Prozessionen gehen allein am Mittwoch durch die Stadt. Sechzig verschiedene Bruderschaften gibt es hier.

    Zu wem gehören sie, frage ich einen Musiker.

    "Ich gehöre zur Bruderschaft des heiligen Bernado und der Jungfrau des Refugiums, (San Bernado y Virjen de Refugio). Ich mache seit 40 Jahren mit. Die Menschen sind sehr berührt. Sie verbinden tiefe Gefühle mit der heiligen Woche. Wir freuen uns jedes Jahr darauf und alle sind auf der Straße."

    Es ist die drittgrößte Bruderschaft von Sevilla, mit den meisten Nazarenos, an diesem Mittwoch. 2.000 sind es. Sie tragen schwarze Kapuzen und Kerzen. Mit diesen Kerzen gehen sie zu den Kindern, die am Straßenstand stehen, sie träufeln Wachs in ihre Hände. Ich möchte wissen, was das bedeutet und frage einen Vater.

    "Es ist schon immer Brauch gewesen, dass die Kinder die Nazarenos nach Süßigkeiten fragen. Sie haben kleine Plastikgefäße bei sich und bekommen Wachs hinein geträufelt. Daraus formen sie dann Wachsbälle. Die Kinder vergleichen die Wachsbälle, wer den größten hat. Ich bin 55 und auch ich habe das schon so gemacht. "

    Für die Semana Santa braucht man Geduld. Zuerst wird auch hier Jesus von Nazareth aus der Kathedrale getragen. Gefolgt von den Nazarenos in ihren lila Trauergewändern - Stunden später erscheint die Jungfrau Maria gefolgt von unserem Musiker. Eine Bühne, die einzigartig ist. Die Jungfrau, eine pompöse Figur im Barockstil unter einem Baldachin, von einem Kerzenmeer umgeben.

    Von der größten Stadt Andalusiens fahre ich ins beschauliche Alhaurin el Grande. Der Ort hat sich herausgeputzt. In dem kleinen Bergdorf scheint jeder jeden zu kennen. Vor der Kirche treffe ich Maria del Mar, ihren Mann Diego und deren Freunde, die mich in Malaga zu sich eingeladen haben. Wir begrüßen uns herzlich und sie bitten mich spontan ins Haus ihrer Oma.

    Maria Carmen öffnet uns die Tür. Sie ist erfreut ihre Nichten und Neffen mit deren Freunden zu sehen - Maria Carmen ist eine ältere Dame in den 80igern, sie weist uns den Weg zum Balkon.

    Unten ertönt schon die Musik, die den Anfang der Prozession ankündigt. Ich will wissen, wie lange Maria Carmen schon hier oben über der Kirche wohnt, dort wo jedes Jahr die Prozession der Morados am Karfreitag beginnt.

    "Ich? Ich lebe seit 40 Jahren hier, seit 45 Jahren. Als ich geheiratet habe, war ich 22 Jahre alt und bin hierher gezogen. In diesem Haus habe ich auch meine Hochzeitsnacht verbracht.
    Das hier ist die Kirche San Sebastian. Hier sehen wir gleich die Prozession der Morados, wir sehen Jesus von Nazaret, der ans Kreuz geschlagen wird. Es ist der Tag der Kreuzigung."

    Die Glockenschläge kündigen es an. Es ist das Zeichen für die Träger, die den Thron mit der Figur von Jesus von Nazaret hochheben.

    Als die Musik ertönt, verstummt die Menge, denn unten aus der Kirche kommt nicht nur ein prächtiger Thron. Dahinter läuft ein leibhaftiger Jesus, von einem Alhauriner gespielt, er hat die Hände hinter dem Körper an einen Balken gefesselt, mit Peitschenhieben wird er von römischen Soldaten durch die Straßen getrieben. Alle, die am Tag der Kreuzigung mitspielen, kommen aus dem Ort.

    "Ja, wir haben einen lebendigen Jesus, er gehört der Bruderschaft an, wir sehen seinen Leidensweg, er wird mit dem Kreuz auf dem Rücken durchs Dorf getrieben, bis er dann gekreuzigt wird. Ja sagt sie und lacht, so ist das damals wirklich gewesen. Heute kommt uns das brutal vor."

    Und heute ist noch etwas anders. Während es in den großen Städten den Männern vorbehalten ist, tragen in Alhaurin el Grande auch die Frauen einen Thron.

    "Jetzt kommen die Mädchen. Sie tragen den Thron mit der Jungfrau Maria, wenn die Glocke drei Mal ertönt, heben sie den Thron hoch und gehen dann gemeinsam durch den ganzen Ort."

    Zwei Stunden später treffen Jesus und Maria in einer engen Straße aufeinander. Der Thron mit Jesus von Nazareth kommt von links - Maria von rechts, sie müssen aneinander vorbei, einer der Höhepunkte der Prozession steht bevor.

    "Ihr schafft das", ruft eine Frau, das Publikum feuert die Träger an und applaudiert. Vor, zurück, ihr schafft das. Es ist Maßarbeit.

    Die Prozession zieht weiter zum Kloster, es liegt auf dem Berg, es ist Nacht geworden. Wie traurig die Musik ist, sagt eine Mutter. Mama, wer ist das, fragt ihre Tochter. Maria Magdalena, eine Frau, die Jesus geholfen hat, sie hat ihm das Gesicht gewaschen und ihm Wasser gegeben. Martha ist 4. So erfahren schon die Kinder, was die Karwoche für das Christentum bedeutet. In Alhaurin el Grande wird die Leidensgeschichte Jesu nachgespielt, so wie es die katholische Kirche schon vor Hunderten Jahren gemacht hat, als die wenigsten die Bibel lesen konnten.

    Die Prozession neigt sich dem Ende zu. Die Stimmen der Menschen am Wegesrand verstummen, der Trauerzug schlängelt sich durch die engen Gassen auf das Kloster zu. Die Straßenlaternen werden abgeschaltet. Es ist finster. Im Schein der Kerzen bewegt sich der Thron langsam im Wiegeschritt den Berg hinauf, zum Kreuz, an das Jesus in der Karfreitag-Nacht geschlagen wird.