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Klangsammler

Er ist ein Quereinsteiger: Der Schweizer Komponist und Regisseur Ruedi Häusermann hat erst einmal Volkswirtschaft studiert, bevor er mit 25 Jahren zur Musik wechselte. Optisiertes Konzert nennt er seine Musiktheaterform. Was genau damit gemeint ist, kann man anhand seiner neusten Arbeit an der Stuttgarter Staatsoper sehen.

Von Jörn Florian Fuchs |
    Überall wütet derzeit die Finanzkrise und sorgt für klamme Kassen. Überall – außer offenbar in Stuttgart, wo vor ein paar Tagen die vermutlich aufwändigste Inszenierung der Saison, Stefan Herheims "Rosenkavalier", herauskam. Jetzt legte die Staatsoper noch mal nach und scheute für Ruedi Häusermanns neuesten Streich namens "Randolph's Erben" weder Kosten noch Mühen.

    Auf der Bühne des Kammertheaters ist ein sehr realistisch nachgebautes Musikgeschäft zu sehen, mit großem, stilvoll möbliertem Verkaufsraum, geräumiger Werkstatt, Probierzimmer und einem Büro, in das sich der Seniorchef gern mal auf eine Zigarre zurückzieht. Wenn allerdings ein Kunde hereinkommt und sein durch einen Unfall vollständig geplättetes Blasinstrument vorbeibringt, wenn fünf mäßig begabte Nachwuchsklarinettisten wegen Nachhilfeunterricht vorbeischauen oder wenn ein Mundstückvertreter seine patentierten Utensilien feilbietet, dann ist Seniorchef Randolph in seinem Element. Als gütiger Patriarch löst er jedes Problem, wobei ein Teil der Lösung bisweilen darin besteht, dass Randolph senior sich einfach rasch wieder zurückzieht. Das übrige Personal bastelt dann weiter an reparaturbedürftigen Instrumenten, berät neue Kunden oder lernt die junge attraktive Praktikantin an. Der Patriarch nennt sie übrigens liebevoll "Lehrtochter".

    Die größeren und kleineren Malaisen, sei es das Herunterfallen eines Cellos vom quietschenden Lastenaufzug oder die Beratung eines beratungsresistenten Kunden, der eine Trompete sucht, alles regelt sich letztlich doch irgendwie. Und in diesem irgendwie, da liegt der Zauber dieses neunzigminütigen Abends.

    Ruedi Häusermann war schon immer ein sensibel-kluger Klangerforscher und -sammler, bei "Randolph's Erben" ergibt sich aus all dem Sammelsurium etwas zutiefst liebenswürdig-verschrobenes. Ganz nebenbei stellt Häusermann musiktheoretische und –praktische Fragen und zeigt deren prinzipielle Unbeantwortbarkeit auf.

    Wo beginnt ein Musikstück, was ist ein Formverlauf, welche kompositorischen Kriterien muss ein Werk erfüllen? Die Angestellten der Firma Randolph erzeugen Klänge, indem sie Instrumente reparieren, indem sie sie stimmen, aber auch indem sie die Toilettenspülung benutzen oder technische Geräte bedienen. Diese manchmal realen, manchmal verfremdeten Alltagsgeräusche korrespondieren mit den von Häusermann auskomponierten Teilen, eine oft recht eng geführte, feinsinnig-reduzierte Musik. Man gewinnt an einigen Stellen den Eindruck, dass dieses Hörtheater der Klänge eine Antwort auf Helmut Lachenmanns Ästhetik ist, anders formuliert, manches tönt wie ein harmoniesüchtiger Lachenmann – auf LSD.

    Auch jenseits der Musikalienhandlung gibt es übrigens einiges an Handlung. Es fahren Autos und sogar eine Straßenbahn vorbei und machen entsprechend Krach. Es beginnt zu regnen, ein Unwetter setzt ein, in dem sich ein Musiker verirrt.

    Zugegeben: Einiges ist an diesem Abend recht blöd, anderes macht oft überraschend Sinn, aber Häusermanns Liebe zu den musikalischen wie den auf der Bühne agierenden Figuren transformiert den Blödsinn in ein wundersam unprätentiöses Musiktheater, frei von jeglichem postmodernen Zynismus.

    Das Stuttgarter Publikum bedankte sich mit einer Orgie an Ovationen. Play it again, Ruedi!