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Klasse auf Fahrt

Kisten stapeln, klettern und gemeinsam kochen steht bei der Klassenfahrt nach Hohegeiß auf dem Programm. In dem kleinen Dorf im Harz bietet die "Gesellschaft zur Förderung der Erlebnispädagogik" Schülern und Lehrern ein Ausflugsprogramm, das die Gemeinschaft stärken soll - und ganz ohne Computer, Internet und Playstation auskommt.

Von Andrea Lueg |
    Isabella hat's geschafft: Fast bis ganz oben ist sie an Seilen zwischen zwei hohen Bäumen hochgeklettert, ganz aus eigener Kraft. Und jetzt ist sie nur noch:

    "Erschöpft, fertig mit der Welt…"

    …aber auch ganz schön stolz und ein bisschen glücklich. Eine halbe Stunde hat sie in den Seilen gehangen, gesichert von drei anderen Schülern aus ihrer Stufe.

    Denen, sagt sie, hat sie vertraut.

    "Ja, die wären ja schuld gewesen, wenn ich da runter gefallen wäre."

    An einer schwierigen Stelle wollte sie fast aufgeben, hat aber durchgehalten. Durchhalten, seine Grenzen austesten, seinem Team vertrauen, im Team arbeiten - all das gehört zum Konzept der Erlebnispädagogik, nach dem die "Gesellschaft zur Förderung der Erlebnispädagogik" im Dörfchen Hohegeiß mitten im ehemaligen Zonenrandgebiet des Harz' einen ihrer Standorte betreibt. Hier können Schulklassen sich aus einem Angebot ein passendes Programm zusammenstellen lassen, das in der Regel fünf Tage dauert, erklärt der Pädagoge Dirk Markert.

    "Wir haben ein eigenes Bergwerk, wo wir mit ihren Schülern reingehen können. Wir haben einen Kletterfelsen. Wir können eine Seilüberquerung… Das heißt, einen ehemaligen Steinbruch überqueren. Wir machen mit ihnen Wanderungen, gehen zum Beispiel nachts mit ihnen in den Wald, was jemand, der in der Stadt wohnt, noch nie erlebt hat."

    Erleben, das ist das Zauberwort bei diesem Konzept, das keineswegs eine neue Erfindung ist. Vor 20 Jahren wurde es entwickelt. Und auch das Ambiente erinnert eher an das Bild von der Klassenfahrt vor 20 Jahren. Ein Schullandheim, Etagenbetten im 6er-Zimmer, zweckmäßige Waschräume und Aufenthaltsräume ohne jeden Anflug von Luxus.

    "Es ist oft ein Eindruck, der sich widerspiegelt in den Gesichtern, wenn sie aussteigen: Uh, ist das jetzt Strafe? Oder Vergnügen? Aber meistens nach zwei Stunden hat sich das Ganze komplett gewandelt. Es ist so, dass wir bewusst Gegenakzente setzen. Die finden bei uns kein Internet, keinen Fernseher, keine Playstation, keinen Süßwarenautomaten. Sie müssen sich noch selber in den Ort bewegen, um sich zu versorgen. - Nicht dass wird die Sachen verdammen, aber der Schwerpunkt liegt bei uns woanders. "

    Das Programm ist vollgepackt von morgens acht manchmal bis Mitternacht. Dazu gehört aber zum Beispiel auch, dass die Schüler zwei Mahlzeiten pro Tag selber zubereiten - für manche eine echte Herausforderung. Drei Mädchen aus einer Hauptschule in Bremervörde finden es prima.

    "Man hat nicht immer so eine Gelegenheit zuhause, dass man Kochen kann."

    "In der Jugendherberge bekommt man vielleicht auch Sachen, die man nicht mag. Und hier hat man Auswahlmöglichkeiten."

    Und überhaupt:

    "Das ist perfekt hier. Schöner kann man es sich gar nicht vorstellen. Also am besten gefällt mir die Hauseinteilung, und dass das Wetter auch so mitspielt mit dem Schnee und auch Sonne."

    "Und das wir auch verschiedene Sachen machen, die man noch nicht gemacht hat. Wir wollen ja auch noch klettern und das finde ich cool."

    Schwärmen die Mädchen und schaufeln Kakaopulver in die heiße Milch. Es ist noch einmal Winter geworden in dieser letzten Märzwoche im Harz, aber das hält Emre, Pierre, Hannah und Anna nicht vom Kistenklettern draußen im eisigen Wind ab. Abgesichert von drei anderen Schülern, stapeln sie immer mehr Getränkekisten aufeinander und klettern darauf höher und höher.

    "Bitte einmal noch, ein letztes Mal noch!"

    "Ich habe zehn geschafft."

    "Sieben."

    "Ich war bei der Neunten - glaube ich."

    "Ich hab übelst gezittert. Meine Hand ist blau eingefroren."

    "So Adrenalinkick, so."

    Adrenalinkick - das ist die eine Sache; ein Erfolgserlebnis haben, stolz sein. Aber die Klassenfahrt ist auch Gelegenheit, sich mal von einer ganz anderen Seite kennenzulernen.

    "Wir verstehen uns als außerschulischen Lernort. Das heißt, wir arbeiten an sozialen Themen, die der Lehrer oder die Lehrerin im Alltag innerhalb der 45-Minuten-Frist nicht bearbeiten kann. Und deswegen ist unser ganzes Handeln auf Gruppeninteraktion ausgerichtet. Wir wollen nicht den Einzelnen fördern, sondern die Gruppe als Ganzes."

    Der Klassenclown kann bei den Erlebnistagen zum Beispiel mal zeigen, dass er in der Küche ein echtes As ist, weil die Eltern eine Pizzeria betreiben. Wer im Klassenzimmer kaum auffällt, kann beim Klettern sein Verantwortungsbewusstsein zeigen, weil er die anderen gut absichert und die ihm vertrauen. Nicht nur die Schüler lernen sich anders kennen, auch die Lehrer gewinnen neue Einblicke, erzählt Jutta Launstein, die Lehrerin von Isabella, die hoch in die Bäume geklettert ist. Auch über Isabella hat sie etwas Neues gelernt.

    "Das hätte ich ihr wirklich nie zugetraut. Ich habe sie eher zurückhaltend und ängstlich erlebt in der Schule, und ich war wirklich fasziniert, was sie plötzlich auch für ein Selbstbewusstsein hatte, um da hochzukommen, und auch einen Biss entwickelt hat und Ehrgeiz, ganz toll."

    Die Erlebnisse aus dem Harz will Jutta Launstein mitnehmen in den Schulalltag.

    "Ich glaube, das hilft einfach, bestimmte Dinge zu relativieren - sie auch vielleicht von der Seite auch noch einmal wieder anzusprechen und zu sagen, Mensch, da haste dich doch auch durchgebissen, jetzt beiß dich mal durch die Mathearbeit!"

    155 Euro kosten fünf solche Erlebnistage, dafür betreuen zwei Pädagogen gemeinsam mit den Lehrern rund um die Uhr die Klasse, Kletterangebote und Nachtwanderung inklusive. Die Belegungszahlen steigen seit Jahren, aber die Klassen kommen für immer weniger Tage - und Lehrer und Eltern wollen immer häufiger über die Preise verhandeln.

    Das Konzept aber scheint zu funktionieren. Bei all den neuen Aktivitäten gemeinsam mit den Schulkameraden sind Fernseher und Internet offenbar vergessen. Und selbst wenn man es ganz nüchtern betrachtet, wie Isabella, bleibt als Fazit für die Klassenfahrt:

    "Halt besser als Schule."