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Klassenraum der Zukunft
Stillsitzen war gestern

Tische und Stühle auf Rollen: Im "Active Learning Center“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg erproben Studierende neue Lernkonzepte mit mehr körperlicher Aktivität. Denn Bewegung in den Unterricht zu integrieren, dient der Gesundheit - und macht auch um des Lernens Willen Sinn.

Von Thomas Wagner | 24.07.2019
Mehrere Studierende sitzen auf beweglichen Stühlen im Active Learning Center der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Viel Bewegung soll ein wesentlicher Bestandteil im zukünftigen Schuluntericht sein. (Deutschlandradio / Thomas Wagner)
"Ich fühle mich hier wie in so einer Art Kapsel!"
"Das ist halt cool. Man kann überall hin rollen.
"Vor allem die Möglichkeit zu kleinen Bewegungen, Du kannst den Tisch bewegen..
"Und Du kannst auch ein bisschen spielen, bist nicht so gefestigt an Deinem Stuhl."
Angehende Lehrerinnen und Lehrer probieren den Klassenraum der Zukunft aus. Und der befindet sich in der ersten Etage der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Innendrin ist nichts mehr so, wie man es von herkömmlichen Klassenzimmern kennt: Statt, wie man das eigentlich von Schülern erwartet, ruhig auf dem Stuhl zu sitzen und dem Unterricht zu folgen, rollen die Studierenden auf Stühlen mit kleinen Rädern quer durch den Raum, mal von einer Wand zur anderen, mal zu den Tischen. Ein Hauch von Zappelphilipp liegt in der Luft.
"Da hat man denn die Gelegenheit, die Tische einfach von der Mitte an die Seite zu schieben."
Auch die Tische rollen auf und ab; Stühle und Tisch werden ständig größer und kleiner: Die rund 15 Studierenden probieren die Höhenverstellbarkeit aus. Unruhe im Klassen- und Seminarraum statt Stille und Konzentration:"Active Learning Center" nennt Roland Rupp, Dozent an der PH Heidelberg, den neuen, zu allerlei Bewegung animierenden Klassenraum der Zukunft, den er selbst mit geplant hat:
"Zunächst haben wir da einen gesundheitswissenschaftlichen Zugang. Es gibt da gerade in der letzten Zeit mehrere Studien, die zeigen, dass Sitzen ein eigenständiges Gesundheitsrisiko darstellen. Und uns geht es primär darum, dass lange Sitzphasen primär unterbrochen werden und dies ein eigener Gesundheitswert darstellt."
"Ich find das so krass: Wenn jemand aufsteht, hat man auch den Drang, aufzustehen"
Bewegung fördert den Lernprozess
Dem stimmen auch die Studierenden zu, die an diesem Vormittag das Ganze ausprobieren. Doch Bewegungen in den Unterricht integrieren – das macht auch um des Lernens Willen Sinn, betont Chiara Dold, die als Dozentin ebenfalls im "Active Learning Center" mitmacht:
"Also ganz einfach kann man einfach damit anfangen, dass die Gehirndurchblutung im Stehen deutlich besser ist als im Sitzen. Und dann gibt es unterschiedliche Zugänge. So gibt es Untersuchungen, die sagen, dass ich Sprachen leichter lerne, wenn ich neues Vokabular mit neuen Gesten oder ähnlichem versehe. Also es sind einfach mehr Gehirnareale aktiv, in dem Moment, wo ich nicht nur den Zugang habe akustisch oder visuell, sondern mich auch noch bewege."

"Der Stuhl - da kann ich mich drehen und überall hin rollen."
"Nicht mehr so dieses Klassische: Man muss sich jetzt hinsetzen. Da ist ein Stuhl, ein Tisch, alles ist vorgefertigt. Man ist jetzt viel mobiler."
Katharina Grün und Anna-Lena Dörfler, zwei PH-Studentinnen, entdecken im "Active Learning Center", wie das ständige Rollen von Tischen und Stühlen quer durch den Raum ganz einfach Spaß macht.
Der Unterricht soll nicht gestört werden
Wichtig erscheint es aus Sicht von Projektleiter Roland Rupp, dass diese Bewegungselemente in das reguläre Unterrichtsgeschehen integriert werden und nicht beispielsweise in Pausen angeboten werden.
"Wir sprechen von Mikrobewegungen, die es einzugliedern gilt in Lehrveranstaltungen. Das heißt, es geht um einfache Alltagsaktivitäten wie immer wieder mal das Sitzen zu unterbrechen. Die besondere Idee ist, dass wir keine Lehrveranstaltungszeit für die Bewegung opfern wollen. Und unsere Idee ist tatsächlich, den Lernprozess mit Bewegung zu synchronisieren. Das bedeutet, dass das beides gleichzeitig passiert."

Welche Bewegungsmöglichkeiten in den Unterricht integriert werden, ohne eben den Unterricht zu stören, ist Teil des Projektes "Kopf stehen!", in das auch das "Active Learning Center" integriert ist. Keine Angst: Kopfstand machen müssen Schüler und Studierende dabei nicht gleich. Aber, Chiara Dold:
"Unser Gedanke, Kopf-Stehen – es ist schlau, sich in der Lehre auch mal zu bewegen und sich bewusst zu sein, dass man nicht nur aus Kopf, sondern auch aus Körper besteht. Und zum anderen ist uns bewusst, dass wir die gängige Norm in Bildungskontexten mit diesem Projekt auf den Kopf stellen. Es ist ein absoluter Normbruch."

Anna-Lena Dörfler: "Das Kippeln eigentlich. Das ist ganz neuartig. Ich finde es ganz angenehm, so hin- und herzutollen und die Füße zu bewegen. Das mit den Füßen baumeln lassen finde ich auch sehr angenehm."

Katharina Grün: "Nach 20 Minuten haben die Kinder den Drang, aufzustehen und können sich nicht mehr konzentrieren. Bei solchem Mobiliar haben sie immer wieder die Möglichkeit, wenn sie den Drang haben, aufzustehen und stören niemanden dabei."
Kinder stehen in einem Klassenraum und heben ihre Arme, an den Wänden bunte Bilder.
Bewegungsübungen im Klassenraum (in einer Schule in Pforzheim): Wichtig: Nicht nur in die Pausen integrieren. (dpa/picture alliance/Uli Deck)
Der Weg in den Schulalltag wird dauern
Während die Studierenden die Möglichkeiten des "Active Learning Centers" austesten, wird auch klar: Bis so eine Ausstattung buchstäblich Schule macht in vielen Schul-Klassenräumen und Hochschul-Seminarräumen, wird es noch einige Zeit dauern – und das, obwohl sich derzeit Vertreter anderer Hochschulen buchstäblich die Klinke in die Hand geben, um mal im "Active Learning Center" in Heidelberg vorbeizuschauen. Dort erfahren sie auch, was noch so alles entwickelt wurde, um Bewegungsabläufe in den Unterricht zu integrieren. Chiara Dold:
"Wir haben zum Beispiel auch noch draußen eine Seminarwiese für naturnahes Lernen. Das heißt: Auch dort haben wir Sitz-Steh-Möglichkeiten. Aber schon alleine der Wechsel – wir gehen jetzt mal raus, wir gehen an die frische Luft, ist bewegungsanregend. Wir haben Tischkicker, die mal in der Pause einen ganz schönen Anreiz geben, mal aufzustehen und sich mal zu bewegen. Und so ist unser Gedanke, das wir möglichst viele Anreize während des Hochschulalltages platzieren."
Um eines zu erreichen: bessere Lernerfolge über bessere Bewegungsmöglichkeiten. Und das Konzept greife, heißt es in Heidelberg, nicht nur in Schulen und Hochschulen, sondern beispielsweise auch in der Aus- und Fortbildung von Unternehmen.