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Klassenunruhen in Großbritannien

Jedes fünfte Kind in Europa ist von Armut betroffen. In Deutschland leben rund 12 Prozent der Kinder in armen Familien. Noch schlechter sieht es in Großbritannien aus. Zwar ist die Kinderarmut leicht zurückgegangen, aber noch weit vom Ziel, sie bis 2010 zu halbieren.

Von Ruth Rach |
    "Armut darf kein lebenslanges Urteil bedeuten.
    Wir geloben, die Kinderarmut innerhalb einer Generation ganz abzuschaffen."

    Als New Labour vor 12 Jahren an die Macht kam, meinten viele, endlich sei eine Ära der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit angebrochen. Aber heute klingt das Versprechen von Ex-Premierminister Tony Blair nur noch müde und ausgeleiert – allein in den Londoner Innenbezirken leben über die Hälfte aller Kinder in Armut.

    "Wenn ich an die Tür des Premierministers klopfen könnte, würde ich ihn bitten, die Leute zu besuchen, die in winzigen Wohnungen dicht auf dicht wohnen, dann würde er endlich sehen, wie schwer unser Leben ist."
    "Meine Mutter nahm Drogen, und hat immer nur geschlafen, manchmal sah sie richtig krank aus. Aber so ist nun mal das Leben."

    Kinderstimmen, von einer britischen Hilfsorganisation gesammelt und in der BBC ausgestrahlt. 1997 lebten in Großbritannien 3,4 Millionen Kinder unter der Armutsgrenze. Heute sind es 2,9 Millionen. Niemand rechnet damit, dass die Labour-Regierung ihr Zwischenziel erreicht, die Kinderarmut bis zum Jahr 2010 zu halbieren. Allerdings billigt die Journalistin Polly Toynbee der Regierung mildernde Umstände bei.

    "In den Thatcher-Jahren war die Zahl der armen Kinder sprunghaft angestiegen, von 14 auf 33 Prozent. Labour hat es immerhin geschafft, einen Teil der Leute aus der Armut herauszuholen","

    sagt Polly Toynbee. Gleichzeitig habe es Labour aber versäumt, je das Wort "Gleichheit" in den Mund zu nehmen. Gerade während der Labour-Ära habe sich der Reichtum einiger Menschen unglaublich vermehrt.

    Kritiker sagen, New Labour sei – in dem Bemühen, sich von Old Labour abzusetzen und die Finanzwelt zu umwerben - maßgeblich für das Phänomen der Superreichen verantwortlich: dank einer Fiskalpolitik, die Großverdiener begünstigt und zu schockierenden Anomalien geführt habe: So seien zum Beispiel millionenschwere Hedgefondsmanager geringer besteuert worden als ihre Putzhilfen. Aber New Labour verteidigte sich: Armen Menschen sei nicht damit geholfen, indem man die Wohlhabenden schröpfe, dann würden die Reichen höchstens aus dem Land verschwinden, und dann sei noch weniger im Haushaltstopf.

    ""Mir ist nicht daran gelegen, dass David Beckham weniger Geld heimbringt – so ein berühmter Spruch von Tony Blair. Er wolle vielmehr dafür sorgen, dass bedürftige Leute ein menschenwürdiges Einkommen hätten."
    Aber selbst dieses Ziel hat Labour nicht erreicht. Angesichts der wachsenden öffentlichen Empörung über die Exzesse in der Finanzwelt setzte Premierminister Gordon Brown zwar die Steuern für Besserverdienende vor kurzem leicht herauf, auch der Mindestlohn wird im Herbst um ein paar Pennys steigen, aber die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich – die tiefste seit fast 50 Jahren – wird von Labour ignoriert. Selbst Haushalte, in denen ein Mitglied arbeitet, kommen aus der Armutsfalle nicht mehr heraus. Auch Rentner haben es schwer. Zweieinhalb Millionen leben unter dem Existenzminimum. Nur in Lettland, Spanien und Zypern ist die Situation noch schlimmer.

    ""Eine Gesellschaft, in der das Einkommensgefälle so groß ist, bezahlt einen hohen Preis","

    sagt Richard Wilkinson von der Universität Nottingham. Seine vergleichende Studie über die Folgen sozialer Ungleichheit hat in Großbritannien für Aufsehen gesorgt. Gewalt, Mobbing, Kriminalität, Krankheiten - alle diese Probleme treten in einer ungleichen Gesellschaft vier-, ja fünfmal häufiger auf.

    Um die soziale Mobilität ist es im heutigen Großbritannien besonders schlecht bestellt. Selbst in den 50er-Jahren waren – so Kritiker - die Aufstiegschancen besser. Die Hilfsprogramme der Labour Regierung hätten eher der Mittelschicht geholfen, nicht aber den Allerärmsten: sie seien längst abgehängt. Und steckten in einer Falle, aus der sie einfach nicht herauskämen: arm, unqualifiziert, seit Generationen arbeitslos...
    Bessere Kinderbetreuung, bessere Schulen, bessere Sozialdienste, möglichst frühe Intervention – mit diesen Parolen will New Labour das Problem angehen. Die Konservativen hingegen sagen: die Gesellschaft sei zerbrochen. Man müsse sich auf alte Werte zurückbesinnen.
    ""Als wir zuletzt am Ruder waren, traten für wirtschaftliche Erneuerung ein, jetzt treten wir für soziale Erneuerung ein","

    so der konservative Parteichef David Cameron. Damals setzten wir uns für das Individuum ein, jetzt setzen wir uns für die Familie ein, die Nachbarschaft, die Gesellschaft.

    Neue Töne also, mit denen sich die Konservativen dezidiert von Margaret Thatcher abgrenzen. Sie hatte ja erklärt, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Was die Tories allerdings konkret vorhaben, um die sozialen Wunden zu heilen, ist noch nicht klar.