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Klassenzimmer für obdachlose Kinder

Mehr als 1,6 Millionen Kinder in den USA sind obdachlos. Das hat eine Studie des US-Zentrums für Obdachlosigkeit unter Familien ergeben. Obwohl ein Gesetz ihnen eine Ausbildung garantiert, es staatliche und private Bildungsprogramme für obdachlose Kinder gibt, macht nur ein Viertel von ihnen einen Schulabschluss.

Von Kerstin Zilm |
    Für obdachlose Kinder in den USA  ist das Klassenzimmer zum Teil ein konstanter Ort.
    Für obdachlose Kinder in den USA ist das Klassenzimmer zum Teil ein konstanter Ort. (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    Los Angeles ist berühmt für Hollywoodglamour. Weniger bekannt ist, dass dort rund 58.000 Menschen auf der Straße leben. Dazu kommen Zigtausende, die in Notunterkünften, Autos, auf Sofas bei Freunden und Familie oder zusammengepfercht in Motels übernachten. Unter diesen Umständen leben in Los Angeles laut US-Zentrum für Obdachlosigkeit über 50.000 Kinder. Ein US-weites Gesetz garantiert ihnen seit 1987 regelmäßigen Unterricht. Für Schulen und Eltern ein schwer einzuhaltendes Versprechen.

    Gabriella erzählt ihrer Betreuerin im St. Josephs Hilfszentrum für Obdachlose überglücklich, dass sie ihren drei Töchtern einen Schulplatz gesichert hat. Seit sie im Januar ihren Mann wegen Missbrauchs verlassen hat, zog sie alle 30 Tage um - länger nahm sie keine Notunterkunft auf. Die Kinder mussten mehrmals die Schule wechseln.

    "Psychisch ist es schwer. Sie sind traurig. Wenn sie Freunde gefunden haben, müssen sie die zurücklassen und an einer anderen Schule von vorne anfangen. Es ist frustrierend und traurig und sie sind erschöpft."

    Diane ist einen Schritt weiter: Sie hat über das Zentrum vor zwei Wochen eine Wohnung gefunden - für sich, ihre zwei schulpflichtigen Töchter und den vier Jahre alten Sohn.

    "Die Kids sind super-glücklich. Wir können endlich durchatmen."

    Diane musste wegen einer Krankheit aufhören zu arbeiten. 600 Dollar Sozialhilfe reichten nicht für Essen und Miete. Bis das Ersparte ausging, lebte sie mit den Kindern in Motels. Danach zogen sie bei Verwandten von Sofa zu Sofa, schliefen sogar im Auto und schließlich bei der Mutter in einer Wohnzimmerecke. Hausaufgaben machten die Kinder in der Bibliothek. Die neun Jahre alte Tochter wollte nicht mehr zur Schule gehen. Diane versuchte, ihre Situation zu verheimlichen, auch aus Angst, ihre Kinder zu verlieren.

    "Dann bekam ich einen Brief von der Schule, dass sie zu oft zu spät kam. Wir waren manchmal einfach super-weit weg von der Schule und sie kam zwei, drei Mal pro Woche zu spät."

    Diane legte ihre Karten auf den Tisch. Die Schule leitete sofort Schritte ein, um die Familie zu unterstützen: kostenloses Schulessen, Hefte, Bücher und eine Liste von Hilfsorganisationen. Dazu ist sie gesetzlich verpflichtet. Das Klassenzimmer ist für obdachlose Kinder oft der einzige Zufluchtsort, erklärt Melissa Schoonmaker, Obdachlosenreferentin des Bildungsamtes von Los Angeles.

    "Wir konzentrieren uns ganz auf die Ausbildung der Kinder, sorgen dafür, dass sie einen sicheren, stabilen Ort haben, an dem sie jeden Tag Frühstück und Mittagessen bekommen und sich keine Sorgen machen müssen."

    Das allein reicht nicht für eine gute Ausbildung. Kinder ohne festen Wohnsitz kommen oft müde, hungrig, unkonzentriert und aufgewühlt zur Schule.

    "Nur 25 Prozent der obdachlosen Kinder machen einen Schulabschluss. Eine traurige Zahl! Das muss sich ändern. Mehr Kinder müssen zum College gehen. Es ist möglich und Schulen müssen ihnen das vermitteln."

    Gabriella denkt nicht so weit. Sie braucht einen festen Wohnsitz damit ihre Kinder nicht wieder die Schule wechseln müssen. Spricht sie über deren Schulnoten, steigen ihr Tränen in die Augen.

    "Sie werden schlechter, besonders bei der Ältesten, der Elfjährigen. Sie passt nicht auf, kann sich nicht konzentrieren."

    Diane versucht, zu trösten: Dank der Hilfe des Zentrums war ihre Tochter im Sommercamp.

    "Einen Monat vorher hab ich nichts anderes mehr gehört als: Mami, ich geh ins Camp. Ich freu mich sehr für sie, aber mein oberstes Ziel ist, einen Rhythmus zu entwickeln, in unserer neuen Normalität anzukommen."

    In den USA gibt es zahlreiche private und kirchliche Organisationen, die bei der Ausbildung obdachloser Kinder helfen, zum Beispiel Klassenzimmer auf Rädern sowie Nachhilfe-, Kunst- und Wissenschaftsprogramme. Doch deren Finanzierung ist immer unsicher und Erfahrung zeigt: ein Gesetz allein garantiert weder regelmäßigen Unterricht noch einen Schulabschluss.