Der nobel renovierte Hackesche Markt in Berlin-Mitte, wo sich die teuren Szenegeschäfte drängen – seit einigen Jahren hat hier auch der traditionsreiche Aufbau-Verlag sein neues, repräsentatives Domizil bezogen, dessen stattliche, im neobarocken Stil wiederhergestellte Architektur schon auf den ersten Blick den gediegenen Anspruch und eine gewisse Zeitlosigkeit demonstriert. Klassiker nehmen im Verlagsprogramm seit jeher einen breiten Raum ein. Elitär und bildungsbürgerlich war und ist das aber nicht gemeint, sagt Magdalena Frank, die Lektorin bei Aufbau für den Bereich der klassischen Literatur. Die Ausgaben, wie etwa die ganz aktuell komplettierte, zehnbändige Berliner Schiller-Edition, die noch zu DDR-Zeiten begonnen worden war, sind immer noch erschwinglich und handlich, dabei sorgfältig ausgestattet, typische Klassiker für jedermann, wenn auch mit gehobenem Anspruch. Hinzu kommen unzählige gebundene und Taschenbuchausgaben Ausgaben von Einzelwerken von Turgenjew bis Cervantes.
Dennoch ist ein schwieriges Geschäft, denn seit vor allem Bibliotheken ihre Budgets kürzen mussten, kauft allenfalls eine verschwindende Minderheit von Liebhabern heute überhaupt noch das klassische Erbe in Reinform. Das Ende der DDR-Zeit mit ihren staatlich subventionierten Großauflagen, die Magdalena Frank seit den sechziger Jahren an verschiedenen Positionen im Verlag erlebt hat, macht sich auch beim Umgang mit Klassikern bemerkbar.
"Das heißt, wir haben vielleicht in der DDR-Zeit insgesamt zweihundert Ausgaben gemacht, und jetzt sind wir schon froh, dass wir drei Ausgaben im Verlag derzeit befördern, das ist die Fontane-Ausgabe im klassischen Bereich und, sagen wir mal, die moderne Klassik können wir mit einbeziehen, Anna Seghers und Arnold Zweig. Also, nach wie vor: Klassik ganz wichtig, aber natürlich jetzt: Wie, in welcher Form, für wen? "
In der DDR war das literarische Erbe Goethes und Schillers ungleich mehr verbreitet, als es heute im wiedervereinigten Deutschland der Fall zu sein scheint. Gründe dafür gab es viele. Die subventionierten Bücher waren billig; nicht selten verteilte der Staat die Auflagen, die in die Zehntausende gingen, kostenlos an Betriebe, Institutionen und Schulen; und klassische Reiseberichte aus jenen Ländern, in die man nicht reisen durfte, waren sehr begehrt. DDR-Schülern war das klassische Erbe ganz allgemein geläufiger, denn aus Sicht der Parteioberen half es dabei, die DDR in den Kontext deutscher Geistesgeschichte einzugliedern - während es in der alten Bundesrepublik zwischenzeitlich innerhalb der 68er Generation mitunter fast verpönt war, Goethe zu mögen, und manchen die Klassik nur noch als reaktionärer Ballast galt. In puncto Interesse für Klassik jedenfalls macht Magdalena Frank sich bei jungen Leuten heute keine Illusionen:
"Manchmal kommen ja Praktikanten ins Haus, junge Leute, und ganz selten, dass sich da einer mal für Klassik interessiert, deshalb hab ich auch fast nie Praktikanten. Und wenn ich dann mal frage, so bei Fontane und so - also die eine sagte immer gleich: "Also wenn ich 'Effi’ schon höre, also, da schalte ich schon ab!" Und ich glaube auch, unsere Vorstellungen manchmal, dass wir einen Titel machen und denken, vielleicht doch ein bisschen höher in der Auflage gehen für Lehrer: Es ist nicht das Problem, ob Klassik reaktionär ist oder ob der Sozialismus da irgendwie das nun vereinnahmt hat, sondern es ist ja immer die Frage: Wie erreichen wir Leute mit diesem Autor, von dem wir der Meinung sind, er ist nicht nur so gemütlich und behaglich und humoristisch, sondern er berührt doch existentielle Dinge? Ich mein, ich bin nicht der Meinung, der Jugendliche braucht jetzt Häppchenkost, sondern das muss schon eine überzeugende Idee sein."
Seit einigen Jahren wird der Markt der Kinder- und Jugendliteratur von einer regelrechten Welle an Ideen überschwemmt, wie man junge Leserinnen und Leser doch wieder mehr für das klassische Fach erwärmen könnte. Was diese Beflissenheit ausgelöst hat, ist fraglich. Vielleicht war es der PISA-Schock; vielleicht aber ist es auch eine Folge allgemein gewachsenen Geschichtsbewußtseins, weil man sich im wiedervereinigten Deutschland nun wieder mehr als Kulturnation begreift und sich eben darum auch auf das klassische Erbe besinnt. Fest steht, dass ein kleiner, aber umkämpfter Markt dafür entstanden ist, und zugleich eine Diskussion darum, wie die Tradition heute an die jungen Leserinnen und Leser "verkauft" werden, und wie man es vielleicht nicht tun sollte. Viele Versuche, Kindern klassische Texte in bunt illustrierten Kurzfassungen, vielleicht sogar noch in einer "Übersetzung" in Szenesprache schmackhaft zu machen, stoßen nicht nur bei Magdalena Frank vom Aufbau-Verlag auf große Vorbehalte. Nicht wenige denken da wie Kinderbuch-Starautor Manfred Mai, der selbst einmal Deutschlehrer an einem baden-württembergischen Gymnasium war:
"Naja, das find ich schon sehr schwierig, Das sind ehrenwerte Versuche, sag ich mal, und manche Texte eignen sich sogar dafür, wenn man die ein bisschen vereinfacht und den Kerngehalt doch erzählt, auch schon für jüngere Kinder zu machen. Das sind ehrenwerte Versuche, das ist nicht meine Art Ich hab ein bisschen Bedenken mit diesen Vereinfachungen, mit diesen Zusammenfassungen, Raffungen oder auch gar in Kinder- und Jugendsprache zu überführen, ich hab da ein bisschen Bedenken. Klar, die Position hat schon was für sich. Ich denke nur, man kann solche Werke nicht nur vom Inhalt her sehen. Kunst ist immer auch eine Sache von Sprache und Inhalt, von Form und Inhalt, und wenn ich eine Geschichte nur so nacherzähle, dann geht eben ganz viel verloren von dem, was zu diesem Werk dann gehört. Wenn ich eben sage: "Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande, ihn schlugen die Häscher in Bande." Dann kann ich nicht erzählen: Da kommt ein Mann, der hat irgendwie was vor mit dem Diktator oder so was, sondern da geht dann viel verloren. Finde ich einfach."
Gerade Schillers Ballade "Die Bürgschaft", deren Beginn Mai gerade zitierte, zählt zu jenen insgesamt recht wenigen klassischen Texten, die in der Verlagsszene auch in Originalfassung noch als zumutbar für Kinder und Jugendliche gelten und daher auch immer wieder in Klassikerausgaben für junge Leser erscheinen – besonders natürlich zum Schillerjahr 2005. "Die Bürgschaft" ist spannend, hat "action" und singt am Ende auch noch das Hohelied auf Freundschaft und Nächstenliebe über alle gesellschaftlichen Stände hinweg. Peter Härtling hat sie auch als einen der ersten Texte in seine kleine Sammlung "Schiller für Kinder" aufgenommen, ein Büchlein, das im Herbst im Insel Verlag erschienen ist und mit seinen schönen und humorigen Illustrationen von Hans Traxler fast wie ein Märchenbuch daherkommt, obwohl es lauter kleine Schillertete im O-Ton enthält. Dennoch gesteht Härtling in seinem Vorwort, in dem er sich an seine jungen Leser wendet, freimütig ein:
"Schiller war ein ernster Dichter. Darum fiel es mir schwer, für euch eine Auswahl aus seinem Werk zu treffen. Manchmal lachte er und wurde witzig. Diese wenigen Beispiele habe ich nicht übersehen. Übrigens schrieb er geschichtliche Abhandlungen und Erzählungen, die sehr lesenswert sind – nicht für Euch!"
"Damit ist zugleich die Gratwanderung umrissen, die ein Kinderbuchautor im klassischen Genre zu meistern hat. Nicht alle sind darin so gelöst und routiniert wie Altmeister Härtling. Auf knapp neunzig Seiten bietet er eine Auswahl an Schillerschen Kleinodien, die spielerische Unterhaltung auf hohem Niveau bieten und den Klassiker mühelos als frischen Autor mit Herz präsentieren, ohne sich an Zeitgeistiges anzubiedern. So unbekannte Gedichte wie das noch jugendliche Neujahrsgedicht an die "Herzgeliebten Eltern", aber auch Ausschnitte aus berühmten Stücken und sogar Briefe zählen ebenso zur Auswahl wie die bekannten Balladen, darunter die immer noch mitreißende "Bürgschaft"."
"Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande, / Ihn schlugen die Häscher in Bande. / 'Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!’ / Entgegnet ihm finster der Wüterich. / 'Die Stadt vom Tyrannen befreien!’ / 'Das sollst du am Kreuze bereuen.’"
Härtlings Schiller-Auswahl zeigt, wie übrigens zuvor auch schon seine Auswahl von Goethe-Werken für Kinder, dass es ganz einfach sein kann, ein schönes und dabei völlig unprätentiöses Buch über einen klassischen Autor zu machen, das nebenbei auch noch sanft belehrt, indem kleine Pfeile am Seitenrand auf ein kurzes Glossar im Anhang verweisen, in dem heute ungebräuchliche Wörter oder historische Hintergründe erläutert werden. Auch Erwachsene können auf diesem Weg ziemlich mühelos ihre Bildungslücken verbergen..
Bei weitem aber nicht alle Klassiker eigenen sich für verspielte Ausgaben. Hatte Härtling schon mit Schiller seine eingestandene Mühe, wirkt vieles aus dem Kanon der Überlieferung viel zu komplex, die Sprache zu kompliziert, manches, wie Shakespeares "Titus Andronicus" auch schlichtweg zu brutal in ihrer Handlung, als dass man damit auf Sechs- bis Neuntklässler losgehen könnte. Kinderbuchautor Manfred Mai warnt daher auch vor übertriebenem Bildungseifer. Andererseits aber sollte man klassische Texte für Kinder und Jugendliche auch nicht künstlich "weichspülen" und schon gar nicht sich von gewissen Sprachbarrieren schrecken lassen:
"Also, es ist schwierig, heute Klassiker zu vermitteln, und ich sage auch nicht, da gibt’s einen Standard, den man heute halt einfach auch noch wissen oder haben muss, um zu den anständigen Menschen zu gehören oder zu werden. Aber ich denke, es gibt einfach Stücke, es gibt Texte, die hundert oder zweihundert Jahre oder noch älter sind, die auch heute noch wert sind, gelesen zu werden, ich sage auch nicht, dass man ganze Stücke durchhecheln muss, wie das in Schulen immer noch gemacht wird, sondern ich sage, da gibt’s wirklich zentrale Stellen, wenn ich auch an Balladen denke, also wenn ich mir vorstelle "Die Bürgschaft", glaube ich, kann man lesen auch mit Acht-oder Neuntklässlern und die werden, da bin ich ziemlich sicher, die werden auch davon berührt werden, auch heute, in einer ganz anderen Welt."
Mai widmet sich der Vermittlung von Klassikern an Jugendliche vor allem, wie er sagt, aus eigener Lust an diesen Texten. Vor allem Schiller hat ihn jüngst wieder so begeistert, dass er eine ganze Biographie über ihn geschrieben hat, ein stattliches Buch, das auch ohne weiteres als Erwachsenenlektüre durchgehen kann. Mai erzählt darin das Leben Schillers in einer lockeren, aber niemals sich modisch anbiedernden Sprache, und immer wieder streut er längere Originalzitate aus Schillers sämtlichen Werken ein, um Dichters Stimme selbst hörbar werden zu lassen. Solche Bücher, das weiß Manfred Mai selbst, werden nicht von Jugendlichen, sondern von Eltern, Großeltern, Verwandten gekauft und möglicherweise nie oder nie ganz gelesen. Für nicht wenige ist Bildung, wie Mai sie versteht, erst einmal nichts anderes als eine lästige schulische Pflichtaufgabe, der man mehr schlecht als recht erträgt. Dann bedarf es der persönlichen Ausstrahlungskraft des Jugendbuchautors, um sein Publikum vielleicht doch mitzureißen.
Genau aus diesem Grund sehen andere Autoren die Notwendigkeit, bei der Vermittlung von klassischer Literatur viel stärker auf die Bedürfnisse der jungen Leser einzugehen. Wer, wie der Münchner Autor und Journalist Thomas Grasberger, tagtäglich dem Zeitgeist begegnet, macht sich womöglich nur wenige Illusionen darüber, welche Sprache man sprechen muss, um junge Leute zu erreichen. Als Grasberger, der selbst vierzig Jahre alt und Vater zweier Söhne ist, vor einiger Zeit eine Anfrage des Loewe Verlags erhielt, eine deutsche Literaturgeschichte für Jugendliche ab 12 Jahren zu schreiben, war seine erste Reaktion Zögern, nach dem Motto: Geht das überhaupt noch? Ganz anders als für Manfred Mai oder Peter Härtling stellt sich für Grasberger heutzutage die Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit klassischer Texte ins Hier und Jetzt so überhaupt nicht mehr:
"Ich glaub, es ist ja eine Luxusdiskussion oder ein Luxusproblem, wenn wir heute die Frage stellen: Dürfen wir das? Wenn wir vielleicht sogar diese Formen dann mit einem Tabu belegen. Weil: wenn wir ehrlich sind, wir kämpfen ja an einer ganz anderen Front. Es geht ja heute um die Frage: Liest überhaupt noch irgend jemand, schauen die Leute nur noch in die Glotze, nur noch in den Computer? - Und man sollte jede Chance nutzen, um in irgendeiner Form den Zugang zu Büchern zu erleichtern, Anreize zu schaffen, ja und vielleicht sogar einmal Anreize zu schaffen, einen Klassiker zur Hand zu nehmen. Und auch mit er Sprache, die vielleicht jetzt nicht jedem Literaturwissenschaftler gefallen mag, die aber bei den jungen Leuten ankommt."
"Er galt als die heißeste One-Man-Boy-Group des Mittelalters. Walther von der Vogelweide zog als fahrender Sänger durch die Gegend und hatte zahlreiche Auftritte mit selbstgedichteten Songs. Natürlich sang Walther von der Liebe. Erstens gehört dieses Thema zu den gefragtesten seit der Sache mit Adam und Eva. Und zweitens war im Hochmittelalter der Minnesang angesagt."
Manch einen überkommt bei solchen Aktualisierungsversuchen, wie Thomas Grasberger sie unternimmt, noch immer das kalte Grausen. Die Süddeutsche Zeitung widmete diesem Buch sogar eine kleine kontroverse Debatte. Eine Buchhändlerin zeigte sich in ihrer Rezension begeistert darüber, dass sich endlich ein Autor einmal auf die Welt der Jugendlichen einläßt. Dagegen hielt ein Literaturkritiker dem Autor vor, das Wesen der klassischen Texte durch die Anbiederung an die Szenesprache nachgerade zu verfälschen. Grasberger selbst wehrt sich gegen diesen Einwand, denn Jugendsprache von heute sei das, was er in diesem Band praktiziere, noch lange nicht.
"Das ganze Konzept dieses Buches ist ja so angelegt, dass diese Artikel kurz und knackig sein müssen, Sie haben also auf einer Seite sechzehnhundert Zeichen für einen Autor, für ein Buch, wenn’s hoch kommt mal eine Doppelseite, also es ist eine sehr kurze Form, es muss andererseits aber auch sachlich richtig sein, es muss den gestrengen Blicken eines Germanisten standhalten, das war mein eigener Anspruch, und vor allem: es muss junge Leser ansprechen, und da, glaube ich, ist für mich das Wichtigste, dass ein solches Buch nicht anbiedernd, sprachlich anbiedernd sein sollte, also was der Erwachsene glaubt, das Jugendliche sprechen. Das wird man vermutlich nicht erreichen. Trotzdem geht’s natürlich darum, eine Sprache zu finden, die jetzt nicht in einem germanistischen Kauderwelsch sich verfängt, die die jungen Leute etwas unmittelbarer anspricht. "
Immerhin, die Diskussion ist im Gang. Nach Angaben des Loewe Verlags ist die Reihe "Nachgefragt", in der auch Grasbergers Deutsche Literaturgeschichte erschienen ist, ein Erfolg beim Publikum – was immer auch in diesem Geschäft mit seinen relativ geringen Auflagen als Erfolg gewertet werden mag. Die Reihe "Nachgefragt" versteht der Verlag signifikanterweise als eine Edition von Lernbüchern, die eine Alternative zum trockenen Schulunterricht darstellen sollen. Also keine Power-Lernsoftware oder Nachhilfelektüre, die zur Leistungssteigerung und Notenverbesserung gedacht ist, wie sie reine Lehrmittelverlage wie Cormelsen auf den Markt bringen. Nein, das Konzept des Loewe-Verlags überträgt eher das postmoderne Prinzip des "Anything Goes" auch auf den immer noch dogmatisch umstrittenen Bereich der Bildungslektüren. "U" und "E" sind munter durcheinandergemischt und der Spaßfaktor deutlich unterstrichen. Das gilt auch für die bislang in diesem Format erschienenen Bände über Politik, Wirtschaft und Geschichte. Jede Seite ist mit kleinen, karikaturhaften Illustrationen versehen, und Überschriften wie
"Was ist Aufklärung? Mehr als die Sache mit den Bienen und Vögeln.
"Warum ist Heinrich Heines "Wintermärchen" keine Ski- und Schlittschuhgaudi?"
... sollen in der Literaturgeschichte neugierig auf die unvermeidlich auch ernsteren Inhalte machen, die sich hinter der lockeren Fassade verbergen. Ganz nebenbei und sehr sanft nehmen diese Überschriften aber auch die potentielle Unwissenheit der Leser, an die man sich wendet, auf die Schippe. Wenn der Gegendstand schon möglicherweise ernst ist, sollte es die Vermittlung eben gerade nicht sein, so scheint hier der Grundsatz zu lauten.
So spannt sich der Bogen, angefangen bei den hochmittelalterlichen Versepen, über Goethe, Schiller, Büchner, die deutsche Romantik bis hin zu Thomas und Heinrich Mann. Dabei kommt Grasberger mit äußerst wenig Originalzitaten aus. Die Klassik vom Sturm und Drang bis zu Büchner und Heine nimmt immerhin 25 Seiten ein. Der Literatur der Nachkriegszeit bis heute gehört mit 35 Seiten fast ein Viertel des Gesamtumfangs, wobei die DDR auf insgesamt drei Seiten abgehandelt wird.
Letztlich, so räumt Thomas Grasberger ein, unterliege die Auswahl der vorgestellten Autoren seinem subjektiven Empfinden. Das vermag zwar nicht wirklich zu rechtfertigen, weshalb Kleist, Hölderlin oder Herder in dieser Deutschen Literaturgeschichte unerwähnt bleiben. Doch am Ende ist ihm zumindest eines gelungen, einen Klassikerband zu schreiben, der garantiert unlesbar für einen erwachsenen Leser wäre, und das heißt auch, dass er konsequent versucht, die Lesevorlieben von Jugendlichen eben nicht nur durch die Brille von Schutzbefohlenen zu sehen. Und diesen Aspekt sollte man nicht zu gering veranschlagen.
"Doktor Heinrich Faust saß in seinem hochgewölbten Studierzimmer unruhig am Schreibtisch. Es war tiefe Nacht, und alle anderen Menschen schliefen längst. Doch Faust konnte nicht schlafen. Er war unzufrieden und klagte mißmutig vor sich hin. 'Die ganze Nacht habe ich gelernt, stundenlang in meinen Büchern gelesen, und was ist? Da steh ich nun ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.’ Seufzend öffnete er ein dickes Buch und erblickte darin das geheimnisvolle Zeichen des unendlichen Himmels. Gebannt betrachtete er die Abbildung und rief aus: 'Wie mir dieses Zeichen gefällt. Wie es sich verdreht vor meinen Augen, wie es wirbelt und tanzt: Welch Schauspiel! Aber ach, ein Schauspiel nur! Ich sehe zwar das Zeichen, doch ich verstehe es nicht."
Sprecher 1 Goethes "Faust I" als Märchen für Kinder im Vorschulalter – auch das dürfte wohl manchem Liebhaber klassischer Versepik die Tränen in die Augen treiben. Die stets kursiv kenntlich gemachten Einsprengsel von Zitaten aus dem Original mögen solche Texte dabei sogar besonders grotesk erscheinen lassen, wie ein klassisch-neudeutsches Kauderwelsch. Schon argwöhnen manche die fortschreitende Infantilisierung des Lesepublikums, böse Zungen sprechen von der "Teletubbisierung" der Literatur, die sich damit auf dasselbe Niveau begäbe, wie wenn Harald Schmidt im Fernsehen "Macbeth" mit Playmobilfiguren nachspielt.
Vorwürfe, die der Autorin und Verlegerin Barbara Kindermann zu Ohren gekommen sind, die sie jedoch nicht nachvollziehen kann und will. Seit einigen Jahren hat sich ihr kleiner Verlag, der in Berlin angesiedelt ist, auf Kurzfassungen klassischer Werke für Kinder ab sieben Jahren spezialisiert. Und wäre sie damit nicht ziemlich erfolgreich, gäbe es den Kindermann Verlag heute schon nicht mehr. Was manchen wie eine Verhöhnung des kulturellen Erbes erscheint, ist für Verlegerin aus der eigenen Praxis als Mutter hervorgegangen.
"Ich hatte selber schon gelesen bei Canetti in der "Geretteten Zunge", dass er sehr geprägt worden ist von einer ähnlichen Ausgabe, in der Klassiker für Kinder nacherzählt worden sind, und wollte eigentlich meiner Tochter was Gutes tun und hab daher einfach mal mit dem "Faust" begonnen, den für sie nachzuerzählen. Habe dann gemerkt, wie fasziniert sie davon ist und habe primär (...) die spannende Handlung in den Vordergrund gestellt, und sekundär habe ich gehofft, dass manche Zitate und die ganzen Zusammenhänge und die ganzen Figuren in ihrem Gedächtnis irgendwie haften bleiben. Und das hat sich bestätigt."
Die Reihe der "Klassiker für Kinder" ist ein Erfolg nicht zuletzt wegen der hochwertigen Ausstattung der Bände, für deren Bebilderung oft erstklassige Illustratoren gewonnen werden. Aber ein wenig spielte zunächst vielleicht auch der Effekt der Verblüffung oder sogar der Provokation eine Rolle für die immer stärkere Beachtung des Verlagsprogramms. Goethes "Faust 1" etwa, von Barbara Kindermann auf knapp dreißig großformatigen Seiten nacherzählt, war der erste Band dieser Reihe und war nicht nur beim Verkauf, sondern auch im Feuilleton ein durchschlagender Erfolg. In geradezu spektakulärer Manier hatte Altmeister Klaus Ensikat diesen Band illustriert, und selbst Skeptiker mussten einräumen, dass das Buch schön und sehr attraktiv gestaltet ist und als Kindererzählung durchaus seine Qualitäten hat. Es lediglich als fahrlässige Verhunzung des Allerheiligsten aller deutschen Klassiker zu verstehen, griffe viel zu kurz. Barbara Kindermann weiß was sie tut, und von jener demonstrativen Respektlosigkeit, wie sie bei Theaterregisseuren gegenüber den Klassikern längst Gang und Gäbe ist, ist die gebürtige Schweizerin weit entfernt.
"Es ist natürlich so, dass das Original dann nicht mehr der Maßstab ist, sondern einfach noch der Bezugspunkt. Dann destillier ich mir die wichtigsten Handlungselemente heraus und natürlich auch die kindgerechteren Szenen. Die reihe ich dann auch eine Schnur auf zu einer sukzessiven Handlung, das wird dann wirklich ein planes Durcherzählen von Anfang bis Ende, so dass das ein ganz roter Faden wird und eine ganz konkrete Geschichte. Mit kindgerechten Szenen meine ich zum Beispiel Zitate aus dem "Faust", die überhaupt nicht bekannt sind, aber die für Kinder einfach lustig und witzig sind, wie zum Beispiel: "Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus! Schon sieht er wie ein Nilpferd aus:" Da hab ich bei Lesungen regelmäßig Lacherfolge von den Kindern. Es soll also wirklich fast wie ein eigenes Genre entstehen bei diesen Nacherzählungen."
Das Schiller-Jahr vorwegnehmend erschien bei Kindermann bereits 2004 eine Nacherzählung des "Wilhelm Tell", wiederum mit prachtvollen Illustrationen von Klaus Ensikat. Wieder verfolgt die Autorin das Rezept, einige Textzeilen aus dem Original zu übernehmen und eine flüssig zu lesende Märchenstory drum herum zu schreiben, die in etwa den Stationen der Originalhandlung folgt. Die berühmteste Szene des Tell liest sich dann so:
"Tell spannte die Armbrust, legte einen Pfeil ein und zielte. Doch er ließ die Waffe sogleich wieder sinken. Verzweifelt wandte er sich Gessler zu, riß sein Hemd auf und flehte: "Herr Landvogt, hier ist mein Herz, erlaßt mir den Schuß!
"Ich will nicht dein Leben, ich will den Schuß", erwiderte Gessler kalt.
Da griff Tell nach einem zweiten Pfeil und steckte ihn zu sich. Erneut hob er seine Armbrust.
Über dem Platz lag eine unheimliche Spannung. Alles hielt den Atem an, als Tell zielte – dann drückte er ab.
"Der Apfel ist gefallen! Der Knabe lebt!" rief Stauffacher erlöst.
Das Volk begann zu jubeln. Und während Tell seinen Sohn inbrünstig umarmte, musterte Gessler den Apfel und staunte: "Bei Gott! Der Apfel ist mitten durchgeschossen! Es war ein Meisterschuß, ich muss ihn loben."
Dennoch bleibt natürlich nichts übrig von der Metrik und kunstvollen Satzfügung des Schillerschen Werks, die, so mag mancher argumentieren, die eigentliche Kunst ausmacht. Was also vermittelt man Kindern, wenn man ihnen nicht versucht, ein Gefühl auch für die hohe Kunst nahezubringen? Gerade um die Dogmen der Kunst aber geht es hier nicht. Der neue Text, den Kindermann aus der Handlung destilliert, soll ganz pragmatisch Anhaltspunkte bieten, leicht zu merken sein und ebenso wie auch beim Faust, aber auch in Kindermanns Ausgaben etwa von Shakespeares Romeo und Julia oder, ganz aktuell, von Goethes Götz von Berlichingen, Lust auf das Original machen – aber nicht gleich. Sie will aus den Kindern keine altklugen Bildungsmonster machen. Erst einmal, so die Absicht der Verlegerin, reicht es vollkommen aus, wenn ein solcher Text in guter Erinnerung bleibt – für später:
"Es ist kein Bildungswahn, der diese Entstehung der Reihe irgendwie geprägt hat, sondern irgendwie ein Hinführen zu Klassikern in einem Alter, in dem Kindern noch nicht ablehnend sind gegen alles, was irgendwie mit Bildung, mit Lernen zu tun hat. Wenn sie es erst in der Oberstufe oder in der Oberschule lernen müssen, sind sie von Vorurteilen schon geprägt und ablehnend, und in dem Alter erreicht man die Kinder noch, die sind begeisterungsfähig, und ich hab in vielen Lesungen gesehen, dass die Kinder auch mit diesen Texten zu begeistern sind.
Mit anderen Worten: Die oft beklagte, mitunter ja so dramatisch besungene Misere der heutigen Klassikerrezeption beginnt, von dieser Warte aus betrachtet, mit dem Eintritt ins schulpflichtige Alter; mit Lernzwang, pubertären Ablehnungsritualen und pädagogischer Verbildung.
Ganz so einfach aber ist es am Ende vielleicht doch nicht. Es mag durchaus stimmen, dass man mit einer zwanglosen Gewöhnung an Hochkultur im Grunde gar nicht früh genug beginnen kann und dass Kinder, die bei ihrem Eintritt in die Schule nie mit Literatur in Berührung gekommen sind, sich schwerer tun, sie sich durch Lehrer vermitteln zu lassen, wenn sie nichts haben, woran sie dabei vielleicht liebgewonnene Erinnerungen hegen können.
Doch der Umstand, dass allgemein immer weniger Zeit für eine vermeintlich so antiquierte Kulturtechnik wie das literarische Lesen übrig ist, lässt sich wohl nur bedingt den Schulen oder den anlasten.
Allen hier vorgestellten, wohlwollenden Bemühungen, mit denen Kindern und Jugendlichen Klassiker nahegebracht werden sollen, ist eines gemeinsam: Sie verzichten - bei aller derzeitigen Bildungshysterie - auf moralischen Druck. Das ist weise, denn nichts wäre kontraproduktiver. Wer heute Hektik verbreitet, der kennt die Klassiker schlecht, die immer wieder einmal für gewisse Zeiten völlig vergessen worden sind. Und dennoch tauchen sie unverwüstlich immer wieder auf, früher oder später, und frischer als zuvor, alles ganz von selbst. Sonst wären sie schließlich keine Klassiker.
Dennoch ist ein schwieriges Geschäft, denn seit vor allem Bibliotheken ihre Budgets kürzen mussten, kauft allenfalls eine verschwindende Minderheit von Liebhabern heute überhaupt noch das klassische Erbe in Reinform. Das Ende der DDR-Zeit mit ihren staatlich subventionierten Großauflagen, die Magdalena Frank seit den sechziger Jahren an verschiedenen Positionen im Verlag erlebt hat, macht sich auch beim Umgang mit Klassikern bemerkbar.
"Das heißt, wir haben vielleicht in der DDR-Zeit insgesamt zweihundert Ausgaben gemacht, und jetzt sind wir schon froh, dass wir drei Ausgaben im Verlag derzeit befördern, das ist die Fontane-Ausgabe im klassischen Bereich und, sagen wir mal, die moderne Klassik können wir mit einbeziehen, Anna Seghers und Arnold Zweig. Also, nach wie vor: Klassik ganz wichtig, aber natürlich jetzt: Wie, in welcher Form, für wen? "
In der DDR war das literarische Erbe Goethes und Schillers ungleich mehr verbreitet, als es heute im wiedervereinigten Deutschland der Fall zu sein scheint. Gründe dafür gab es viele. Die subventionierten Bücher waren billig; nicht selten verteilte der Staat die Auflagen, die in die Zehntausende gingen, kostenlos an Betriebe, Institutionen und Schulen; und klassische Reiseberichte aus jenen Ländern, in die man nicht reisen durfte, waren sehr begehrt. DDR-Schülern war das klassische Erbe ganz allgemein geläufiger, denn aus Sicht der Parteioberen half es dabei, die DDR in den Kontext deutscher Geistesgeschichte einzugliedern - während es in der alten Bundesrepublik zwischenzeitlich innerhalb der 68er Generation mitunter fast verpönt war, Goethe zu mögen, und manchen die Klassik nur noch als reaktionärer Ballast galt. In puncto Interesse für Klassik jedenfalls macht Magdalena Frank sich bei jungen Leuten heute keine Illusionen:
"Manchmal kommen ja Praktikanten ins Haus, junge Leute, und ganz selten, dass sich da einer mal für Klassik interessiert, deshalb hab ich auch fast nie Praktikanten. Und wenn ich dann mal frage, so bei Fontane und so - also die eine sagte immer gleich: "Also wenn ich 'Effi’ schon höre, also, da schalte ich schon ab!" Und ich glaube auch, unsere Vorstellungen manchmal, dass wir einen Titel machen und denken, vielleicht doch ein bisschen höher in der Auflage gehen für Lehrer: Es ist nicht das Problem, ob Klassik reaktionär ist oder ob der Sozialismus da irgendwie das nun vereinnahmt hat, sondern es ist ja immer die Frage: Wie erreichen wir Leute mit diesem Autor, von dem wir der Meinung sind, er ist nicht nur so gemütlich und behaglich und humoristisch, sondern er berührt doch existentielle Dinge? Ich mein, ich bin nicht der Meinung, der Jugendliche braucht jetzt Häppchenkost, sondern das muss schon eine überzeugende Idee sein."
Seit einigen Jahren wird der Markt der Kinder- und Jugendliteratur von einer regelrechten Welle an Ideen überschwemmt, wie man junge Leserinnen und Leser doch wieder mehr für das klassische Fach erwärmen könnte. Was diese Beflissenheit ausgelöst hat, ist fraglich. Vielleicht war es der PISA-Schock; vielleicht aber ist es auch eine Folge allgemein gewachsenen Geschichtsbewußtseins, weil man sich im wiedervereinigten Deutschland nun wieder mehr als Kulturnation begreift und sich eben darum auch auf das klassische Erbe besinnt. Fest steht, dass ein kleiner, aber umkämpfter Markt dafür entstanden ist, und zugleich eine Diskussion darum, wie die Tradition heute an die jungen Leserinnen und Leser "verkauft" werden, und wie man es vielleicht nicht tun sollte. Viele Versuche, Kindern klassische Texte in bunt illustrierten Kurzfassungen, vielleicht sogar noch in einer "Übersetzung" in Szenesprache schmackhaft zu machen, stoßen nicht nur bei Magdalena Frank vom Aufbau-Verlag auf große Vorbehalte. Nicht wenige denken da wie Kinderbuch-Starautor Manfred Mai, der selbst einmal Deutschlehrer an einem baden-württembergischen Gymnasium war:
"Naja, das find ich schon sehr schwierig, Das sind ehrenwerte Versuche, sag ich mal, und manche Texte eignen sich sogar dafür, wenn man die ein bisschen vereinfacht und den Kerngehalt doch erzählt, auch schon für jüngere Kinder zu machen. Das sind ehrenwerte Versuche, das ist nicht meine Art Ich hab ein bisschen Bedenken mit diesen Vereinfachungen, mit diesen Zusammenfassungen, Raffungen oder auch gar in Kinder- und Jugendsprache zu überführen, ich hab da ein bisschen Bedenken. Klar, die Position hat schon was für sich. Ich denke nur, man kann solche Werke nicht nur vom Inhalt her sehen. Kunst ist immer auch eine Sache von Sprache und Inhalt, von Form und Inhalt, und wenn ich eine Geschichte nur so nacherzähle, dann geht eben ganz viel verloren von dem, was zu diesem Werk dann gehört. Wenn ich eben sage: "Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande, ihn schlugen die Häscher in Bande." Dann kann ich nicht erzählen: Da kommt ein Mann, der hat irgendwie was vor mit dem Diktator oder so was, sondern da geht dann viel verloren. Finde ich einfach."
Gerade Schillers Ballade "Die Bürgschaft", deren Beginn Mai gerade zitierte, zählt zu jenen insgesamt recht wenigen klassischen Texten, die in der Verlagsszene auch in Originalfassung noch als zumutbar für Kinder und Jugendliche gelten und daher auch immer wieder in Klassikerausgaben für junge Leser erscheinen – besonders natürlich zum Schillerjahr 2005. "Die Bürgschaft" ist spannend, hat "action" und singt am Ende auch noch das Hohelied auf Freundschaft und Nächstenliebe über alle gesellschaftlichen Stände hinweg. Peter Härtling hat sie auch als einen der ersten Texte in seine kleine Sammlung "Schiller für Kinder" aufgenommen, ein Büchlein, das im Herbst im Insel Verlag erschienen ist und mit seinen schönen und humorigen Illustrationen von Hans Traxler fast wie ein Märchenbuch daherkommt, obwohl es lauter kleine Schillertete im O-Ton enthält. Dennoch gesteht Härtling in seinem Vorwort, in dem er sich an seine jungen Leser wendet, freimütig ein:
"Schiller war ein ernster Dichter. Darum fiel es mir schwer, für euch eine Auswahl aus seinem Werk zu treffen. Manchmal lachte er und wurde witzig. Diese wenigen Beispiele habe ich nicht übersehen. Übrigens schrieb er geschichtliche Abhandlungen und Erzählungen, die sehr lesenswert sind – nicht für Euch!"
"Damit ist zugleich die Gratwanderung umrissen, die ein Kinderbuchautor im klassischen Genre zu meistern hat. Nicht alle sind darin so gelöst und routiniert wie Altmeister Härtling. Auf knapp neunzig Seiten bietet er eine Auswahl an Schillerschen Kleinodien, die spielerische Unterhaltung auf hohem Niveau bieten und den Klassiker mühelos als frischen Autor mit Herz präsentieren, ohne sich an Zeitgeistiges anzubiedern. So unbekannte Gedichte wie das noch jugendliche Neujahrsgedicht an die "Herzgeliebten Eltern", aber auch Ausschnitte aus berühmten Stücken und sogar Briefe zählen ebenso zur Auswahl wie die bekannten Balladen, darunter die immer noch mitreißende "Bürgschaft"."
"Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich / Möros, den Dolch im Gewande, / Ihn schlugen die Häscher in Bande. / 'Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!’ / Entgegnet ihm finster der Wüterich. / 'Die Stadt vom Tyrannen befreien!’ / 'Das sollst du am Kreuze bereuen.’"
Härtlings Schiller-Auswahl zeigt, wie übrigens zuvor auch schon seine Auswahl von Goethe-Werken für Kinder, dass es ganz einfach sein kann, ein schönes und dabei völlig unprätentiöses Buch über einen klassischen Autor zu machen, das nebenbei auch noch sanft belehrt, indem kleine Pfeile am Seitenrand auf ein kurzes Glossar im Anhang verweisen, in dem heute ungebräuchliche Wörter oder historische Hintergründe erläutert werden. Auch Erwachsene können auf diesem Weg ziemlich mühelos ihre Bildungslücken verbergen..
Bei weitem aber nicht alle Klassiker eigenen sich für verspielte Ausgaben. Hatte Härtling schon mit Schiller seine eingestandene Mühe, wirkt vieles aus dem Kanon der Überlieferung viel zu komplex, die Sprache zu kompliziert, manches, wie Shakespeares "Titus Andronicus" auch schlichtweg zu brutal in ihrer Handlung, als dass man damit auf Sechs- bis Neuntklässler losgehen könnte. Kinderbuchautor Manfred Mai warnt daher auch vor übertriebenem Bildungseifer. Andererseits aber sollte man klassische Texte für Kinder und Jugendliche auch nicht künstlich "weichspülen" und schon gar nicht sich von gewissen Sprachbarrieren schrecken lassen:
"Also, es ist schwierig, heute Klassiker zu vermitteln, und ich sage auch nicht, da gibt’s einen Standard, den man heute halt einfach auch noch wissen oder haben muss, um zu den anständigen Menschen zu gehören oder zu werden. Aber ich denke, es gibt einfach Stücke, es gibt Texte, die hundert oder zweihundert Jahre oder noch älter sind, die auch heute noch wert sind, gelesen zu werden, ich sage auch nicht, dass man ganze Stücke durchhecheln muss, wie das in Schulen immer noch gemacht wird, sondern ich sage, da gibt’s wirklich zentrale Stellen, wenn ich auch an Balladen denke, also wenn ich mir vorstelle "Die Bürgschaft", glaube ich, kann man lesen auch mit Acht-oder Neuntklässlern und die werden, da bin ich ziemlich sicher, die werden auch davon berührt werden, auch heute, in einer ganz anderen Welt."
Mai widmet sich der Vermittlung von Klassikern an Jugendliche vor allem, wie er sagt, aus eigener Lust an diesen Texten. Vor allem Schiller hat ihn jüngst wieder so begeistert, dass er eine ganze Biographie über ihn geschrieben hat, ein stattliches Buch, das auch ohne weiteres als Erwachsenenlektüre durchgehen kann. Mai erzählt darin das Leben Schillers in einer lockeren, aber niemals sich modisch anbiedernden Sprache, und immer wieder streut er längere Originalzitate aus Schillers sämtlichen Werken ein, um Dichters Stimme selbst hörbar werden zu lassen. Solche Bücher, das weiß Manfred Mai selbst, werden nicht von Jugendlichen, sondern von Eltern, Großeltern, Verwandten gekauft und möglicherweise nie oder nie ganz gelesen. Für nicht wenige ist Bildung, wie Mai sie versteht, erst einmal nichts anderes als eine lästige schulische Pflichtaufgabe, der man mehr schlecht als recht erträgt. Dann bedarf es der persönlichen Ausstrahlungskraft des Jugendbuchautors, um sein Publikum vielleicht doch mitzureißen.
Genau aus diesem Grund sehen andere Autoren die Notwendigkeit, bei der Vermittlung von klassischer Literatur viel stärker auf die Bedürfnisse der jungen Leser einzugehen. Wer, wie der Münchner Autor und Journalist Thomas Grasberger, tagtäglich dem Zeitgeist begegnet, macht sich womöglich nur wenige Illusionen darüber, welche Sprache man sprechen muss, um junge Leute zu erreichen. Als Grasberger, der selbst vierzig Jahre alt und Vater zweier Söhne ist, vor einiger Zeit eine Anfrage des Loewe Verlags erhielt, eine deutsche Literaturgeschichte für Jugendliche ab 12 Jahren zu schreiben, war seine erste Reaktion Zögern, nach dem Motto: Geht das überhaupt noch? Ganz anders als für Manfred Mai oder Peter Härtling stellt sich für Grasberger heutzutage die Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit klassischer Texte ins Hier und Jetzt so überhaupt nicht mehr:
"Ich glaub, es ist ja eine Luxusdiskussion oder ein Luxusproblem, wenn wir heute die Frage stellen: Dürfen wir das? Wenn wir vielleicht sogar diese Formen dann mit einem Tabu belegen. Weil: wenn wir ehrlich sind, wir kämpfen ja an einer ganz anderen Front. Es geht ja heute um die Frage: Liest überhaupt noch irgend jemand, schauen die Leute nur noch in die Glotze, nur noch in den Computer? - Und man sollte jede Chance nutzen, um in irgendeiner Form den Zugang zu Büchern zu erleichtern, Anreize zu schaffen, ja und vielleicht sogar einmal Anreize zu schaffen, einen Klassiker zur Hand zu nehmen. Und auch mit er Sprache, die vielleicht jetzt nicht jedem Literaturwissenschaftler gefallen mag, die aber bei den jungen Leuten ankommt."
"Er galt als die heißeste One-Man-Boy-Group des Mittelalters. Walther von der Vogelweide zog als fahrender Sänger durch die Gegend und hatte zahlreiche Auftritte mit selbstgedichteten Songs. Natürlich sang Walther von der Liebe. Erstens gehört dieses Thema zu den gefragtesten seit der Sache mit Adam und Eva. Und zweitens war im Hochmittelalter der Minnesang angesagt."
Manch einen überkommt bei solchen Aktualisierungsversuchen, wie Thomas Grasberger sie unternimmt, noch immer das kalte Grausen. Die Süddeutsche Zeitung widmete diesem Buch sogar eine kleine kontroverse Debatte. Eine Buchhändlerin zeigte sich in ihrer Rezension begeistert darüber, dass sich endlich ein Autor einmal auf die Welt der Jugendlichen einläßt. Dagegen hielt ein Literaturkritiker dem Autor vor, das Wesen der klassischen Texte durch die Anbiederung an die Szenesprache nachgerade zu verfälschen. Grasberger selbst wehrt sich gegen diesen Einwand, denn Jugendsprache von heute sei das, was er in diesem Band praktiziere, noch lange nicht.
"Das ganze Konzept dieses Buches ist ja so angelegt, dass diese Artikel kurz und knackig sein müssen, Sie haben also auf einer Seite sechzehnhundert Zeichen für einen Autor, für ein Buch, wenn’s hoch kommt mal eine Doppelseite, also es ist eine sehr kurze Form, es muss andererseits aber auch sachlich richtig sein, es muss den gestrengen Blicken eines Germanisten standhalten, das war mein eigener Anspruch, und vor allem: es muss junge Leser ansprechen, und da, glaube ich, ist für mich das Wichtigste, dass ein solches Buch nicht anbiedernd, sprachlich anbiedernd sein sollte, also was der Erwachsene glaubt, das Jugendliche sprechen. Das wird man vermutlich nicht erreichen. Trotzdem geht’s natürlich darum, eine Sprache zu finden, die jetzt nicht in einem germanistischen Kauderwelsch sich verfängt, die die jungen Leute etwas unmittelbarer anspricht. "
Immerhin, die Diskussion ist im Gang. Nach Angaben des Loewe Verlags ist die Reihe "Nachgefragt", in der auch Grasbergers Deutsche Literaturgeschichte erschienen ist, ein Erfolg beim Publikum – was immer auch in diesem Geschäft mit seinen relativ geringen Auflagen als Erfolg gewertet werden mag. Die Reihe "Nachgefragt" versteht der Verlag signifikanterweise als eine Edition von Lernbüchern, die eine Alternative zum trockenen Schulunterricht darstellen sollen. Also keine Power-Lernsoftware oder Nachhilfelektüre, die zur Leistungssteigerung und Notenverbesserung gedacht ist, wie sie reine Lehrmittelverlage wie Cormelsen auf den Markt bringen. Nein, das Konzept des Loewe-Verlags überträgt eher das postmoderne Prinzip des "Anything Goes" auch auf den immer noch dogmatisch umstrittenen Bereich der Bildungslektüren. "U" und "E" sind munter durcheinandergemischt und der Spaßfaktor deutlich unterstrichen. Das gilt auch für die bislang in diesem Format erschienenen Bände über Politik, Wirtschaft und Geschichte. Jede Seite ist mit kleinen, karikaturhaften Illustrationen versehen, und Überschriften wie
"Was ist Aufklärung? Mehr als die Sache mit den Bienen und Vögeln.
"Warum ist Heinrich Heines "Wintermärchen" keine Ski- und Schlittschuhgaudi?"
... sollen in der Literaturgeschichte neugierig auf die unvermeidlich auch ernsteren Inhalte machen, die sich hinter der lockeren Fassade verbergen. Ganz nebenbei und sehr sanft nehmen diese Überschriften aber auch die potentielle Unwissenheit der Leser, an die man sich wendet, auf die Schippe. Wenn der Gegendstand schon möglicherweise ernst ist, sollte es die Vermittlung eben gerade nicht sein, so scheint hier der Grundsatz zu lauten.
So spannt sich der Bogen, angefangen bei den hochmittelalterlichen Versepen, über Goethe, Schiller, Büchner, die deutsche Romantik bis hin zu Thomas und Heinrich Mann. Dabei kommt Grasberger mit äußerst wenig Originalzitaten aus. Die Klassik vom Sturm und Drang bis zu Büchner und Heine nimmt immerhin 25 Seiten ein. Der Literatur der Nachkriegszeit bis heute gehört mit 35 Seiten fast ein Viertel des Gesamtumfangs, wobei die DDR auf insgesamt drei Seiten abgehandelt wird.
Letztlich, so räumt Thomas Grasberger ein, unterliege die Auswahl der vorgestellten Autoren seinem subjektiven Empfinden. Das vermag zwar nicht wirklich zu rechtfertigen, weshalb Kleist, Hölderlin oder Herder in dieser Deutschen Literaturgeschichte unerwähnt bleiben. Doch am Ende ist ihm zumindest eines gelungen, einen Klassikerband zu schreiben, der garantiert unlesbar für einen erwachsenen Leser wäre, und das heißt auch, dass er konsequent versucht, die Lesevorlieben von Jugendlichen eben nicht nur durch die Brille von Schutzbefohlenen zu sehen. Und diesen Aspekt sollte man nicht zu gering veranschlagen.
"Doktor Heinrich Faust saß in seinem hochgewölbten Studierzimmer unruhig am Schreibtisch. Es war tiefe Nacht, und alle anderen Menschen schliefen längst. Doch Faust konnte nicht schlafen. Er war unzufrieden und klagte mißmutig vor sich hin. 'Die ganze Nacht habe ich gelernt, stundenlang in meinen Büchern gelesen, und was ist? Da steh ich nun ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.’ Seufzend öffnete er ein dickes Buch und erblickte darin das geheimnisvolle Zeichen des unendlichen Himmels. Gebannt betrachtete er die Abbildung und rief aus: 'Wie mir dieses Zeichen gefällt. Wie es sich verdreht vor meinen Augen, wie es wirbelt und tanzt: Welch Schauspiel! Aber ach, ein Schauspiel nur! Ich sehe zwar das Zeichen, doch ich verstehe es nicht."
Sprecher 1 Goethes "Faust I" als Märchen für Kinder im Vorschulalter – auch das dürfte wohl manchem Liebhaber klassischer Versepik die Tränen in die Augen treiben. Die stets kursiv kenntlich gemachten Einsprengsel von Zitaten aus dem Original mögen solche Texte dabei sogar besonders grotesk erscheinen lassen, wie ein klassisch-neudeutsches Kauderwelsch. Schon argwöhnen manche die fortschreitende Infantilisierung des Lesepublikums, böse Zungen sprechen von der "Teletubbisierung" der Literatur, die sich damit auf dasselbe Niveau begäbe, wie wenn Harald Schmidt im Fernsehen "Macbeth" mit Playmobilfiguren nachspielt.
Vorwürfe, die der Autorin und Verlegerin Barbara Kindermann zu Ohren gekommen sind, die sie jedoch nicht nachvollziehen kann und will. Seit einigen Jahren hat sich ihr kleiner Verlag, der in Berlin angesiedelt ist, auf Kurzfassungen klassischer Werke für Kinder ab sieben Jahren spezialisiert. Und wäre sie damit nicht ziemlich erfolgreich, gäbe es den Kindermann Verlag heute schon nicht mehr. Was manchen wie eine Verhöhnung des kulturellen Erbes erscheint, ist für Verlegerin aus der eigenen Praxis als Mutter hervorgegangen.
"Ich hatte selber schon gelesen bei Canetti in der "Geretteten Zunge", dass er sehr geprägt worden ist von einer ähnlichen Ausgabe, in der Klassiker für Kinder nacherzählt worden sind, und wollte eigentlich meiner Tochter was Gutes tun und hab daher einfach mal mit dem "Faust" begonnen, den für sie nachzuerzählen. Habe dann gemerkt, wie fasziniert sie davon ist und habe primär (...) die spannende Handlung in den Vordergrund gestellt, und sekundär habe ich gehofft, dass manche Zitate und die ganzen Zusammenhänge und die ganzen Figuren in ihrem Gedächtnis irgendwie haften bleiben. Und das hat sich bestätigt."
Die Reihe der "Klassiker für Kinder" ist ein Erfolg nicht zuletzt wegen der hochwertigen Ausstattung der Bände, für deren Bebilderung oft erstklassige Illustratoren gewonnen werden. Aber ein wenig spielte zunächst vielleicht auch der Effekt der Verblüffung oder sogar der Provokation eine Rolle für die immer stärkere Beachtung des Verlagsprogramms. Goethes "Faust 1" etwa, von Barbara Kindermann auf knapp dreißig großformatigen Seiten nacherzählt, war der erste Band dieser Reihe und war nicht nur beim Verkauf, sondern auch im Feuilleton ein durchschlagender Erfolg. In geradezu spektakulärer Manier hatte Altmeister Klaus Ensikat diesen Band illustriert, und selbst Skeptiker mussten einräumen, dass das Buch schön und sehr attraktiv gestaltet ist und als Kindererzählung durchaus seine Qualitäten hat. Es lediglich als fahrlässige Verhunzung des Allerheiligsten aller deutschen Klassiker zu verstehen, griffe viel zu kurz. Barbara Kindermann weiß was sie tut, und von jener demonstrativen Respektlosigkeit, wie sie bei Theaterregisseuren gegenüber den Klassikern längst Gang und Gäbe ist, ist die gebürtige Schweizerin weit entfernt.
"Es ist natürlich so, dass das Original dann nicht mehr der Maßstab ist, sondern einfach noch der Bezugspunkt. Dann destillier ich mir die wichtigsten Handlungselemente heraus und natürlich auch die kindgerechteren Szenen. Die reihe ich dann auch eine Schnur auf zu einer sukzessiven Handlung, das wird dann wirklich ein planes Durcherzählen von Anfang bis Ende, so dass das ein ganz roter Faden wird und eine ganz konkrete Geschichte. Mit kindgerechten Szenen meine ich zum Beispiel Zitate aus dem "Faust", die überhaupt nicht bekannt sind, aber die für Kinder einfach lustig und witzig sind, wie zum Beispiel: "Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus! Schon sieht er wie ein Nilpferd aus:" Da hab ich bei Lesungen regelmäßig Lacherfolge von den Kindern. Es soll also wirklich fast wie ein eigenes Genre entstehen bei diesen Nacherzählungen."
Das Schiller-Jahr vorwegnehmend erschien bei Kindermann bereits 2004 eine Nacherzählung des "Wilhelm Tell", wiederum mit prachtvollen Illustrationen von Klaus Ensikat. Wieder verfolgt die Autorin das Rezept, einige Textzeilen aus dem Original zu übernehmen und eine flüssig zu lesende Märchenstory drum herum zu schreiben, die in etwa den Stationen der Originalhandlung folgt. Die berühmteste Szene des Tell liest sich dann so:
"Tell spannte die Armbrust, legte einen Pfeil ein und zielte. Doch er ließ die Waffe sogleich wieder sinken. Verzweifelt wandte er sich Gessler zu, riß sein Hemd auf und flehte: "Herr Landvogt, hier ist mein Herz, erlaßt mir den Schuß!
"Ich will nicht dein Leben, ich will den Schuß", erwiderte Gessler kalt.
Da griff Tell nach einem zweiten Pfeil und steckte ihn zu sich. Erneut hob er seine Armbrust.
Über dem Platz lag eine unheimliche Spannung. Alles hielt den Atem an, als Tell zielte – dann drückte er ab.
"Der Apfel ist gefallen! Der Knabe lebt!" rief Stauffacher erlöst.
Das Volk begann zu jubeln. Und während Tell seinen Sohn inbrünstig umarmte, musterte Gessler den Apfel und staunte: "Bei Gott! Der Apfel ist mitten durchgeschossen! Es war ein Meisterschuß, ich muss ihn loben."
Dennoch bleibt natürlich nichts übrig von der Metrik und kunstvollen Satzfügung des Schillerschen Werks, die, so mag mancher argumentieren, die eigentliche Kunst ausmacht. Was also vermittelt man Kindern, wenn man ihnen nicht versucht, ein Gefühl auch für die hohe Kunst nahezubringen? Gerade um die Dogmen der Kunst aber geht es hier nicht. Der neue Text, den Kindermann aus der Handlung destilliert, soll ganz pragmatisch Anhaltspunkte bieten, leicht zu merken sein und ebenso wie auch beim Faust, aber auch in Kindermanns Ausgaben etwa von Shakespeares Romeo und Julia oder, ganz aktuell, von Goethes Götz von Berlichingen, Lust auf das Original machen – aber nicht gleich. Sie will aus den Kindern keine altklugen Bildungsmonster machen. Erst einmal, so die Absicht der Verlegerin, reicht es vollkommen aus, wenn ein solcher Text in guter Erinnerung bleibt – für später:
"Es ist kein Bildungswahn, der diese Entstehung der Reihe irgendwie geprägt hat, sondern irgendwie ein Hinführen zu Klassikern in einem Alter, in dem Kindern noch nicht ablehnend sind gegen alles, was irgendwie mit Bildung, mit Lernen zu tun hat. Wenn sie es erst in der Oberstufe oder in der Oberschule lernen müssen, sind sie von Vorurteilen schon geprägt und ablehnend, und in dem Alter erreicht man die Kinder noch, die sind begeisterungsfähig, und ich hab in vielen Lesungen gesehen, dass die Kinder auch mit diesen Texten zu begeistern sind.
Mit anderen Worten: Die oft beklagte, mitunter ja so dramatisch besungene Misere der heutigen Klassikerrezeption beginnt, von dieser Warte aus betrachtet, mit dem Eintritt ins schulpflichtige Alter; mit Lernzwang, pubertären Ablehnungsritualen und pädagogischer Verbildung.
Ganz so einfach aber ist es am Ende vielleicht doch nicht. Es mag durchaus stimmen, dass man mit einer zwanglosen Gewöhnung an Hochkultur im Grunde gar nicht früh genug beginnen kann und dass Kinder, die bei ihrem Eintritt in die Schule nie mit Literatur in Berührung gekommen sind, sich schwerer tun, sie sich durch Lehrer vermitteln zu lassen, wenn sie nichts haben, woran sie dabei vielleicht liebgewonnene Erinnerungen hegen können.
Doch der Umstand, dass allgemein immer weniger Zeit für eine vermeintlich so antiquierte Kulturtechnik wie das literarische Lesen übrig ist, lässt sich wohl nur bedingt den Schulen oder den anlasten.
Allen hier vorgestellten, wohlwollenden Bemühungen, mit denen Kindern und Jugendlichen Klassiker nahegebracht werden sollen, ist eines gemeinsam: Sie verzichten - bei aller derzeitigen Bildungshysterie - auf moralischen Druck. Das ist weise, denn nichts wäre kontraproduktiver. Wer heute Hektik verbreitet, der kennt die Klassiker schlecht, die immer wieder einmal für gewisse Zeiten völlig vergessen worden sind. Und dennoch tauchen sie unverwüstlich immer wieder auf, früher oder später, und frischer als zuvor, alles ganz von selbst. Sonst wären sie schließlich keine Klassiker.