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Klassische Literatur
Hilfe bei der Suche nach dem Sinn des Lebens

Von Brigitte Neumann | 17.10.2014
    Jeder, der große Literatur liest, sucht etwas darin. Seien es Worte für etwas bislang Unaussprechliches, gute Gesellschaft zur Linderung der Einsamkeit oder Trost angesichts einer rasenden Lähmung, die uns gegenwärtig offenbar ergriffen hat. Denn: In großer Literatur geht es endlich einmal nicht um Leistung, Effizienz und Geld, sondern um das, was unser Menschsein ausmacht.
    "Ich denke, dass wir ein inneres Leben haben, das die Sprache nicht wirklich erreichen kann. Und es braucht übergeschnappte Schriftsteller, die mit ihren Fähigkeiten versuchen, in diese Gebiete vorzudringen. Sprache, jedenfalls für mich, ist ein unglaublich gutes Werkzeug, um etwas auszugraben und zutage zu fördern und immer wieder Sinnbilder und Symbole dafür zu finden, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein."
    ... sagt der amerikanische Schriftsteller Ben Marcus.
    Aber die beiden Philosophieprofessoren Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly setzen sozusagen höher an. In ihrem Buch "Alles, was leuchtet" geht es vor allem um Gott und das Heilige. Nun leben wir im Westen seit über hundert Jahren in säkularen Gesellschaften. Gott ist schon lange für tot erklärt. Die Naturwissenschaften haben triumphiert. Und mit ihnen der Mensch, heißt es jedenfalls. Das aber wollen Dreyfus und Kelly nicht gelten lassen. Und tatsächlich: Vielleicht gibt es ja den monotheistischen Gott unserer judäa-christlichen Tradition nicht mehr, sondern einen anderen, etwa so wie ihn der 1889 geborene Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus beschrieb:
    "An einen Gott glauben, heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. Wir sind in einem gewissen Sinne abhängig, und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen; Gott wäre in diesem Sinne einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist, die - von unserem Willen unabhängige - Welt."
    Es geht nicht um Unterhaltungsliteratur
    Und genau diesen Gott meinen Dreyfus und Kelly. Einen Gott, der in allem wohnt. Sie meinen die Tatsache, dass wir weder die Beherrscher unseres Lebens noch der Erde sind, dass unser Unglück allerdings daher rührt, dies zu glauben. Von den Naturwissenschaften mit Allmachtsgefühlen versorgt, leugnen wir unsere Abhängigkeit. Diese Hybris zieht verschiedene Dinge nach sich, schreiben sie, etwa dass wir verlernt haben, Dankbarkeit zu empfinden für das Gute, das uns begegnet wie auch für die bloße Tatsache, am Leben zu sein; sie zieht ein Gefühl ständiger Unzufriedenheit und Erschöpfung nach sich, weil der Mensch als Maß aller Dinge, wie er sich auch anstrengt, am Ende zu unvollkommen ist, um seinen hohen Ansprüchen Genüge zu tun. Und ganz allgemein greift ein Gefühl der Ratlosigkeit um sich, was das Leben denn soll. Und genau da, glauben Dreyfus und Kelly, könne die Literatur helfen. Klassische Literatur, gut abgehangene Werke. Die allerdings sind gerade wenig in Mode, wie der englische Schriftsteller und Mitglied der Booker-Preis-Jury, Tim Parks, beobachtet.
    "Ich glaube, dass Romane heute nicht mehr die Bedeutung haben, die sie mal hatten, teilweise wegen der vielen anderen Medien, die es heute gibt. Wenn Sie an die Wirkung Thomas Hardys auf die viktorianische Gesellschaft denken oder D.H. Lawrence: So etwas ist heute undenkbar. Niemandem sind Bücher heute noch so wichtig. Das einzige Buch, das heute noch zählt, ist doch Harry Potter."
    Nein, Dreyfus und Kelly geht es nicht um Unterhaltungsliteratur. Sie nehmen sich Homer, Descartes, Kant, Melville und von den Zeitgenossen David Foster Wallace vor mit dem Ziel zu ergründen, welche Hilfestellung sie geben könnten, um den Schmerz des, wie Paul Virilio es nannte, "rasenden Stillstands" mildern zu können. Sie nennen es anders, nämlich "Nihilismus" und meinen, dass wir zwar die Freiheit haben, uns wie auch immer zu entscheiden, aber keine Gewissheiten mehr kennen, die ja die Basis dieser Entscheidungen wären. Wir haben die Orientierung verloren.
    "Die Welt, in der ich lebe, besteht aus zweihundertfünfzig Werbebotschaften pro Tag und jeder Menge unglaublicher Möglichkeiten, sich zu bespaßen.",
    schreibt David Foster Wallace in seinem Buch "Unendlicher Spaß". Und schlägt vor, diese Welt der glatten Oberflächen, unter denen sich, wie er erkannte, die tatsächlichen Zumutungen verstecken, aus eigener Kraft einfach umzudeuten. Die Kassiererin im Supermarkt raunzt ein kleines Mädchen an. Ja vielleicht hat sie die ganze Nacht die Hand ihres todkranken Mannes halten müssen und ist nun einfach zu erschöpft, um freundlich zu sein. Nun ja, diese barmherzige Umdeutung der Wirklichkeit dient wohl zuallererst der Beruhigung des Deuters. Und letztendlich fand auch Wallace darin keinen Halt. Weil, und das ist einer der wichtigen Erkenntnisse des Buches "Alles, was leuchtet", weil wir nur durch die Kraft des eigenen Willens diesen Halt nicht finden können.
    Literarische Illustration ihrer Gedanken zur aktuellen Sinnkrise
    "So zog Moby Dick dahin durch die heitere Stille der tropischen See. An Wellen dahin, deren spielendes Schlagen im höchsten Entzücken verstummt war."
    Rolf Boysen las aus Moby Dick, Herman Melvilles 1851 erschienenem Roman über einen weißen Wal, der von Captain Ahab mit selbstmörderischem Hass verfolgt wird. In diesem Klassiker erkennen Dreyfus und Kelly die gelungenste literarische Illustration ihrer Gedanken zur aktuellen Sinnkrise. Einer Krise, die der westlichen Kultur von Anfang an eingeschrieben war, wie sie meinen, und die sich nun zuspitzt.
    "Wir stehen auf der letzten Stufe des Abstiegs zu einem Selbstverständnis, das jede Möglichkeit für ein sinnvolles und erfülltes Leben zunichtemacht."
    Melvilles "Moby Dick" deuten sie als eine Allegorie auf menschliche Hybris, auf unser Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu bringen. Und den Wal als das göttliche Mysterium an sich, das alle guten und bösen Mächte auf sich vereint.
    "Noch entzog er den ganzen Schrecken seines untergetauchten Leibes unseren Blicken. Bald aber hob sich der vordere Teil seines Leibes aus dem Wasser empor. Bedrohlich schwenkte er seine Schwanzflosse wie ein Banner in der Luft. Der große Gott offenbarte sich, tauchte, und entschwand unseren Blicken."
    Captain Ahab, hat ein Bein im Kampf mit ihm verloren. Aber gerade das stachelt seinen Ehrgeiz an. Er ist besessen davon, Moby Dick die Aura göttlicher Unbesiegbarkeit zu entreißen, auf dass er anschließend selbst darin erstrahle.
    Das Sinnliche ist der einzige Sinn
    Melville lässt seinen Erzähler Ismael eine vermutlich zeitlos gültige Therapie gegen Hybris und Sinnkrise überbringen: Der Mensch solle seine Vorstellung vom Glück niedriger hängen und es - Zitat - "weder in der Welt des Verstandes noch im Reich der Fantasie suchen, sondern im Weib, im Herzen, im Bett, an der Tafel, am Kamin, auf dem Land" und so weiter.
    Das Sinnliche ist der einzige Sinn, der im Leben zu finden ist. So könnte man das Credo von Dreyfus und Kelly zusammenfassen. Mehr Wahrheit, mehr Heiligkeit gibt es nicht. Das ist alles, was wir haben. Nur schade, dass diese Erkenntnis nicht im Stil ihres Buches aufleuchtet. Ein Stil, der sich vor allem auf Substantive und schwer beladene Globalbegriffe aus dem Fachjargon der Philosophie stützt, dafür mit Verben eher sparsam umgeht, wirkt wenig elegant. Aber bitte, versuchen Sie darüber hinweg zu sehen. Denn viel wichtiger ist, dass Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly dieses Fass aufgemacht haben: Mit Blick auf die kollektive Niedergeschlagenheit des Westens, kamen die beiden Philosophen zu dem Ergebnis, dass die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung und das technische Zeitalter weder Höhepunkt noch Ende unserer Entwicklung sein dürfen. Es gibt einen Ausweg aus der selbst verschuldeten Armseligkeit, sagen sie. Und "Alles, was leuchtet" ist schon mal ein Wegweiser in die richtige Richtung.
    Hubert Dreyfus / Sean Dorrance Kelly: Alles, was leuchtet. Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Badal. 363 Seiten. Ullstein Verlag Berlin. 19,99 Euro (D), 20,60 Euro (A).