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Klaus Bednarz: Östlich der Sonne. Vom Baikalsee nach Alaska

Es gibt relativ wenige Journalisten in Deutschland, die über den Tellerrand schauen, die die Welt von Ostpreußen bis Tschukotka im Blick haben und es zudem noch verstehen, diese Welt den Menschen auf eindrucksvolle Weise in Wort und Bild nahezubringen. Der Name Klaus Bednarz ist Programm. Und sein jüngstes Buch, gerade acht Wochen auf dem Markt, in den Bestsellerlisten. Es trägt den Titel: "Östlich der Sonne - Vom Baikalsee nach Alaska". "Östlich der Sonne" lag für die russischen Eroberer jener Teil Sibiriens, der sich von der Lena bis zum Pazifik erstreckt. Durch dieses unwirtliche, weitgehend menschenleere Land zogen einst die Ahnen der nordamerikanischen Indianer. Klaus Bednarz ist ihren Spuren gefolgt - nach Tschukotka und weiter über die Beringstraße bis nach Alaska.

Henning von Löwis |
    Henning von Löwis: Ein glutroter Himmel, Wolkenfetzen über einem schwarzen Berggipfel, ein dramatisches Titelbild. Klaus Bednarz, Östlich der Sonne - Vom Baikalsee nach Alaska. Das Titelbild passt ja zum Inhalt: faszinierend, deprimierend. Reden wir über Tschukotka. Was ist das für ein Land - am Ende der russischen Welt? Ist das überhaupt ein Land in unserem Sinne?

    Klaus Bednarz: Es ist der äußerste Nordostzipfel Russlands, das Ende Asiens oder - wie die Russen auch sagen - das Ende der Welt. Von dort hinüber nach Alaska ist es nur etwa an der engsten Stelle der Beringstraße 80 km weit, und diese Region Tschukotka, die heute eine so genannte autonome Republik im Verband der Russischen Föderation ist, ist etwa doppelt so groß wie Deutschland.

    Henning von Löwis: Mit ganz wenigen Menschen.

    Klaus Bednarz: Heute noch mit etwa 60.000 Menschen, von denen 12.000 als Ureinwohner gelten, das heißt, es sind Tschuktschen, und dazu noch einige hundert Eskimos.

    Henning von Löwis: "Armes reiches Tschukotka", haben Sie ein Kapitel Ihres Buches überschrieben. Wie kann ein potentiell so reiches Land so arm sein?

    Klaus Bednarz: Tschukotka ist heute in der Tat die ärmste Region Russlands, die Region mit den größten sozialen Problemen. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer auf Tschukotka beträgt heute etwa 37 Jahre. Das Land ist eigentlich ein reiches Land. An der Küste Tschukotkas gibt es Erdgasvorkommen, Erdölvorkommen, es soll noch andere Bodenschätze geben, es wird von Gold gemunkelt, aber unter der Sowjetregierung war Tschukotka vor allem eins: Es war der exponierteste Vorposten gegenüber Amerika - Amerika, das, wie gesagt, nur 80 km weit entfernt ist. Und Tschukotka wurde ausgebaut zu einer gigantischen Festung. Die ganzen Orte entlang der Küste, entlang der Beringstraße, waren Garnisonen mit vielen Hunderten, zum Teil sogar Tausenden Militärangehörigen. Nun ist die Funktion als Garnison nicht mehr wichtig, weil der Kalte Krieg ist zu Ende, die Amerikaner sind nicht mehr die Todfeinde. d.h., Tschukotka ist militärisch weitgehend bedeutungslos geworden, die Soldaten sind abgezogen, zu einem großen Teil jedenfalls, die Staatsbetriebe, die Kolchosen, haben wie überall in Russland zum großen Teil pleite gemacht, und die gesamten Wirtschaftsstrukturen sind zusammengebrochen. Vor zwei, drei Jahren hat in einigen Dörfern, einigen Eskimodörfern, entlang der Beringstraße in Tschukotka Hunger geherrscht, und die Menschen dort haben uns erzählt, um überhaupt über den Winter zu kommen, hätten sie ihre Schlittenhunde schlachten müssen.

    Henning von Löwis: Klaus Bednarz, wer herrscht über Tschukotka? Der Gouverneur heißt Roman Abramowitsch. Was ist das für ein Mann?

    Klaus Bednarz: Roman Abramowitsch ist ein Mann, der als klassischer Vertreter der neureichen Kaste gilt, einer der Tycoons. Ein junger Mann, heute Mitte 30, der vor zehn, zwölf Jahren in der Umbruchphase Russlands mit merkwürdigen Geschäften im Erdöl- und Erdgasbereich unendlich reich geworden ist. Man spricht davon, dass er ganze Güterzüge von Rohstoffen ins Baltikum verschoben hat zu Anfang der 90er Jahre. Tatsache ist, dass ihm heute einige Fernsehsender gehören, eine riesige Erdölgesellschaft, eine Fluggesellschaft, und er hat von Putin dieses Tschukotka quasi als sein, ja, wie im Mittelalter sein Lehen bekommen. Putin hat ja, als er an die Macht kam, versucht, mit den großen Tycoons Frieden zu schließen. Die, die ihm politisch unbequem waren, hat er materiell kaputt gemacht, hat sie zum Teil zur Emigration ins Ausland gezwungen. Andere, die ihm politisch ungefährlich waren, hat er belohnt, und Abramowitsch hat sich Tschukotka gekauft. Es haben da Wahlen stattgefunden, aber er hat alle Kinder Tschukotkas zum Beispiel im Urlaub, in den Ferien, auf seine Kosten ans Schwarze Meer in Kinderheime bringen lassen, er hat den Fischern kleine Boote geschenkt, er hat die Dörfer mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgt, und auf diese Weise hat er die Stimmen der einheimischen Bevölkerung bekommen, ist zum Gouverneur gewählt worden. Und man geht davon aus, dass er dies natürlich nicht selbstlos getan hat, sondern als eine langfristige Investition, und dass er irgendwann hofft, dass er die Bodenschätze, die in Tschukotka lagern, dann einmal mit seinem großen Firmenimperium an die Erdoberfläche befördert und noch reicher wird, als er ohnehin schon ist. Er ist auch nach Dollarrechnung mehrfacher Millionär.

    Henning von Löwis: Also im Grunde ein Statthalter Moskaus, ein Mann Putins.

    Klaus Bednarz: Zumindest ein Mann, der Putin nicht gefährlich ist, und es wird darüber spekuliert, dass Putin unter anderem auch die Idee hatte, weil Abramowitsch ein junger Mann, ein sehr wendiger Mann ist, dass es ihm auch gelingen wird, wirtschaftliche Kontakte von Tschukotka über die Beringstraße hinüber nach Alaska, nach Amerika, zu knüpfen, auf diese Weise vielleicht auch amerikanisches Kapital und Know-how ins Land zu holen. Also insofern ein für Putin möglicherweise in seiner Erwartungshaltung auch nützlicher Mann.

    Henning von Löwis: Ist Moskau irgendein Bezugspunkt überhaupt für die Menschen Anadyr, in Lawrentija? Interessiert man sich dafür, ob der Zar Jelzin oder Putin heißt?

    Klaus Bednarz: Also in den Dörfern entlang der Beringstraße oder in den Siedlungen, in denen ja früher 3.000, 4.000 Menschen gelebt haben und heute überhaupt nur noch knapp 1.000 im Schnitt leben - Sie sagten gerade Lawrentija, Prowidenija, Orte mit, wie gesagt, früher 4.000 - 5.000 Einwohnern, heute knapp tausend Einwohnern - bleiben vor allem die Einheimischen zurück, die Tschuktschen und, wie gesagt, die wenigen Eskimos. Die meisten Russen aus Tschukotka versuchen das Land zu verlassen, die Region zu verlassen, auch die Ukrainer und Angehörige anderer Nationalitäten. Und die Einheimischen besinnen sich immer mehr auf ihre alten Traditionen, ihre alten Lebensformen. Sie gehen wieder verstärkt auf die Jagd nach Meerestieren, sie jagen Wale, jagen Robben für den Eigenbedarf, um zu überleben. Sie gehen stärker als früher auch in der Taiga auf die Jagd, sie fischen, d.h., sie versuchen, sich so wie ihre Vorfahren aus der Region, aus der Natur, zu ernähren, und das ist vielleicht in absehbarer Zukunft die einzige Überlebenschance für die Menschen dort.

    Henning von Löwis: Spielen die Tschuktschen irgendeine politische Rolle?

    Klaus Bednarz: Sie spielen überhaupt keine Rolle. Tschukotka ist für Russland uninteressant geworden. Es gibt keine Subventionen mehr aus Moskau, sondern ganz im Gegenteil. Moskau versucht, die Russen, die in Tschukotka wohnen, zur Rückkehr nach Zentralrussland zu bewegen, weil es zu teuer ist für Moskau, diese Region noch am Leben zu erhalten. Früher musste man es aus militärischen Gründen, das braucht man heute nicht, und deshalb möchte man diese Region noch mehr entvölkern, als sie ohnehin schon ist, und es gibt diesen Terminus technicus in der russischen politischen Sprache, der besagt, dass so und so viele Ortschaften auf Tschukotka wie auch in anderen Teilen Sibiriens in den nächsten Jahren offiziell liquidiert werden sollen. Das heißt, sie sollen entleert werden von ihren Bewohnern und sollen dann praktisch, ja, zugemacht werden.

    Henning von Löwis: Hat Moskau Sibirien oder diesen Teil von Sibirien, Tschukotka, abgeschrieben? Kann man das sagen?

    Klaus Bednarz: Es sieht so aus, dass Moskau den hohen Norden Sibiriens und den entferntesten Nordosten abgeschrieben hat. Er ist für Moskau uninteressant geworden im Zeichen der Marktwirtschaft. Das rentiert sich nicht mehr, das rechnet sich nicht mehr, diese Regionen mit Kohle, mit Gas, mit Lebensmitteln zu versorgen. Es ist militärisch unbedeutend, und man möchte am liebsten eigentlich diese Siedlungen, die man mal mit großem propagandistischen Aufwand in die Taiga gesetzt hat, schnell wieder loswerden.

    Henning von Löwis: Dann könnte man das ja an Amerika verkaufen - wie früher Alaska...

    Klaus Bednarz: Es gibt in Tschukotka unter den dort lebenden Menschen ein geflügeltes Wort, das besagt: Ach, wäre es schön, wenn uns die Amerikaner kaufen würden.

    Henning von Löwis: Herr Bednarz, vor zehn Jahren gab es einige Ansätze von sibirischem Separatismus. Spürt man heute noch etwas davon?

    Klaus Bednarz: Davon spürt man heute relativ wenig. Am prägnantesten haben es ja die Jakuten versucht, der größte nordsibirische Volksstamm. Das ging soweit, dass man einen großartigen, modernen Flughafen in Jakutsk gebaut hat, und wenn man von Jakutsk nach Moskau fliegen wollte, musste man in den sogenannten internationalen Sektor des Flughafens von Jakutsk. Diese Träume von Autonomie, die sind längst wieder zerschlagen. Einmal sind sie zerschlagen worden, vor allem durch Putin, der doch die Zentralgewalt sehr deutlich gestärkt hat, zum anderen haben sie sich aber selbst zerschlagen, weil die örtliche Nomenklatura gemerkt hat, dass man so viele Probleme in der Region hat, dass man sie als autonome, als wirklich unabhängige Republik überhaupt nicht lösen könnte. Der sibirische Nationalismus, es gibt ihn zwar noch. Man orientiert sich sehr stark Richtung Osten, Richtung Japan, auch Richtung China, auch Richtung Korea, und natürlich versucht man, sich auch Richtung Alaska zu orientieren, aber von einer politischen Autonomie in Sibirien hört man ernsthaft heute nichts mehr.

    Henning von Löwis: Klaus Bednarz, Sibirien, das ist das Land der weiten Horizonte, das ist Natur pur, das ist, wenn man Ihre Bilder anschaut, ein Traumland. Sibirien ist aber auch der schwarze Planet Kolyma, das ist die Straße des Todes. Sie sind unterwegs gewesen auf dieser Straße. Stehen da am Straßenrand irgendwo Kreuze, die an den Gulag erinnern?

    Klaus Bednarz: Diese Straße des Todes, die geht ja vom Fluss Lena 2.200 km quer durch das Ostsibirische Bergland bis zum Stillen Ozean. Sie ist unter Stalin von Häftlingen gebaut. Zehntausende, wahrscheinlich Hunderttausende sind dabei ums Leben gekommen, denn sie mussten diese Trasse mit bloßen Händen und Spaten und Schaufeln und Schubkarren anlegen. Die Toten, die dabei buchstäblich auf der Strecke blieben, wurden einfach ins Straßenbett gelegt, Schotter drauf und fertig. Das heißt, man fährt heute über diese Trasse in dem Bewusstsein, 2.200 Kilometer, 14 Tage, drei Wochen lang fährst du über Knochen. Und das wirklich Bedrückende ist, dass es entlang der gesamten Trasse mit Ausnahme ihres Endpunktes nicht ein einziges Denkmal, nicht einen einzigen Gedenkstein, kein Mahnmal, nicht einmal ein Hinweisschild darauf gibt, dass sich hier oder dort ein Lager befunden hat. Dabei, wenn man über diese Trasse fährt, weiß man, dass jedes Dorf, durch das man kommt, jede Siedlung, in der man vielleicht mal übernachtet, aus einem ehemaligen Lager entstanden ist. Aber es gibt entlang der Trasse nicht einen einzigen Hinweis, nur an ihrem Endpunkt, in dem Hafen Magadan, wo die Häftlingsschiffe ankamen, gibt es ein sehr eindrucksvolles Denkmal des russischen Bildhauers Ernst Neiswestnij, der selbst Häftling auf Kolyma war, und an diesem Denkmal ist unter anderem auch die Häftlingsnummer von Ernst Neiswestnij in Stein gehauen.

    Henning von Löwis: Wird die Vergangenheit bewusst ausgeblendet, verdrängt? Ist das Staatspolitik?

    Klaus Bednarz: Es ist auf der einen Seite Staatspolitik, es ist aber auch etwas, was offensichtlich dem Bedürfnis der Mehrheit der Bevölkerung entgegen kommt. Man möchte nicht mehr daran erinnert werden, obwohl es ja in den meisten Fällen die Geschichte der eigenen Familie ist. Fast alle Menschen, die in dieser Region wohnen, sind Abkömmlinge von Überlebenden des Gulag. Aber man möchte eigentlich die Geschichte vergessen, man ist mit dem Organisieren des täglichen heutigen Überlebenskampfes so beschäftigt, dass man kaum psychische oder physische Energie hat, um sich noch mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Kleine Gruppen gibt es, etwa, die sich konzentrieren in der russischen Gesellschaft Memorial, die sich um Lager kümmert, um überlebende Häftlinge kümmert, aber das Gros der Bevölkerung, das ist mein Eindruck, will auch in Sibirien die Schrecknisse der Stalin-Zeit und des Sowjetregimes aus dem Bewusstsein verdrängen.

    Henning von Löwis: Sibirien - das assoziiert man hierzulande mit Kälte, mit Weite, mit Gulag auch, aber nicht unbedingt mit Kultur. Dabei finden sich in Sibirien ja bemerkenswerte Spuren einer untergegangenen Kultur.

    Klaus Bednarz: Das ist auch etwas, was wir auf unserer Reise gelernt haben, dass dieses Sibirien ganz anders, als man hier in Europa gemeinhin glaubt, keineswegs ein kultur- oder geschichtsloser Raum ist. Wir haben an den Ufern der Lena, dem mächtigsten der ostsibirischen Ströme, an Felswänden Zeichnungen gefunden, die genauso alt sind, die genau die gleichen Motive zeigen, die in der gleichen Technik hergestellt wurden wie die Felszeichnungen in den Höhlen im spanischen Altamira. Wir haben gelernt, dass noch, bevor in Ägypten die Pyramiden gebaut wurden, an der Beringstraße in Tschukotka am Polarmeer eine hochentwickelte Eskimokultur existiert hat, deren Tradition bis heute noch in einzelnen Spurenelementen sichtbar ist, etwa in den Harpunenköpfen, mit denen die Meeresjäger in Tschukotka auf die Jagd nach Walen und Walrössern gehen. Die sind nach einem ganz bestimmten Prinzip konstruiert, wie es schon die Eskimos vor 3000 Jahren da oben getan haben. Vor 3000 Jahren wurden wunderschöne Kunstgegenstände aus Walrosselfenbein geschnitzt, und die Spuren der alten Kultur findet man quer durch Sibirien, und dieses Sibirien war alles andere als ein kultur- und geschichtsloser Raum.

    Henning von Löwis: Klaus Bednarz, vom Baikalsee nach Alaska. Sie waren diesseits und jenseits der Beringstraße unterwegs. Wie nah oder wie fern sind sich die Menschen beiderseits dieser Straße, die ja in Wirklichkeit gar keine ist?

    Klaus Bednarz: Die Eskimos links und rechts der Beringstraße, also die in Russland und die in Alaska, sind stammesverwandt. Sie sprechen zum Teil sogar noch die gleiche Sprache. Allerdings gibt es auch heute noch keine reguläre Verbindung über die Beringstraße hinweg, weder eine reguläre Fluglinie noch eine reguläre Schiffslinie noch irgendeinen Fährverkehr. Das heißt, da ist immer noch eine Art Eiserner Vorhang, obwohl er nicht mehr ganz so massiv ist wie zu Sowjetzeiten. Die Einheimischen auf beiden Seiten haben gewisse Visa-Erleichterungen, es werden auch etwa Waljäger aus Tschukotka eingeladen nach Alaska zu Konferenzen, zu Lehrgängen. Aber wenn Eskimos in Alaska heute ihren Familien auf der anderen Seite der Beringstraße in Russland ein humanitäres Päckchen schicken wollen und es zur Post bringen, dann geht dieses Päckchen mit der Post einmal rund um den Erdball.

    Henning von Löwis: Also da wächst noch nichts zusammen wie hier in Europa?

    Klaus Bednarz: Also, es ist schon etwas zusammen gewachsen im Vergleich zur Sowjetzeit. Es kommen schon hin und wieder kleine private Flugzeuge aus Alaska, die humanitäre Hilfe bringen. Man sieht in den Dörfern auf Tschukotka die Kinder zum Teil sehr gut angezogen mit westlicher Kleidung, mit Baseballkappen, mit Jeans, mit NIKE-Turnschuhen, die alle aus Hilfslieferungen aus Alaska kommen, und man versucht auch, Menschen aus Tschukotka aus den verschiedensten Berufen zur Schulung nach Alaska hinüberzuschicken, aber so diese große Brücke des Friedens und der Verständigung, von der man auf beiden Seiten nach 1990 geträumt hat, diese große Brücke zwischen Alaska und Tschukotka ist bis heute nicht gebaut.

    Henning von Löwis: Klaus Bednarz, Ihre Bilanz nach zehntausend Kilometern östlich der Sonne - eine untergehende Welt, eine Welt hinter dem Mond oder haben Sie Hoffnung für die Völker des Nordens, trotz allem?

    Klaus Bednarz: Eine Welt hinter dem Mond nicht, aber doch eine Welt, die vom Untergang bedroht ist, deren Zukunft ungewiss ist. Die Menschen dort, die noch da bleiben, und das sind die Einheimischen, die Eingeborenen, das sind die Überlebenden der Urbevölkerung, versuchen sich einzurichten, indem sie sich auf die alten Traditionen zurück besinnen. Sie bauen zum Beispiel, weil es kaum noch Benzin gibt, bauen sie inzwischen die Boote, mit denen sie auf Waljagd gehen, wieder selbst aus Walrosshaut. Das haben wir gesehen. Das Problem allerdings ist, dass natürlich diese Völker auch schon viele, viele Jahrzehnte und Jahrhunderte mit der sogenannten Zivilisation gelebt haben, und niemand, der auch in Tschukotka heute lebt, möchte in Zukunft auf Radio, Fernsehen oder Penicillin verzichten. Nur, woher sie das Geld bekommen sollen, um diese Dinge der Zivilisation dann auch für sich besitzen zu können, das ist die große Frage, und das ist auch das Problem bei den Eskimos und den Indianern auf der amerikanischen Seite: Wie werden sie sich in dieser sogenannten modernen Zivilisation zurechtfinden? Und das Problem ist auf der amerikanischen wie auf der russischen Seite gleichermaßen ungelöst, und ich habe große Zweifel, ob die einheimischen Völker in Tschukotka und in Alaska auf Dauer eine Chance haben, zu überleben und dabei noch einen großen Teil ihrer Identität zu bewahren.

    Klaus Bednarz: Östlich der Sonne - Vom Baikalsee nach Alaska. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.

    Mehr über Tschukotka, mehr über die Länder "östlich der Sonne" und die Völker des russischen Nordens erfahren Sie in dem Sammelband "People and the Land - Pathways to Reform in Post-Soviet Siberia", herausgegeben von Erich Kasten, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2002. Die Analysen namhafter Sibirien-Wissenschaftler machen deutlich, was der Untergang der Sowjetunion bedeutet für Regionen wie Tschukotka, Kamtschatka, Sachalin oder die Republik Komi, wie schwer er ist - der Aufbruch zu neuen Horizonten am Ende der russischen Welt.