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Klaus-Dieter Baumgarten / Peter Freitag: Die Grenzen der DDR. Geschichte, Fakten, Hintergründe

Unsere nächste Rezension behandelt zwei Neuerscheinungen zu ein und demselben Themenkreis – aber ihre Perspektive könnte unterschiedlicher nicht sein. Thema ist das DDR-Grenzregime bzw. seine juristische Aufarbeitung in den 90er Jahren. Verfasser des ersten Buches, das in der auf Rechtfertigungsschriften ehemaliger Funktionäre spezialisierten Edition Ost erschienen ist, sind zwei ehemalige hohe Kader der Grenztruppen, das zweite Buch hingegen stammt aus der Feder eines Mannes, der vier Jahre auf seine Ausreise aus der DDR warten musste und seit 1990 die Verfahren gegen ehemalige Grenzsoldaten dokumentiert hat. Karl Wilhelm Fricke rezensiert.

Von Karl Wilhelm Fricke | 08.11.2004
    Posten bereit zur Übernahme des Postenbereiches!’ –
    Mein Dienst beginnt mit diesen Worten.
    Acht Stunden stehe ich nun hier.
    Es fordert Kraft, oft Überwindung.
    Das Unser zu sichern liegt nun bei mir.
    Bereit zu sein in jeder Lage
    fordert täglich neu mein Eid,
    auferlegt an einem Tage,
    als die Erkenntnis in mir noch nicht so weit.
    Doch mit der Einsicht kam das Erkennen.
    Schwer war dies öfter als leicht.
    Illusionen wichen endlich der Einsicht in die Notwendigkeit.
    Die Einsicht in die Notwendigkeit.


    Einsicht in die Notwendigkeit als Rechtfertigung des Grenzposten-Dienstes an Mauer und Stacheldraht - damals, als Deutschland, als Berlin noch geteilt waren. Der Rechtfertigung heute dient ein Buch, das Klaus-Dieter Baumgarten und Peter Freitag herausgegeben haben. Der Titel: "Die Grenzen der DDR" gleicht allerdings einem Etikettenschwindel – thematisiert werden im wesentlichen die DDR-Grenztruppen, ihre Geschichte vom Anfang bis zum Ende des zweiten deutschen Staates. Überraschen kann das nicht bei den Herausgebern – der eine, Baumgarten, war langjähriger Chef der Grenztruppen, der heute gern als Generaloberst a.D. firmiert. Der andere, Freitag, war Oberst und Grenztruppen-Spezialist an der Dresdner Militärakademie "Friedrich Engels". Ihre Edition ist weithin Verklärung, nicht Erklärung. Zitat aus der Einleitung:

    Die Geschichte der Deutschen Grenzpolizei und der Grenztruppen der DDR wurde zumeist von jungen Menschen geschrieben, die in vorderster Linie des Warschauer Vertrages täglich bei Wind und Wetter ihren schweren Dienst versahen und ihre militärische Pflicht erfüllten. Sie taten es in der Überzeugung, ihrem Volk zu dienen und einen Beitrag zu leisten, dass der Kalte Krieg kein heißer wurde.

    Schon diese Sätze sind Legendenbildung, denn in der Hauptsache bezweckte die Grenzsicherung die Eindämmung von Republikflucht. Und was die militärische Pflichterfüllung anbelangt, so lassen die permanente Stasi-Spitzelei unter DDR-Grenzern und die hohe Überläuferquote auf erhebliche Defizite schließen. Beide Herausgeber standen übrigens in den neunziger Jahren wegen ihrer Mitverantwortung für die Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht vor Gericht. Freitag ging straffrei aus, Baumgarten kassierte sechseinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Nach dreieinhalb Jahren Strafvollzug als Freigänger wurde er begnadigt. Ihre Ressentiments - Stichwort Siegerjustiz - haben beide bis heute nicht überwunden:

    Noch 15 Jahre nach einer unblutigen und friedlichen Öffnung der Staatsgrenzen der DDR werden die DDR-Grenztruppen von bundesdeutschen Gerichten als rechtsstaatswidrig diffamiert. Und entgegen den noch von Parlamenten beider deutschen Staaten in Kraft gesetzten Einigungsvertrag erfolgt völkerrechtswidrig ihre juristische Verfolgung. Man nennt sie Mauerschützen und behauptet, ihnen habe das Leben von Menschen nichts bedeutet, sie hätten unmenschlich und verbrecherisch gehandelt und müssten daher strafrechtlich verfolgt werden.

    Abgesehen davon, dass erste strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen tatverdächtige Grenzer bereits von der DDR-Justiz eingeleitet wurden – natürlich nach dem Sturz der SED-Diktatur –, abgesehen davon hat kein bundesdeutsches Gericht die DDR-Grenztruppen jemals pauschal als rechtsstaatswidrig diffamiert, Grundsätzlich ist dazu festzustellen, dass schuldhaftes Handeln von Grenzposten strafrechtlich stets nur im Ergebnis individueller Beweisführung geahndet wurde – zumeist im übrigen mit Bewährungsstrafen. Aber um Sachlichkeit sind die Herausgeber und Autoren des als Sammelband konzipierten Buches nicht sonderlich bemüht.

    In dreizehn Beiträgen handeln ehemalige Generäle und Offiziere der Grenztruppen, Militärhistoriker, frühere Stasi-Offiziere und DDR-Juristen politische, militärische und rechtliche Aspekte der DDR-Grenzsicherung in unterschiedlicher Qualität ab. Ungeachtet der Apologetik, die das Buch von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht, sind manche Darlegungen gleichwohl informativ – etwa: was über die "Grundlagen des Grenzregimes" zu lesen ist oder über die Entwicklung der Grenzschutzorgane in den Jahren 1949 bis 1960 oder über den "Einsatz der Grenzbrigade Küste zur land- und seeseitigen Grenzsicherung an der Ostseeküste". Auch wenn die Texte zumeist in einer Sprache gehalten sind, die an Dienstvorschriften und Lehrmaterialien der DDR-Grenztruppen erinnert, enthalten sie eine Reihe zeitgeschichtlich interessanter Details und Fakten zum Grenzregime. Generell aber stellen sie die historische Wahrheit auf den Kopf, wenn sie der DDR-Grenzsicherung primär die Abwehr potenzieller Gefahren von außen zuschreiben und die repressive Sicherung nach innen leugnen.

    Auch Baumgarten, der selber einen umfangreichen Beitrag beisteuert, bedient dieses Erklärungsmuster aus der SED-Agitation. Er schließt mit folgender Zumutung:

    Die Grenzer der DDR waren Mitgestalter eines Kapitels deutscher Geschichte, auf das sie stolz sein können.

    "Niedriger hängen" kann man da mit einem Wort des Alten Fritz nur sagen. Das Kernproblem war der Schusswaffengebrauch im Postendienst. Baumgarten bestreitet ihn nicht, aber er hält ihn für rechtens. Die Zahlen getöteter Flüchtlinge, die er in diesem Kontext nennt, entsprechen jedoch nicht dem heutigen Forschungsstand. Offen bleibt zudem, wie viele Flüchtlinge den jahrelang an der Grenze verlegten Erdminen oder den am Streckmetallgitterzaun installierten Splitterminen SM 70 zum Opfer fielen. Nein, Herausgeber und Autoren erstreben keine redliche Aufarbeitung. Das belegt auch ein Beitrag mit der Überschrift: "Sie fielen im Kalten Krieg". Horst Liebig, ehemals Oberstleutnant in der Politverwaltung der Grenztruppen, widmet ihn jenen 24 DDR-Grenzern, die im Dienst starben.

    Sie wurden mehrheitlich gemeuchelt von egoistischen Kriminellen und von politischen Wirrköpfen. Diese töteten nicht für eine 'höhere Idee’, für eine abstrakte 'Freiheit’ oder um einem 'Kerker’ zu entkommen. Sie trieb(en) niederste Beweggründe, für die man überall in der Welt Verachtung empfindet. Nicht so in Deutschland. Denn in einem Teil galt (und gilt) noch immer der unausgesprochene Satz: Nur ein toter Kommunist ist ein guter Kommunist.

    So viel Infamie erstickt jede vernünftige Auseinandersetzung. Sie beschädigt auch das Andenken der toten Grenzer, zumal die meisten von Deserteuren aus den eigenen Reihen erschossen wurden. Dass in dem Buch die Todesopfer unter den Flüchtlingen nur anonym Erwähnung finden, gebrandmarkt als so genannte Grenzverletzer, dass also Namen wie Peter Fechter oder Chris Gueffroy unauffindbar sind, demaskiert die Editoren vollends. Nicht zuletzt wegen solcher Geschichtsklitterung sind Bücher in der Art unverzichtbar, wie Roman Grafe eins schrieb. Sein Titel "Deutsche Gerechtigkeit" ist anklagende Ironie. Der Autor legt darin die letztlich unzulängliche Strafverfolgung von Mauerschützen und ihrer Befehlsgeber wegen Tötungsdelikten an den Grenzen der DDR bloß.

    Grafes Buch gliedert sich in drei Teile. Einleitenden Passagen folgt ein Rechercheteil mit Gerichtsberichten, die der Autor mit genauer Datierung in Form eines Prozesstagebuches angelegt hat. Eine Schilderung mörderischer Exzessfälle und Auszüge aus Gerichtsurteilen schließen das Buch ab. Es ist weder eine historische Chronologie noch eine juristische Dokumentation, es ist ein aussagestarkes Zeitdokument eigener Art. Der Autor hat nicht nur Stasi-Akten und Strafurteile ausgewertet, er hat zahlreiche Strafprozesse in Moabiter Gerichtssälen gegen frühere Politbüro-Mitglieder, Grenztruppen-Generäle und einfache Grenzschützen vor Ort verfolgt und seinem Buch die dabei entstandenen Notizen zu Grunde gelegt. So kann er Impressionen aus den Verhandlungen vermitteln, die in ihrer Unmittelbarkeit nachdenklich machen, er fängt viel Atmosphärisches ein, er gibt beklemmende Dialoge wieder, die Hilflosigkeit mancher Richter in den Verhandlungen etwa und die Unverschämtheit mancher Strafverteidiger, zumal jener ehemaligen Stasi-Juristen, die nach dem Umbruch ’89 unverständlicherweise als Rechtsanwälte zugelassen wurden. Auch auf Chris Gueffroys Schicksal geht Grafe ausführlich ein. Den jungen Kellner tötete in der Nacht zum 6. Februar 1989 ein gezielter Schuss aus der Kalaschnikow des Grenzpostens Ingo Heinrich.

    Heinrich hat ein Menschenleben ausgelöscht, nur weil dieser Mensch ohne Genehmigung der Obrigkeit der Land verlassen wollte (...) Der Schuss war kein auf die Füße gezielter Fehlschuss, es war ein Direktschuss auf den Oberkörper. Er kam einer Hinrichtung gleich.

    So die Feststellung eines Richters, die bei Grafe dokumentiert wird.

    Chris Gueffroy war das letzte Todesopfer an der Mauer. Seiner Mutter wurde der Tod erst nach zwei Tagen in Gegenwart zweier Stasi-Offiziere auf kaum fassliche Weise mitgeteilt – nach zweistündiger Vernehmung im Ostberliner Polizeipräsidium. Sie war "zur Klärung eines Sachverhalts" zugeführt worden. Karin Gueffroy:

    ...Ja, und dann kam jemand ’rein, machte ’ne Meldung und sagte zu mir: 'Frau Gueffroy, ich möchte Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn ein Attentat auf eine militärische Einheit gemacht hat. Er ist soeben verstorben.’ Und ich saß da, der eine stand, die zwei saßen da, und ich fang’ an zu schreien und hab’ gesagt: 'Er war erst zwanzig, verdammt noch mal, er hat niemandem ’was getan, und ihr habt ihn einfach erschossen’...

    Einfach erschossen wie Hunderte andere auch. Denn "Grenzverletzer" waren – so die offizielle Vergatterungsformel für Grenzposten im Einsatz – "festzunehmen oder zu vernichten." – Doch zurück zu Roman Grafes Buch. Der Autor, Jahrgang 1968, aufgewachsen in der DDR, Journalist, demonstriert beispielhaft, wie jenseits blutleerer akademischer Monographien die Aufarbeitung von DDR-Vergangenheit auch sein kann: authentisch, eindringlich, fesselnd und manchmal auch ergreifend.

    Karl Wilhelm Fricke über Klaus Dieter Baumgarten und Peter Freitag: "Die Grenzen der DDR. Geschichte, Fakten, Hintergründe". edition ost, Berlin, 448 Seiten zum Preis von 19,90 Euro und Roman Grafe: "Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber". Im Siedler Verlag München, 351 Seiten für 24,90 Euro.