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Klaus Eichner, Gotthold Schramm (Hg.): Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich

Euer Dienst ist die Aufklärung/ Namen bleiben geheim/ Unauffällig die Leistungen/ Stets im Blickfeld der Feind.

Thomas Moser |
    Das so genannte Kundschafterlied. Ein Stück Folklore der DDR-Staatssicherheit. Kundschafter nannte die Stasi diejenigen Leute, die außerhalb der DDR, zum Beispiel in der Bundesrepublik, für sie spionierten. Meist mit dem stilisierten Zusatz Kundschafter des Friedens. Den deutschen Text des Kundschafterliedes formulierte übrigens niemand anderes als der langjährige Chef der Kundschafter: Markus Wolf, Leiter der Auslandsspionage des MfS, der Hauptverwaltung Aufklärung, kurz HVA.

    30 von insgesamt etwa 30.000 West-Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit berichten nun also über ihre konspirative Tätigkeit unter dem Titel: Kundschafter im Westen. Aus-Kundschafter wäre allerdings treffender. Unter ihnen sind bekannte Namen wie die ehemalige Sekretärin des FDP-Politikers Bangemann, Sonja Lüneburg, die eigentlich Johanna Olbricht heißt; der ehemalige Verfassungsschützer Klaus Kuron oder die Ex-BND-Leute Alfred Spuhler und Gabriele Gast. Neben dieser Spion-Prominenz finden sich auch wenig bekannte Leute - wie ein Schlosser, der im bundesdeutschen Regierungsbunker in Marienthal beschäftigt war. Nicht alle waren ursprünglich Bundesbürger, einige kamen aus der DDR und wurden in die Bundesrepublik eingeschleust. Eine Handvoll gibt ihre Identität immer noch nicht preis und schreibt unter Decknamen.

    Was die Aus-Kundschafter von ihrer geheimdienstlichen Tätigkeit im vorliegenden Band tatsächlich offenlegen, ist allerdings mehr als dürftig. Die Preisgabe von MfS-Interna gilt bei ihnen nach wie vor als Verrat. Und Verrat verurteilen die beiden ehemaligen Chefs der HVA, Markus Wolf und Werner Großmann, bis heute aufs Schärfste. Schriftlich, im Vorwort des Buches, wie mündlich. O-Ton Großmann:

    Also ich persönlich, und da bin ich nicht allein, habe zu Verrätern die Meinung, dass man sie nur auf das Tiefste verachten kann.

    Alle, die das Buch versammelt, sind und bleiben treue IM, also verraten sie uns nicht wirklich etwas. Bemerkenswerterweise auch über ihre Ausforschungen im Westen nicht so richtig. Das Ehepaar Doris und George Pumphrey beispielsweise, das die westeuropäische Friedensbewegung und die Bundestagsfraktion der Grünen bespitzelte, beendet seinen Beitrag ausgerechnet mit der Kontaktaufnahme zum MfS, also genau da, wo es eigentlich interessant würde.

    Immerhin erfährt man in einem Aufsatz etwas über die geheimdienstliche Methode des Anwerbens und Führens unter fremder Flagge. Das MfS trat dabei als westliche Institution oder gar westlicher Geheimdienst auf und brachte Leute dazu, für diese Institutionen zu arbeiten, tatsächlich und unerkannt aber für die HVA. Im vorliegenden Fall ging das 25 Jahre so, ohne dass der Bundesbürger gemerkt hat, wofür er missbraucht wurde. Etwa vier Prozent aller West-IM wurden unter fremder Flagge geführt. Nebenbei bemerkt, eine Methode, die auch bei westlichen Geheimdiensten gepflegt wird und die eine bislang ungeklärte Schnittstelle zwischen HVA und BND darstellt.

    Breiten Raum nehmen dagegen die Schilderungen zur Frage ein, warum die Einzelnen mit dem DDR-Geheimdienst zusammenarbeiteten. Die alltäglichen Beweggründe Geld, Anerkennung, Macht werden dabei nicht genannt, vielmehr erklären die meisten IM, politische Überzeugungstäter gewesen zu sein. Dennoch finden sich durchaus ernstzunehmende biografische Verhängnisse, bei denen Faschismus, Krieg, Jüdischsein oder Familientraditionen eine Rolle spielten. Oder: Jemand wurde HVA-Agent, obwohl sein Vater in den berüchtigten Waldheimer Prozessen wegen Agitation gegen den Kommunismus zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, die er in Bautzen absitzen musste. Das ist schwer zu verstehen – und man fragt sich: Obwohl oder vielleicht gerade weil der Vater SED-Opfer war? Verirrte Versöhnungsbemühungen mit den Tätern? Während der Vater in Haft saß, siedelte die Mutter in den Westen über, und der Sohn folgte als HVA-Kundschafter. Was aus dem Vater später wurde, schreibt der Verfasser leider nicht. Ein anderer IM wurde als 17-Jähriger von seinem Vater für die HVA rekrutiert, für die auch der als IM arbeitete. Unglaublich naiv hört sich dagegen die Sicht des Ehepaars Pumphrey an, das in die DDR übersiedeln wollte, dann aber im Westen blieb und für die HVA arbeitete. Zitat Doris Pumphrey:

    Während des Fluges nach Berlin sah man deutlich, dass man über zwei verschiedene Länder flog. Sie sahen auch von ganz oben anders aus. Die Bundesrepublik wirkte schrecklich kleinkariert: die Felder waren klein. Die Felder in der DDR erschienen großzügig.

    Tatsächliche oder gespielte Naivität?

    Herr Wolf! Herr Wolf!... – Können Sie hierher...! – Mit den Büchern!.

    Ende August in Berlin: Vorstellung des Buches. Ein Medienereignis, eine Inszenierung, Auftritt des alten Stasi-Adels. Die Spionage-Chefs, Wolf und Großmann, vorne am Podium; der letzte Chef der ganzen DDR-Staatssicherheit, Wolfgang Schwanitz, im hundertköpfigen Publikum, vor allem Buchen plus Anhang. Ein HeIMspiel, das zu demonstrativen Erklärungen verleitet. Einer der beiden Herausgeber, Gotthold Schramm, einst selber HVA-Offizier mit Dienstgrad Oberst:

    Im Buch kommen Persönlichkeiten zu Wort, die höchste Wertschätzung verdienen. Sie sind unvergleichbar mit Agenten westlicher Dienste. Sie beweisen menschliche Größe und Würde, auch in den vielen Jahren der Haft.

    Dann Werner Großmann:

    Wer ernsthaft die Wahrheit über unsere Tätigkeit und die beteiligten Personen sucht, findet sie hier im Buch. Ich bin glücklich und froh, mit solch integren Menschen über Jahrzehnte in engem beruflichen und auch freundschaftlichen Kontakt gestanden zu haben. Ich schätze ihre Leistungen und ihre menschliche und moralische Stärke.

    Und Markus Wolf:

    Ich meine schon, dass mit dem Wort IM, Spitzelei, Stasi die Tätigkeit von Menschen also sofort in eine Ecke gerückt wird, in der sie von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, dass das eigentlich eine überholte Vorgehensweise aus der Zeit des Kalten Krieges ist. Und ich möchte eigentlich hoffen, dass dieses Buch, auch der Inhalt dieses Buches, mit dazu beiträgt, aus dieser Totschlagargumentation herauszukommen.
    Hier wurde Politik gemacht und weniger Aufklärung geleistet. - Einen unerwarteten Erkenntnisgewinn hat das Buch Kundschafter im Westen dann aber doch. Es ist der, dass es eine politische Ebene zwischen der DDR und der Bundesrepublik gab, die wichtiger sein konnte als die geheimdienstliche, der die geheimdienstliche untergeordnet war. So liest man, dass die Bangemann-Sekretärin Sonja Lüneburg Mitte der 80er Jahre von ihrer Spionagetätigkeit abgezogen wurde, obwohl die Gefahr, enttarnt zu werden, eigentlich gering war. Doch die DDR-Verantwortlichen wollten keine Verschlechterung der Beziehung zur Regierung von Helmut Kohl riskieren, die ihr schließlich gerade zwei Milliardenkredite besorgt hatte.

    Eine Art Kronzeuge für die einvernehmliche deutsch-deutsche Zusammenarbeit hinter den Kulissen ist der ehemalige CDU-Abgeordnete in der Hamburger Bürgerschaft, Gerd Löffler, der für die Militäraufklärung der NVA arbeitete. Löffler erinnert nicht nur an offizielle Deals mit der SED, wie das Entsorgen des giftigen Elbeschlamms auf der DDR-Deponie Schönberg, sondern berichtet auch über inoffizielle Treffen der Hamburger CDU mit DDR-Vertretern. Dabei sei über Technologietransfers genauso gesprochen worden wie über interne Hamburger Probleme und Konflikte zwischen SPD und CDU. Zitat Löffler:

    Die DDR hat dabei mehr erfahren als von mir in 16 Jahren. Mir verschlug es fast die Sprache.

    Man kann Löffler das alles glauben, zumal es noch mehr Belege für solche, heute tabuisierte, Ost-West-Kontakte gibt. Trotzdem verliert seine Aussage, weil sie eben von einem früheren Mitarbeiter der Stasi kommt, an Wert und erleichtert den anderen Beteiligten, sich mit ihr nicht auseinandersetzen zu müssen.

    Ein anderes Beispiel, wie eine geheime Tätigkeit für die DDR auch das persönliche und berufliche Verhalten mitprägte, ist der ehemalige Leiter der Kölner Journalistenschule, Heinz Stuckmann, der 15 Jahre lang mit der HVA zusammenarbeitete. In seinem Text jammert er fast ausschließlich über seine Verhaftung Mitte der 90er Jahre und den Prozess, der ihm dann, neben drei Monaten U-Haft, lediglich ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung einbrachte. Nicht im Buch steht, woran sich ein ehemaliger Journalistenschüler von Stuckmann erinnert. Mitte der 80er Jahre hatte der einen Artikel über Basiskontakte von Friedensgruppen in West- und Ostdeutschland verfasst. Stuckmann störte das und ließ den Artikel immer wieder umschreiben, insgesamt vielleicht fünfzehn Mal. Die Auseinandersetzung nahm kein Ende, entnervt verließ der Schüler schließlich die Schule, der Artikel erschien nie. Politisches Mobbing könnte man heute dazu sagen.

    Ein letztes Beispiel: Neben Kanzleramtsspion Günter Guillaume war Klaus von Raussendorff eine der höchsten Quellen im Staatsapparat der Bundesrepublik. Er arbeitete über 30 Jahre lang verdeckt für die Stasi, brachte es bis zum Botschaftsrat im Auswärtigen Dienst und wurde erst mit dem Ende der DDR im Frühjahr 1990 enttarnt. Raussendorff steuert im Rückblick nun einen interessanten Gedanken bei. Denn, so wörtlich:

    Nicht nur meine Spionagetätigkeit für die DDR, auch meine Tätigkeit im Dienst der BRD ist eine Tatsache, die nicht ungeschehen zu machen ist.

    Was soviel heißt wie: Raussendorff hat auch für die Bundesrepublik funktioniert. Er musste, schon aus Gründen der Tarnung, BRD-Interessen vertreten und ihre Politik mittragen. Seine Tätigkeit für die DDR wurde dadurch vielleicht nicht unbedingt neutralisiert, aber doch zumindest relativiert. Und das wiederum zeigt ein Stück weit die Sinnlosigkeit von Doppelagententum.

    Thomas Moser über: Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich. Herausgegeben in der edition ost Berlin, 380 Seiten zum Preis von 17 Euro und 50 Cent.