...Kontrollücke zwischen Schulbank und Kasernentor zu allerlei Aufsässigkeiten nutzte,
...wurde die Jugendforschung aus der Taufe gehoben, die sich zur Jahrhundertwende im Wesentlichen fragte,
...wie die Zuchtlosen in Zucht genommen, der überschäumende Becher des aufbrausenden Unmuts ausgegossen, die Grenzen einer übermäßigen Freiheit eingedämmt werden könnten.
Klaus Farins Buch ist mehr als ein Exkurs über Jugendkulturen. Am Anfang des Projektes stand die Idee, eine Theorie der Jugendkultur zu verfassen. Diesen Gedanken hat der Autor während der Arbeit zu dem Buch fallen gelassen, ebenso wie den Anspruch auf Vollständigkeit und streng wissenschaftliche Objektivität. Farin verhehlt seinen persönlich eingeschränkten Blick auf das Objekt der Forschung nicht und verteidigt seine Haltung.
Wissenschaftler machen das immer. Sie verschweigen es nur. Aber das ist ein alter Standard, dass ein Großteil gerade der Jugendforschung eigentlich das herauskriegt, was die Forscher herauskriegen wollen. Das wird manchmal intern kritisch gesehen, aber wenn man eine Studie öffentlich präsentiert, wirft man meistens mit Vokabeln um sich wie "repräsentativ" und et cetera: Das stimmt in den meisten Fällen nicht.
Was Farin von anderen Jugendkulturforschern unterscheidet, ist, dass er selbst aus einem dieser Milieus stammt und den engen Kontakt zu Jugendlichen nie aufgegeben hat. Der Vorzug an seinem Buch ist daher, dass es ihm gelungen ist, unmittelbar und ohne den distanzierten Blick des Sozialforschers über die Jugendlichen zu schreiben. Es enthält zahlreiche Interviews mit Vertretern der unterschiedlichen Jugendkulturen, die durch ungewöhnliche Authentizität auffallen. Dies steht Mängeln in Systematik und Methodik gegenüber. Ganze Kapitel sind aus anderen Werken entlehnt. Eine echte Schlussbetrachtung fehlt.
Klaus Farin: Es gibt einfach nicht 'Die Jugend'. Es gibt tausend Widersprüche, unterschiedliche Entwicklungen, unterschiedliche soziale, geschlechtliche, ethnische Bedingungen und, und, und... Es ist heute eigentlich nicht mehr machbar, die Theorie der Jugend oder Jugendsubkultur zu entwickeln.
Was bleibt, ist eine Bestandsaufnahme. Farins Überblick beginnt bei der Wandervogelbewegung der Jahrhundertwende und führt über die Wilden Cliquen der zwanziger Jahre, die Halbstarken der fünfziger und die Rocker und Hippies der sechziger und siebziger Jahre bis zu den wichtigsten Jugendkulturen der Gegenwart. Von diesen werden zum Beispiel die Hip Hopper, die Skinheads, die schwarz gewandeten Gothics, die Hooligans und Fußballfans, die fundamentalistisch-christlichen Jesus-Freaks und nicht zuletzt die Neonazis gesondert unter die Lupe genommen. Dabei tritt zu Tage, dass sich insbesondere die Art und Weise, wie Erwachsene empört auf Jugendbewegungen reagieren, seit über 100 Jahren stetig wiederholt. Farin berichtet über eine überraschende Wesensverwandtschaft zwischen Jugendkulturen unterschiedlicher Epochen. Berichte über Partys aus den wilden Cliquen der zwanziger Jahren könnten wortgleich auf die Techno-Szene der neunziger Jahre gemünzt sein. Wenn auch die äußeren Formen changieren, besteht der Kern der Jugendkulturen doch aus dem von Moden unabhängigen Wunsch, eine Mikrogesellschaft mit eigenen Regeln zu erschaffen.
Jugendliche sind schon ganz bewusst häufig artificial tribes', also künstliche Stämme. Es gibt ein eigenes Stammesleben, eigene Kultur, Tanz, Musik, Sport, mit eigenen Symbolen und Zeichen, die gleichaltrige verstehen sollen, aber Erwachsene vielleicht gar nicht.
Dies war schon immer so, weshalb Farin den ethnographischen Blick auf die Jugendkulturen für angebrachter hält als den pädagogischen. Typisch für die heutige Gesellschaft ist indes, dass die Erwachsenenwelt nicht mehr so leicht wie früher auf Provokationen reagiert.
Wo kann man heute noch mit bunten Haaren besonders viel Aufsehen erregen? Vor zwanzig Jahren haben schon lange Haare gereicht. Insofern muss jede Generation irgendwas Schrilleres draufsetzen. Und da ja viele Eltern heutzutage auch jugendlich sein wollen - auch das unterscheidet sie ja noch mal von früheren Generationen - ist dieser kulturelle Bruch nicht mehr so stark. Die meisten Eltern heute sind rocksozialisiert. Manche sogar schon mit Techno aufgewachsen. Das heißt: Auch da wird's schwieriger für Jugendliche, eigene Freiräume zu erobern. Es ist ja nicht unbedingt ein Vergnügen, wenn ein jugendlicher Techno-Fan abends von seiner Mutter oder seinem Vater gefragt wird: Wo gehst du hin? - Zu 'ner Techno-Party, ach Klasse, da komm ich mit. Oder wenn der Lehrer morgens in der Schule das gleiche T-Shirt an hat wie die Schüler.
Ein weiterer Unterschied heutiger Jugendkulturen zu früheren ist die Dominanz des Spaßfaktors.
Jugendliche suchen bei allem, was sie machen, erst mal Sinn und Spaß. Das war schon immer so, allerdings frühere Generationen hatten immer noch so was wie Pflichtbewusstsein: Man muss ja bestimmte Dinge machen, man muss sich engagieren und so weiter. Das ist heute nicht mehr so vertreten, weil es funktioniert natürlich nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn es zum Beispiel möglich ist, langfristig zu planen, dann macht es Sinn, ganz pflichtbewusst, sich langfristig zu engagieren.
Da nach Farin heute weder Arbeits- noch Wohnungsmarkt eine langfristige Perspektive zulassen, setzen Jugendliche diese Erkenntnis auch im Freizeitbereich um: Sie suchen nach schneller Befriedigung, nach dem Kick, der dem Buch in ironischer Anspielung auf die mittlerweile inflationäre Postulierung von angeblichen Generationen - Generation X, Golf, Berlin und so weiter - den Namen gegeben hat: Generation kick.de.
Kick hat natürlich noch ne andere Ebene, auch die Bedeutung von Körper und Körperlichkeit. Ein Großteil der Jugendkulturen, und das wird häufig auch ignoriert, zeichnet sich durch den exzessiven Umgang mit dem Körper aus: Spüren, dass man noch lebt. Daher kommt ja z. B. ein Großteil der Faszination für diese ganzen Grenzsportarten, Extremsportarten, Fun-Sportarten, auch bei Hooligans ist es so.
Besondere Beachtung verdient Farins Kapitel über die Neonazis. Hier kommt seine genaue Kenntnis der Szene zum Tragen, die er insbesondere in Ostdeutschland seit Anfang der neunziger Jahre beobachtet. Farins Schlüsse sind in diesem Punkte einfach und keinesfalls neu: Die Gesellschaft selbst sei es, die mit offen geäußerter Fremdenfeindlichkeit und dem Gerede um die Leitkultur das Klima schaffe, in dem jugendliche Rechtsradikale gewalttätig würden, ohne dass sie dies als Unrecht empfänden. Die Medien spielten dabei eine fatale Rolle:
Keine andere Jugendkultur erreichen in den letzen zwölf Jahren eine so hohe öffentliche Aufmerksamkeit wie die Rechtsextremen. Postpubertäre Pickelknaben bramarbasierten zur besten Sendezeit in ungelenkem Deutsch über ihre Strategien zur 'Endlösung des Ausländerproblems'; Amateurmusiker, die noch nicht einmal gelernt hatten, ihre Gitarren zu stimmen, durften Spiegel-Redakteuren die Welt erklären.
So ist es, glaubt man Klaus Farin, kein Wunder, dass sich Jugendliche als Erfüllungsgehilfen einer tief ausländerfeindlichen Bevölkerung sehen. Und die Gesellschaft macht es sich zu einfach, wenn sie für Probleme, die sie in der Erwachsenenwelt nicht lösen kann, allein die Jugendlichen verantwortlich machen will. Und dies gilt nicht nur für die Neonazis, sondern für den Umgang mit Jugendkulturen insgesamt.
Klaus Farins "Generation Kick.de" ist im C. H. Beck-Verlag erschienen, hat 210 Seiten und kostet 19,90 Mark. Unser Rezensent war Andreas Baum.