"Wenn ein Volk die Feindschaft zu einem anderen überwinden will, muss es dessen Geschichte kennen." Diese Worte des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Rabin sind der Ausgangspunkt des Buches von Klaus Hemmo. Die aktuellen Konflikte und Völkerfeindschaften in Südosteuropa sind sein Thema, doch dabei interessieren ihn weniger die letzten aktuellen Selbstmordanschläge und jeweils neuesten Superlative des Schreckens. Im Mittelpunkt stehen für ihn vielmehr die tiefer liegenden Ursachen dieser Konflikte. Denn, so Hemmo:
Auf die wird oft gar nicht oder nur sehr allgemein eingegangen, aber da die Ursachen von Gewalt ja stets weit vor ihrem Ausbruch entstehen, [...] muss man sich die Geschichte der Völker in den Konfliktregionen ansehen, vor allem die Abschnitte, in denen es zu den Demütigungen und Verletzungen gekommen ist, die als Wunden bis heute schmerzen, und aus denen natürlich Wut und Feindschaft bis heute wuchern.
Hemmo begibt sich auf Spurensuche zu den Wurzeln jener Konflikte, die bis heute zwischen den Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches schwelen - auf dem Balkan, im Nahen Osten, zwischen Türken, Griechen, Kurden und Armeniern, ebenso wie in Georgien und Tschetschenien. Jede Einzelschilderung geht er von einer anderen Erzählperspektive an. Mal folgt er dem Schicksal einer Einzelperson, mal der generellen Politik von mitunter beteiligten Großmächten. Nach und nach setzen sich die Schilderungen wie Mosaiksteinchen zu einem größeren Bild zusammen, Parallelen werden deutlich. Hemmo konstatiert dabei für alle Konflikte ähnliche Hauptursachen:
Das sind die Großmachtpolitik der Staaten des alten Europa, die die Interessen der kleineren Völker missachtete, weiter der ethnische Nationalismus, der oft in einen militanten Chauvinimus umgeschlagen ist, und der religiöses Fanatismus, der besonders verheerende Auswirkungen überall dort hat, wo es keine oder zumindest keine konsequente Teilung von Staat und Religion gibt, bzw. die Religion die Politik stark beeinflusst oder in sie eingreift.
Ein Beispiel dafür ist der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern, dessen Anfänge maßgeblich von britischer Großmachtpolitik zur Zeit des ersten Weltkriegs mitgeprägt wurden.
London begann damals, sich in Palästina zu engagieren, um die osmanischen Herrscher aus der Region zu vertreiben. Das Interesse der Briten richtete sich dabei zunächst auf die arabischen Stämme der Gegend: Diese sollten die britische Armee im Kampf gegen die Osmanen unterstützen. Als Lohn stellte ihnen London ein eigenes, unabhängiges Königreich in Aussicht. Jedoch verfolgten die Briten zugleich noch ein zweites Interesse: Sie wollten die Gunst der jüdischen Zionisten gewinnen, die schon seit einigen Jahrzehnten in das Land einwanderten:
"Zum einen wollte man die große und einflussreiche jüdische Gemeinschaft in den USA für die noch stärkere Beteiligung dieses Landes ... an den Kriegsanstrengungen mobilisieren. Zum anderen sollten die russischen Juden motiviert werden, das drohende Ausscheiden Russlands aus dem Krieg nach der .... Revolution verhindern zu helfen. Und last not least wollte sich London als Schutz- oder Garantiemacht für eine jüdische Heimstätte in Palästina die Kontrolle über dieses Land sichern, dessen strategische Bedeutung nach der Inbetriebnahme des Suez-Kanals stark gestiegen war."
Den Zionisten stellte London eine "Heimstätte" in Aussicht, den Arabern ein unabhängiges arabisches Königreich. Versprechungen, die sich in ihrer Konsequenz letztendlich gegenseitig ausschließen mußten. Trotzdem sahen sich Palästinenser und Juden noch nicht als Feinde und schlossen anläßlich der Friedensverhandlungen zum ersten Weltkrieg sogar ein Freundschaftsabkommen. Dennoch begann die Situation in Palästina, sich zu verschärfen: Immer mehr zionistische Einwanderer strömten mit britischer Unterstützung ins Land, kauften Boden, und errichteten Siedlungen neuen Typs: Die Kibbuzim, Genossenschaften zur kollektiven Bodenbearbeitung.
Die genossenschaftliche Bodenbewirtschaftung schloss arabische Lohnarbeit aus. Auf die waren die durch den Verkauf der Ländereien ... arbeitslos gewordenen Pächter jedoch angewiesen. Wenn sie nicht verhungern wollten, mussten sie die Kibbuzim-Gebiete verlassen. Allein im Jesreel-Tal östlich von Haifa verschwanden durch den Landaufkauf 21 arabische Dörfer.
Parallel zur Zunahme der jüdischen Einwanderung stieg somit die Arbeitslosigkeit unter den Arabern. Die westliche Gedankenwelt der Zionisten wurde von den Palästinensern immer stärker als verstörend und beängstigend wahrgenommen. In Demonstrationen forderten sie von London ein Ende der Einwanderung und - weiterhin - einen eigenen arabischer Staat. Die Demonstrationen blieben unerhört, die Situation eskalierte.
"Im Februar 1920 überfielen dann zum ersten Mal arabische Palästinenser Siedlungen jüdischer Kolonisten. Bei der Verteidigung der Siedlung Tel Chai fielen acht Kolonisten. Im April schließlich kam es in Jerusalem zu blutigen Unruhen, die jedoch von britischen Truppen ... schnell niedergeschlagen wurden. "
Doch der Zorn der Araber richtete sich nicht gegen die Briten, sondern die Juden, denn:
Nicht die Mandatsmacht, den Verursacher ihrer misslichen Lage, hatten sie im Alltag immer wieder vor ihren Augen, sondern die Juden. Und der Aufbau einer nach zionistischen Idealen gestalteten jüdischen Gesellschaft griff direkt in ihr Leben ein. "
Araber und Juden nahmen einander nun als Bedrohung war. Beide Volksgruppen forderten weiterhin für sich die Herrschaft über das Land, beide wollten ihren eigenen Staat errichten. Leere Versprechungen der Großmacht hatten nationale Chauvinismen angeheizt. Die religiösen Führer nutzten nun die Gunst der Stunde und erhoben die heiligen Stätten in Jerusalem je zum Symbol ihrer Bewegung:
"Diese Fixierung der Auseinandersetzung auf die heiligen Stätten ermöglichte es einerseits den Zionisten, den Kampf um Palästina als religionsbedingt darzustellen und andererseits der arabischen Führung die Wut der Massen gegen die Juden als Juden zu lenken, und nicht nur gegen den Zionismus und dessen britischen Schutzpatron."
An unter Anderem dieser Stelle gelingt es Hemmo, im Wirkungsgefüge der Krise Parallelen zu anderen Schauplätzen aufzuzeigen. So begann z.B. auch die Feindschaft von Serben und Albanern einst durch den hinzutretenden Einfluss einer Großmacht:
Das expandierende osmanische Reich hatte in der Schlacht auf dem Amselfeld die Serben besiegt, diese verließen nun die Gegend. Albaner aus den umliegenden Gebirgen rückten in ihre Dörfer nach und begannen schon bald, den muslimischen Glauben der Eroberer anzunehmen. Die wenigen zurückgebliebenen christlichen Serben fanden sich schnell am Rande der Gesellschaft wieder:
Die Osmanen verhinderten die Entstehung einer christlichen Oberschicht. Aber bei den im Kosovo verbliebenen Serben sorgten die Priester, die Popen dafür, dass die nationale Sprache und Kultur erhalten blieben. Das führte dazu, dass fortan religiöses Bekenntnis und Nationalbewusstsein identisch waren. Die Religionsunterschiede verschärften noch die Spannungen, für die der völkische Nationalismus ohnehin sorgte.
Im Kosovo wie in Palästina war aus einem Gemisch von Großmachtpolitik, religiösem Eifer und Fanatismus sowie von ethnischen Nationalismen eine Völkerfeindschaft entstanden, die heute noch die Weltöffentlichkeit beschäftigt. Parallelen, die Hemmo auch für andere Konflikte aufzeigt und mit denen er diese begreifbarer macht.
Mit "Warum sie Feinde wurden" ist ihm ein komplexes, interessantes, gut lesbares und spannendes Buch zu den Hintergründen vieler aktueller Völkerfeindschaften gelungen. Gerade die häufigen Perspektivwechsel ermöglichen es ihm, ein sehr dichtes Bild der Problemlage zu zeichnen. Durch diese Tiefe der Darstellung hebt sich das Buch ab von der oberflächlichen Medienberichterstattung über neueste Selbstmordanschläge und allerneueste Gräueltaten. Hemmo setzt so mit seinem lesenswerten Buch ein Mahnzeichen, die Ursachen und Hintergründe dieser Konflikte nicht aus den Augen zu verlieren.
Es wird kein Ende des Menschenleben verachtenden Terrors geben, solange der Hass zwischen den Völkern nicht besiegt ist, solange sich ohnmächtige Wut in blutigen Explosionen manifestiert. Deshalb ist es wichtig, die Ursachen zu benennen und nach und nach zu beseitigen.
Stefan Saerbeck über Klaus Hemmo: Warum sie Feinde wurden. Völkerhass vom Balkan bis zum Nahen Osten. Veröffentlicht im Patmos Verlag Düsseldorf, Umfang: 287 Seiten, Preis: 19 Euro und 90 Cent.