Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit. Bilanz des Vereinigungsprozesses der letzten zehn Jahre.

10 Jahre deutsche Einheit sind natürlich ein Anlass, auf den auch der Buchmarkt reagiert. Eine Fülle von Bilanzen und Zwischenbilanzen überschwemmt derzeit das Sortiment - politische, soziologische, kulturelle und wirtschaftliche. Eine besonders interessante Bilanz der Entwicklung deutschen Seins und Bewusstseins im vergangenen Jahrzehnt ist "Der Preis der Einheit". Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat lässt darin nicht nur die wichtigsten Ereignisse der letzten zehn Jahre Revue passieren, sondern unterlegt sie mit Statistiken und Stimmungsbildern aus Ost und West. Und das Ergebnis ist für einige Überraschungen gut. Udo Scheer hat das Buch für sie gelesen und mit dem Autor gesprochen.

Udo Scheer | 02.10.2000
    Viereinhalb Jahrzehnte drifteten der Westen und der Osten Deutschlands auseinander. Hier entwickelte sich demokratischer Pluralismus, da dogmatischer Zentralismus. Hier beflügelte der Wettstreit der Ideen, da zügelte das Erkenntnismonopol. Hier entfaltete sich eine sozial orientierte Marktwirtschaft, da verschliss sich die Planwirtschaft selbst. Hier genossen die Bürger beinahe stetig wachsenden Wohlstand, da verkamen Lebensentwürfe in Stagnation und Agonie. Deutschland schien bis in eine ferne Zukunft unvereinbar. - Bis die Bürger der DDR 1989 unerwartet ihre einmalige, friedliche Revolution vollbrachten. Mit dieser "Kerzenrevolution" und mit dem Bekenntnis zur Einheit sollte allen Deutschen eine Sternstunde der Weltgeschichte zuteil werden. Doch diese Erinnerung ist inzwischen von Missstimmungen getrübt.

    Bevor Klaus Schroeder die heutige Stimmungslage in Ost und West unter die Lupe nimmt, führt er seine Leser noch einmal durch die 40-jährige deutsche Teilungsgeschichte. Aus einer bisher so noch nicht zu lesenden Perspektive der Draufsicht stellt er auf 100 Seiten die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR gegenüber.

    Mit dem heutigen Wissensstand ist es schwer verständlich, wie konsequent die westdeutsche Politik, die Wissenschaft und die Medienöffentlichkeit noch 1989 die Augen vor der Krise in der DDR verschloss. Der Autor spricht den Grund deutlich aus: Die Mehrheit der Westdeutschen war sich selbst genug. 1989 haben sie den Ostdeutschen die Wiedervereinigung gegönnt, aber nicht auf ihre Kosten. Nach der Euphorie des Mauerfalls kam auf beiden Seiten Katerstimmung auf. Klaus Schroeder meint dazu:

    Klaus Schroeder: "Es gab eine Fehleinschätzung der ostdeutschen Wirtschaft in Westdeutschland. Man war davon ausgegangen, oder zumindest hat man dies verkündet, dass die Produktivität und die Wirtschaftskraft ungefähr bei der Hälfte, minimal bei 40 Prozent der westdeutschen liegen würde. Dies entsprach nicht den Tatsachen. Wirtschaftshistoriker haben nun festgestellt, dass die Produktivität erheblich niedriger lag. So wurden von vorn herein die Kosten der Vereinigung unterschätzt. Und da man den konsumorientierten Vereinigungsweg gewählt hat, sowohl seitens der Regierung als auch der ostdeutschen Bevölkerung, - das ist ja auf Zustimmung gestoßen - entstand ein Missverhältnis."

    Klaus Schroeder zitiert Wirtschaftshistoriker, die die Arbeitsproduktivität in der DDR - verglichen mit der Bundesrepublik - mit 13 bis 30 Prozent je Erwerbstätigenstunde ansetzen. Eine gewisse Skepsis gegenüber Statistiken ist immer angebracht. Doch der Autor nennt Beispiele, die für sich sprechen. So arbeitete Mitte der 80er Jahre ein in der DDR Beschäftigter im Durchschnitt 24 Stunden für ein Paar Herrenlederschuhe, ein Bundesbürger 5,5 Stunden. Für einen Farbfernseher lag der Aufwand bei sechs bzw. zwei Monaten. Die Miete für eine Zwei-Zimmer-Neubauwohnung schlug in der DDR mit 13,5 in der Bundesrepublik mit 30 Arbeitsstunden zu Buche. Allein durch Vollbeschäftigung der meisten Frauen und durch höhere Wochenarbeitszeit erreichten DDR-Haushalte eine Kaufkraft, die bei etwa 50 Prozent bundesdeutscher Haushalte lag. Das Wohlstandsniveau in der DDR Ende der 80er Jahre vergleicht Schroeder mit dem in der Bundesrepublik Mitte der 50er Jahre. In zehn Jahren hat das individuelle Wohlstandsniveau einen phänomenalen Sprung gemacht. Ostdeutsche verfügen nach Schroeder heute über einen durchschnittlichen Lebensstandard wie die Westdeutschen 1992, wobei der Angleich der unteren und mittleren sozialen Schichten nahezu abgeschlossen ist.

    Klaus Schroeder: "Es bedeutet, dass große Teile der Transfers von West nach Ost vornehmlich in den Konsumbereich gehen, in die subventionierten Löhne, in die Renten, in diesen gesamten Bereich. Dagegen sind die Investitionen, die eigentlich notwendig gewesen wären, um den Wirtschaftsstandort sehr schnell zu stabilisieren, in den ersten Jahren relativ zurückgeblieben. Das ist aus meiner Sicht ökonomisch ein Fehler. Die Regierung war der Meinung, man müsse dies so tun, um der ostdeutschen Bevölkerung entgegen zu kommen. Und es hat sich ja auch, wenn man es wahlpolitisch sieht, in zwei Wahlsiegen für die Regierung Kohl ausgezahlt."

    Der Osten Deutschlands wurde zeitweilig zum Spielball der Kräfte des Marktes. Die Folge war eine historisch einmalige Entindustrialisierung, die die Eigenerwirtschaftung der erforderlichen Mittel trotz enormer Modernisierung der Infrastruktur noch immer unmöglich macht. Hohe Arbeitslosenzahlen, derzeit bis über 20 Prozent, sogar bis 30 Prozent, rechnet man das Drittel in der ABM-Schleife hinzu, sind hier der Preis der Einheit. Und den trägt die ganze Gesellschaft. Auf dieses Kapitel der Vereinigungsgeschichte geht Klaus Schroeder nur marginal ein. Dafür untersucht er um so genauer die heutige Stimmung in Ost und West. Westdeutsche sehen sich als Zahlmeister und sie fragen sich: Wieso eigentlich wir?

    Das Buch nennt Transferleistungen des Bundes von 1990 bis 1999 in Höhe von 834 Milliarden Mark allein für sozialpolitisch motivierte Maßnahmen und es nennt einen Gesamttransfer von 1,6 Billionen Mark. Diese Zahlen scheinen den Einheitsmäklern recht zu geben. Dabei übersieht mancher, mehr als ein Viertel der gigantischen Summe fließt durch Aufträge an bundesdeutsche Firmen wieder in die alten Länder zurück und stabilisiert hier die Konjunktur. Außerdem: Die Transfersummen enthalten gleichermaßen die von Ostdeutschen eingezahlten Einkommens- und Mehrwertsteuern, Sozialabgaben und Solidaritätszuschläge. Indem dieser Hinweis unterbleibt, unterstützt das Buch den Eindruck, nur die Westdeutschen zahlten in die Einheit. Dabei notiert Schroeder an anderen Stellen prägnant, wie die Ignoranz ostdeutscher Lebensleistungen, wie Zukunftsverunsicherung und der Vorwurf, aus eigener Kraft keinen Aufschwung zu schaffen, im Osten dazu führt, dass sich 1999 noch 70 Prozent als Bürger zweiter Klasse sahen.

    Klaus Schroeder: "Wir haben ja eine Diskrepanz. Zum Einen finden zwei Drittel, drei Viertel für sich ganz persönlich, dass die Angelegenheit eigentlich gut gelaufen ist und angenehm war und dass es bergauf gegangen ist nach 1990. Aber sie beurteilen die allgemeine Lage wesentlich pessimistischer. Es ist hier eine negative Stimmung eingetreten, die aus meiner Sicht aus der hohen Arbeitslosenrate in Ostdeutschland resultiert."

    Die Auswirkungen sind alarmierend. Umfragen besagen, während 69 Prozent der Westdeutschen Demokratie als kostbares Gut ansehen, sind nur 36 Prozent der Ostdeutschen bereit, sie zu verteidigen. Die Mehrheit sieht in ihr einen Import und sich selbst bindungslos, der eigenen Traditionen und Illusionen beraubt. Klaus Schroeder ist dennoch optimistisch. Nach seiner Überzeugung durchlaufen die neuen Bundesländer eine ähnlichen Phase wie die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Auch damals fanden die Bürger durch die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft allmählich zur Demokratie.

    Wie also sieht sie aus, die Bilanz nach zehn Jahren? Der Streit über die Kosten überwiegt die Freude an der Einheit. Die Deutschen haben vergessen, was es hieß, an der Nahtstelle eines Kalten Krieges zu leben, - manchmal in Angst vor einem heißen Krieg. "Spinnen die Deutschen?", fragt Klaus Schroeder darum zurecht in seinem Buch.

    Klaus Schroeder: "Ja, ich glaube, die Deutschen spinnen. Dieses Aufrechnen und Abrechnen, dieses rein auf das Materielle fixiert sein, finde ich völlig unverständlich angesichts dessen, dass hier etwas welthistorisch beispielloses vollbracht wurde. Die Freude über den Mauerfall und die Vereinigung ist ja auch ganz schnell verpufft. Ich weiß nicht, ob das eine spezifisch deutsche Mentalität ist, alles nur materiell aufrechnen zu müssen. Ich denke, diese Buchhaltermentalität wird dem welthistorischen Ereignis nicht gerecht."

    Die Stimmung ist gedämpft. Das Interesse des Westens an den Problemen des Ostens ist mäßig. Die Ostdeutschen fühlen sich entehrend abhängig. Statistiken und Umfragen bestätigen dieses pauschale Bild. Aber wer ist "der Westen"?! Wer ist "der Osten"?! Zum Glück bestätigt sich in persönlichen Begegnungen auch -zigtausendfach das genaue Gegenteil: Die Neugier aufeinander und ein Zusammenwachsen. Mit seinen Zahlen und Analysen bietet "Der Preis der Einheit" eine außerordentliche Fundgrube für die eigene kritische Standortbestimmung und für gegenseitiges Verständnis. Beides würde uns angesichts der miteinander anzugehenden globalen

    Udo Scheer über Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit. Bilanz des Vereinigungsprozesses der letzten zehn Jahre. Erschienen im Hanser Verlag München, 280 Seiten für 45 Mark.