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Klavierkonzerte von Marie Jaëll
Zwischen deutschen und französischen Einflüssen

Vor einiger Zeit schon hat der Palazzetto Bru Zane in Venedig eine Aufnahme mit Werken der elsässischen Komponistin Marie Jaëll vorgelegt. Nun hat auch die Pianistin Cora Irsen gemeinsam mit dem WDR-Funkhausorchester unter dem Dirigenten Arjan Tien ihre beiden Klavierkonzerte eingespielt. Die Pianistin stürzt sich mit Wonne in dieses Werk.

Von Uwe Friedrich | 09.04.2017
    Ein mehrfach belichtetes Foto zeigt zwei gekreuzte Piano-Klaviaturen.
    Cora Irsen spielte gemeinsam mit dem WDR-Funkhausorchester Klavierkonzerte von Marie Jaëll ein. (Foto: Jan-Martin Altgeld )
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, 1. Satz
    Zugegeben, da findet sich noch einiges Passagenwerk im Klavierpart, der erste Satz des ersten Klavierkonzerts von Marie Jaëll mäandert zunächst etwas unentschlossen zwischen den Tonarten, ohne dass direkt eine Richtung erkennbar wäre. So könnte auch der raritätensammelnde Zuhörer abwinken und Marie Jaëll unter den zahlreichen Virtuosinnen des 19. Jahrhunderts ablegen, die sich selbst allerlei Geläufiges für die eigenen Hände schrieben, um ein klavierbegeistertes Publikum zu verblüffen.
    Damit täte man dem Werk aber Unrecht, denn wenig später entwickelt es sehr viel Charme, zumal es in der Tradition französischer Klavierkompositionen ohnehin eher auf Klangfarbe ankommt als auf eine thematische Entwicklung in der Sonatenhauptsatzform, die in Deutschland auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch vorherrschte.
    Die Pianistin Cora Irsen beschäftigt sich schon seit Jahren mit den Kompositionen Marie Jaëlls und das merkt man auch ihrem Spiel an, das die Balance hält zwischen französischen und deutschen Einflüssen, die im Werk der elsässischen Komponistin spürbar sind.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, 1. Satz
    Marie Jaëll wurde 1846 in Steinseltz im Elsass geboren, das seit dem späten 17. Jahrhundert zu Frankreich gehörte und erst 1871 wieder an Deutschland fallen sollte. Zeitlebens setzte Marie Jaëll sich dafür ein, dass das Elsass bei Frankreich bleiben sollte. Dessen ungeachtet studierte sie zunächst in Stuttgart bei Franz Hamma, bis Henri Herz ihr Talent erkannte und sie nach Paris holte.
    Mit 16 Jahren wurde sie in die Klavierklasse des Pariser Konservatoriums aufgenommen, wo sie schnell Preise gewann. Wo sie das Komponieren lernte, ist nicht so gründlich erforscht wie ihre pianistische Ausbildung. In den 1870er-Jahren studierte sie bei César Franck und Camille Saint-Saens, dem sie ihr erstes Klavierkonzert 1877 widmete.
    Die Form ist traditionell dreisätzig mit einem langsamen Satz in der Mitte und einem abschließenden Variationensatz. Einfache Melodien und komplizierte harmonische Entwicklungen wechseln sich ab, vollgriffige Akkordpassagen und imposantes Virtuosengeklingel, das vor allem Spaß machen soll, sowohl der Solistin als auch dem Publikum.
    Und Cora Irsen stürzt sich mit Wonne in diese Musik.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, 3. Satz
    Das WDR-Funkhausorchester hat im ersten Klavierkonzert von Marie Jaëll nicht sehr viel Eigenständiges zu sagen, aber der niederländische Dirigent Arjan Tien gibt der Solistin akzentuiert die Stichworte, auf die Cora Irsen wiederum flexibel und kraftvoll reagiert. Eine willkommene Repertoireergänzung aus der zweiten Reihe, die jedoch beim Hören nicht wirklich überraschen kann.
    Das sieht beim zweiten Klavierkonzert von Marie Jaëll ganz anders aus. Deutlich sind ihre Bestrebungen, die klassische Form des dreisätzigen Virtuosenkonzerts aufzuweichen. Die Sätze folgen zwar noch dem Muster schnell-langsam-schnell, sind aber nicht mehr strikt voneinander getrennt. Auch dem Orchester gönnt die Komponistin nun eine bedeutendere Rolle und rückt so ihr zweites Klavierkonzert in die Nähe einer symphonischen Dichtung.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, 1. Satz
    Während das erste Klavierkonzert der französischen Pianistin und Komponistin Marie Jaëll deutlich unter dem Einfluss ihrer Pariser Lehrer Camille Saint-Saens und César Franck steht, ist im zweiten der Einfluss ihres großen pianistischen Idols Franz Liszt unüberhörbar. Bereits im Jahr 1868 hatte sie den überragenden Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts kennengelernt und auch Unterricht bei ihm genommen.
    Es faszinierte sie, wie sich Liszt am Instrument scheinbar in eine vollkommen andere Persönlichkeit verwandelte, sobald er auftrat. Dieser Moment der Verwandlung im Konzert spielt auch eine große Rolle in ihren theoretischen Betrachtungen zum Klavierspiel, auf die sie sich gegen Ende ihres Lebens konzentrierte.
    Zunächst nahm sie nach dem Tod ihres Mannes, des Pianisten Alfred Jaëll, im Jahr 1882 wieder engeren Kontakt mit Liszt auf und verbrachte von 1883 bis 1885 alljährlich einige Monate in Weimar. Wahrscheinlich im Jahr 1884 entstand ihr zweites Klavierkonzert, das sie Eugen d'Albert widmete, einem weiteren herausragenden Klaviervirtuosen dieser Zeit.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, 1. Satz
    Bei Publikum und Kritik sowohl in Deutschland als auch in Frankreich kamen Marie Jaëlls Kompositionen, darunter neben Solowerken für Klavier auch viel Kammermusik und ein Cellokonzert, ausgesprochen gut an. Der Kritiker Ernest Reyer schrieb 1879 über eine symphonische Dichtung Jaëlls, es sei unmöglich, aus ihrer Musik ihr Geschlecht zu erkennen, was ausdrücklich als Lob gemeint war.
    Gewagte Effekte und Männlichkeit attestierte er ihrer Komposition, außergewöhnliche Begabung und überraschende musikalische Einfälle zeichneten nach Reyers Meinung ihre Werke aus. Das zeigt sich im zweiten Klavierkonzert deutlicher als im ersten, hier kommen auch das WDR-Funkhausorchester und der Dirigent Arjan Tien richtig in Schwung. Der zweite Satz schließt sich übergangslos an den ersten an und zeigt die spätromantische Seite Marie Jaëlls.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, 2. Satz
    In späteren Jahren sei Marie Jaëll der instrumentalen Virtuosität überdrüssig geworden, berichtet ihr Kompositionslehrer Camille Saint-Saens. Sie wollte nicht mehr als Pianistin wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Komponistin und Klavierpädagogin. Sie gehört zu den ersten, die auch die physiologischen und psychologischen Bedingungen des Klavierspiels gründlich untersuchten, und ließ diese Erkenntnisse in ihre theoretischen Abhandlungen einfließen ließ.
    Diese Schriften, aber auch ihre Tagebücher hat die Pianistin Cora Irsen gründlich studiert, bevor sie sich an die Aufnahme von Marie Jaëlls gesamtem Klavierwerk machte. Kraftvoll, doch nicht auftrumpfend, virtuos ohne Selbstverliebtheit zeigt sie sich außerordentlich stilsicher bei dieser Musik, die zwischen französischen und deutschen Einflüssen schillert und deren Zauber sich nur dann ganz entfalten kann, wenn keine Seite die Überhand gewinnt. Das zeigt sich noch mal deutlich im abschließenden Vivace non troppo des zweiten Klavierkonzerts.
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, 3. Satz
    Die Pianistin Cora Irsen hat als vierten Teil ihrer Einspielung des gesamten Klavierwerks von Marie Jaëll nun die beiden Klavierkonzerte vorgelegt. Begleitet wird sie dabei vom WDR-Funkhausorchester unter Leitung des Dirigenten Arjan Tien. Die CD ist beim Label Querstand erschienen.
    CD-Infos:
    Marie Jaëll: Complete Piano Works 4
    Marie Jaëll: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll
    WDR Funkhausorchester; Arjan Tien
    LC : 03722, Querstand, 4 025796 016086