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Klaviermusik
Viktor Ullmann neu entdecken

Viktor Ullmann, österreichischer Komponist jüdischer Abstammung, schrieb seine letzten drei Klaviersonaten in Theresienstadt, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde. Nach dem Krieg war seine Musik lange vergessen. Zu Unrecht, wie eine Neuerscheinung mit dem Titel "Viktor Ullmann – Complete Piano Sonatas" eindrucksvoll belegt.

Von Barbara Eckle | 27.03.2016
    Klaviertasten
    Symbolbild: Klaviertasten (Imago / AFLO)
    !!Viktor Ullmann
    Klaviersonate Nr. 5 Op.45. Allegro con brio (1942)
    Michael Tsalka (Klavier)
    Viktor Ullmann – Complete Piano Sonatas – Michael Tsalka"; Paladino Music, LC20375, pmr0035 (9120040730994)!!
    Wie viel sich aus einer Musik über ihre Entstehungsbedingungen oder die Lebensumstände des Komponisten ableiten lässt – was gerne getan wird - ist eine umstrittene Frage und eine gemähte Wiese für Assoziationen und Interpretationen. Dass die soeben angespielte Sonate mit dem heiter bewegten und ein wenig forschen Kopfmotiv im Konzentrationslager entstanden ist, lässt sich jedoch bei allem guten Willen nicht vermuten. Und doch ist es wahr.
    Viktor Ullmann, der 1898 geborene österreichische Komponist jüdischer Abstammung, schrieb seine letzten drei Klaviersonaten in Theresienstadt, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde, wo er starb. Lange Zeit nach dem Krieg war Ullmanns Musik vollkommen unbekannt. In den frühen 70er-Jahren dann wurden einzelne seiner Werke ausgegraben und aufgeführt. Und nachdem seine Oper "Der Kaiser von Atlantis" 1975 an der Oper in Amsterdam zur Uraufführung kam, wurde dem Komponisten nach und nach posthum Anerkennung für sein bemerkenswertes Schaffen zuteil. Man begann seine Musik zu entdecken und systematisch zu erforschen.
    Viktor Ullmann ist nur einer von unzähligen Komponisten, deren Leben und Musik dem Krieg ganz oder teilweise zum Opfer gefallen sind. Seine Klaviersonaten sind uns glücklicherweise gesamthaft erhalten geblieben. Der Pianist Michael Tsalka hat sie komplett auf einer Doppel-CD neu eingespielt. Diese stelle ich Ihnen in der heutigen Sendung vor.
    !!Viktor Ullmann
    Klaviersonate Nr. 5 Op.45 (1942)
    Michael Tsalka (Klavier)
    Viktor Ullmann – Complete Piano Sonatas – Michael Tsalka"; Paladino Music, LC20375, pmr0035 (9120040730994), CD 2 Track 1!!
    Viktor Ullmann, der 1898 als Sohn einer Offiziersfamilie im österreich-schlesischen Teschen zur Welt kam und nach dem Schulabschluss freiwillig im Ersten Weltkrieg Dienst leistete, sah als junger Mensch die Alte Welt der Monarchie buchstäblich aus nächster Nähe zerfallen: nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch. Und als Kompositionsstudent Arnold Schönbergs in Wien war er ab 1918 selbst an vorderster Front dabei, in ein neues Zeitalter aufzubrechen. Seine ersten Kompositionen beziehen sich auf das Zwölftonsystem seines Lehrers, und mit seinen Schönberg-Variationen für Klavier gelang ihm sein erster internationaler Erfolg.
    Dennoch hegte Ullmann, der 1919 nach Prag übersiedelte, Zweifel nicht nur an der Dodekafonie, sondern auch am Komponieren selbst. Er war in Prag als Chordirektor und Kapellmeister am Neuen Deutschen Theater tätig, beschäftigte sich aber durch die 20er-Jahre hindurch intensiv mit anthroposophischer Philosophie und zog sich Anfang der 30er-Jahre sogar ganz von der Musik zurück, um in Stuttgart die Novalis-Bücherstube zu leiten.
    Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zwang ihn allerdings zurück nach Prag, wo er das Komponieren wieder aufgriff. Nun allerdings in einem neuen, ganz eigenen Stil. Der war zwar wieder tonal, aber baute auf einem an Obertonfolgen orientierten Reihensystem auf. Damit verfolgte er das Ziel "die Kluft zwischen der romantischen und der atonalen Harmonik auszufüllen" – wie er selbst es ausdrückte.
    Zu den ersten Werken dieser zweiten Schaffensphase Ullmanns zählen neben seiner Oper "Der Sturz des Antichrist" auch seine Klaviersonate Nr. 1 Op. 10 von 1936. Sie lässt die typisch Ullmannsche zwischen Dur und Moll oszillierende Sprache erkennen, die sein gesamtes noch folgendes Werk bestimmen sollte.
    Omnipräsenz der Kontrapunktik
    Ullmanns sieben Klaviersonaten sind allesamt im Zeitraum von 1936 und 1944 entstanden – eine Zeit, in der diese Gattung kaum noch Konjunktur hatte unter Komponisten. Doch schien gerade die klare Sonatenhauptsatzform, die Ullmann zwar frei bedient, aber durch alle sieben Sonaten hindurch erhält, einen klaren Rahmen für sein eigenes tonales Konzept zu bieten, das er auf diese Weise mit Konsequenz etablieren und ausarbeiten konnte. Innerhalb der Sonaten streut Ullmann dafür immer wieder für die klassische Gattung unkonventionelle Sätze ein wie Märsche, Scherzi, Serenaden oder auch diese kleine Toccatina in der Mitte seiner fünften Sonate:
    Eine Melodieaffinität Ullmanns lässt sich in seinen Klaviersonaten immer wieder, wenn manchmal auch nur fragmentarisch erkennen. Aber der markanteste Wesenszug seines Stils ist die Omnipräsenz der Kontrapunktik, und somit auch der Bachschen Musiktradition. Diese Eigenschaft kommt in der Interpretation Michael Tsalkas besonders stark zur Geltung. Das mag auch daran liegen, dass sich in Viktor Ullmanns Klaviermusik die beiden Schwerpunkte von Tslakas Repertoire treffen, nämlich Alte und Neue Musik. Der 1973 in Tel Aviv geborene israelisch-niederländische Pianist, den seine Studien von Israel über Deutschland und Italien in die USA geführt haben, ist nicht nur auf dem Klavier ein Virtuose. Auch auf Hammerflügel, Cembalo, Clavichord und Orgelpositiv ist er spezialisiert.
    Neben seiner internationalen Konzerttätigkeit widmet sich der vielseitige Musiker auch intensiv dem Unterrichten, der Musikwissenschaft und der Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Musikschaffen. Seine klare, vertikal gedachte Interpretation von Ullmanns Klaviersonaten setzen in dieser Aufnahme einen angemessen unromantischen Fokus und geben der vielschichtigen Struktur und charakteristischen Harmonik eine wunderbare unsentimentale Transparenz.
    Am 8. September 1942, drei Jahre nachdem sich die Judenverfolgung auch auf das Protektorat Böhmen und Mähren ausgeweitet hat, wurde Viktor Ullmann ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hier spielte er eine sehr aktive Rolle in der sogenannten "Freizeitgestaltung" des Lagers - als Dirigent, Pianist, Organisator, Musikkritiker und auch als Komponist.
    In den zwei Jahren, die Ullmann in Theresienstadt interniert war, sind neben zahlreichen Liedern, dem Melodram "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" und der Oper "Der Kaiser von Atlantis" auch seine letzten drei Klaviersonaten, Nr. 5, 6 und 7 entstanden. Dass man unter solchen Bedingungen künstlerisch arbeiten und dazu so produktiv sein konnte, ist kaum vorstellbar.
    Noch verblüffender ist allerdings, dass nach diesem Einschnitt in Ullmanns Leben weder auf stilistischer noch auf expressiver Ebene ein Bruch in seiner Musiksprache festzustellen wäre. In einem Aufsatz mit dem Titel "Goethe und Ghetto" bringt Viktor Ullmann diese Frage selbst zur Sprache und erklärt: "Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war; und ich bin überzeugt davon, dass alle, die bestrebt waren, in Leben und Kunst die Form dem widerstrebenden Stoffe abzuringen, mir recht geben werden."
    !!Viktor Ullmann, Klaviersonate Nr. 7 Op.45 (1944) Allegro. Gemächliche Halbe ,Michael Tsalka (Klavier)
    "Viktor Ullmann – Complete Piano Sonatas – Michael Tsalka"; Paladino Music, LC20375, pmr0035 (9120040730994, CD 2 Track 10!!
    Komponieren unter erschwerten Bedingungen
    Die siebte und letzte Klaviersonate nimmt eine Sonderstellung ein, allein durch die Tatsache, dass Ullmann schon kein Notenpapier mehr zur Verfügung stand und er sämtliche Versionen und Korrekturen in ein und demselben handlinierten Manuskript festhalten musste, was den Notentext umso schwerer lesbar machte. Instrumentationsangaben deuten zudem darauf hin, dass Ullmann sich sogar mit der Idee trug, die Sonate zu einer Sinfonie auszuarbeiten. Besonders ist vor allem der letzte Satz der Sonate, der sich von einer dunklen, schwermütigen Stimmung nach und nach ans Licht hervorarbeitet. Er beginnt mit einem hebräischen Volkslied in Moll, das er versonnen durch mehrere Variationen führt:
    !!Viktor Ullmann, Klaviersonate Nr. 7 (1944) Variationen und Fuge über ein hebräisches Volkslied, Michael Tsalka (Klavier)
    Viktor Ullmann – Complete Piano Sonatas – Michael Tsalka"; Paladino Music, LC20375, pmr0035 (9120040730994, CD 2 Track 14!!
    Die Krone der Ordnung
    Der Freiheit, die er in diesem Variationensatz entfaltet, setzt Ullmann schließlich umso feierlicher wieder die Krone der Ordnung auf, und zwar ganz klassisch mit einer finalen Fuge. Als deren erstes Thema erklingt das hebräische Volkslied nun in Dur. Als zweites und drittes Thema tauchen überraschenderweise der Hussitenchoral "Ihr, die ihr Gottes Streiter seid" und der protestantische Choral "Nun danket alle Gott" auf. Aus dieser Verbindung explizite Glaubensbekenntnisse abzulesen, legt Ullmanns Haltung und sein musikalisches Schaffen nicht nahe. Doch sollte es sich tatsächlich um eines handeln, so scheint es mehr musikalischer als religiöser Natur zu sein.
    Glücksfall für die Musik
    Dass uns seine letzten drei Klaviersonaten überhaupt überliefert sind, verdanken wir Viktor Ullmanns Freunden, die ihn überzeugen konnten, seine Kompositionen in deren Obhut in Theresienstadt zu lassen und nicht mitzunehmen, als er am 16. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Am 18. Oktober kam er dort in den Gaskammern zu Tode.
    Das vierte und letzte Thema am Ende des Finalsatzes würdigt noch einmal die Vaterfigur der Musiktradition, der er sich offensichtlich am innigsten verbunden fühlt mit Namen: B-A-C-H sind die Töne, die relativ unvermittelt eine monumentale Zäsur in den strahlenden doppelchoraligen Abschluss setzen.
    Wenn ein solches Credo unter solchen Umständen nicht Zeugnis von der existenziellen Wichtigkeit von Kultur - gerade in der Not - ablegt, was dann?
    Michael Tsalka hat Viktor Ullmanns sämtliche Klaviersonaten beim Label Paladino Music auf CD neu eingespielt.