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Klavierwerke von Mauricio Kagel und Gerhard Stäbler

Vorgestellt werden CDs mit Klavierwerken von Mauricio Kagel und Gerhard Stäbler. Der Interpret ist Paulo Alvares.

Von Egbert Hiller |
    "Entfernte Assoziationen und schräge Querverbindungen" sind der Humus von Mauricio Kagels Fantasie. Und dies spiegelt sich auf mannigfaltige Weise auch in seiner Klaviermusik wider.

    • Musikbeispiel: Mauricio Kagel - "MM 51"

    Auf Kagels Nähe zum Medium Film und mithin zum Prinzip der Montage weist "MM 51 – Ein Stück Filmmusik für Klavier" von 1976. Und auch sein untrüglicher Sinn für hintergründigen Humor kommt darin nicht zu kurz. Ein schauriges Gelächter lässt Paulo Alvares da vernehmen – schließlich gemahnt Kagel in "MM51" an Schrecksekunden und Gruseleffekte in Kriminal- und Horrorfilmen. Ganz andere Dimensionen eröffnet der "Ragtime" von 1993/94, den Kagel aus seinen "Stücken der Windrose" für Salonorchester herauslöste. In der Fassung für Klavier und Schlagzeug gerät der swingende Duktus spitzfindig aus den Fugen. Kompetente Unterstützung erhält Alvares von dem Schlagzeuger Christian Dierstein.

    • Musikbeispiel: Mauricio Kagel - "Ragtime"

    Herzstück der Doppel-CD mit Klavierwerken Kagels sind vier Versionen von "Metapiece", entstanden 1961 – als Kagel, der vier Jahre zuvor von Buenos Aires nach Köln übergesiedelt war, noch ganz zeitgemäß mit offenen Formen und graphischer Notation experimentierte. "Metapiece" unterliegt keinem fixierten Zeitmaß; das Verhältnis von Klang und Pausen soll sich aber an den graphischen Proportionen auf den Partiturseiten orientieren. Der Interpret ist als Mitschöpfer gefragt, und Alvares wird dieser Verantwortung nicht nur gerecht, sondern zieht hinsichtlich Ausdruck und technischer Brillanz alle Register.

    • Musikbeispiel: Mauricio Kagel - aus: "Metapiece"

    Ebenfalls auf zwei CDs widmet sich Alvares dem Klavierschaffen von Gerhard Stäbler. Bei dieser Produktion erhebt der Pianist gar Anspruch auf Vollständigkeit. Das Klavier steht für den vornehmlich in Duisburg lebenden Stäbler zwar nicht im Vordergrund seines Wirkens, die Werke für dieses Instrument zeigen aber prägnant Perspektiven seines künstlerischen Selbstverständnisses auf. Stäbler sucht offensiv die Verzahnung von Kunst und Leben. Das gilt zwar auch für Mauricio Kagel, doch während Kagel alltägliche Ereignisse und menschliche Handlungen wie unter einem Brennglas fokussiert und potenziell als Keim theatermäßiger Situationen ansieht, strebt Stäbler die Einbindung seiner Musik in größere politische und gesellschaftskritische Zusammenhänge ein.

    In "Hart auf hart" von 1986 greift er die in der automatisierten und zunehmend digitalisierten Konsumgesellschaft anscheinend unverzichtbaren Strichcodes auf. Aus ihnen und diversen Zifferfolgen, die er ebenfalls Konsumartikeln entnahm, montierte er das auf einer einzigen Seite graphisch notierte Stück, das keine bestimmte Besetzung vorgibt. Diese Vorgehensweise mag an die Einbeziehung von Alltagssymbolen in der Pop Art erinnern, ebenso leicht konsumierbar wie diese ist Stäblers Musik aber gerade nicht.

    In seiner Version von "Hart auf hart" taucht Paulo Alvares vor allem in das Innenleben des Klaviers ein; die Strichcodes samt ihrer virtuellen Informationsfülle überführt er in eine insistierende Geräuschwelt.

    • Musikbeispiel: Gerhard Stäbler - aus: "Hart auf hart"

    Auf Stäblers Gratwanderung zwischen Reflexionen über die Bedingungen der Wirklichkeit und unabdingbarer künstlerischer Abstraktion spielt oft der Traum als Vermittler eine tragende Rolle. Aber nicht als ein Wegträumen in eine heile Welt der Illusionen, sondern im Sinne assoziativer Verknüpfungen. So ließ sich Stäbler in "Traum 1/9/92", das sich auf den ersten September als Antikriegstag bezieht, von den Utopien Bertold Brechts von einer besseren Gesellschaft inspirieren. Strukturell basiert das Werk auf einem Motiv aus dem Brecht/Eisler-Lied "Lob des Revolutionärs"; dessen Text transkribierte Stäbler in Morsezeichen, woraus er den Rhythmus ableitete.

    • Musikbeispiel: Gerhard Stäbler - aus: "Traum 1/9/92"

    Auch Stäblers "Dali", komponiert 1995/96, berührt die Sphäre des Traums. "Magische Musik" lautet der Untertitel dieses mit über 30 Minuten Dauer mit Abstand längste Klavierstück Stäblers. Angeregt wurde es von einem Besuch des Dali-Museums in Figueras, und den Facettenreichtum des berühmten spanischen Malers übertrug er in einen subtil ausdifferenzierten Klangkosmos. Fahle Klänge, mittels Pedal auratisch umhüllt, bieten dem geistigen Auge viel Raum zur Entfaltung, und blitzartig eingestreute bizarre Läufe scheinen reflexhaft und mit spitzer Feder Salvador Dalis surreale Traumgebilde nachzuzeichnen.

    • Musikbeispiel: Gerhard Stäbler - aus: "Dali"

    Im Zugriff von Paulo Alvares erreicht Stäblers "Dali" volle Suggestivkraft. Alvares ist nicht nur in spiel-technischen Extremen in seinem Element, sondern auch in der Sphäre von Verinnerlichung und Kontemplation. 1988 kam der brasilianische Pianist an die Kölner Musikhochschule, um seine in Sao Paulo und den USA absolvierten Studien bei Aloys Kontarsky zu vervollkommnen. Mittlerweile hat Alvares selbst eine Professur in Köln inne, und zwar für Neue Aleatorische Kammermusik. Nach jahrelanger Solistentätigkeit und intensiver Zusammenarbeit mit Orchestern und Spezialensembles, etwa der Musikfabrik NRW, ist er aus der zeitgenössischen Szene kaum noch wegzudenken – was die jüngsten CD-Einspielungen eindrucksvoll unterstreichen.

    Die Doppel-CD mit Klavierwerken von Mauricio Kagel ist bei cpo erschienen, und die mit dem gesamten Klavierschaffen von Gerhard Stäbler bei dem Label Metier. Hören Sie zum Ausklang noch Stäblers pianistischen Aphorismus "Von Branntwein und Finsternissen". Mit Katerstimmung und Brummschädel nach zuviel Alkoholgenuss hat das Stück nichts zutun. Vielmehr handelt es sich um eine "Klavierballade für Zeiten roher Naturgewalten, mit Mundharmonika und gerecktem Kopf zu spielen". Für Paulo Alvares eine der leichtesten Übungen.

    • Musikbeispiel: Gerhard Stäbler - aus: "Von Branntwein und Finsternissen"

    Mauricio Kagel - Piano Works
    Solist: Paulo Alvares, Klavier
    Label: cpo
    Labelcode: 8492
    Bestellnr.: cpo 999 965-2

    Gerhard Stäbler - The complete piano Music
    Metier Sound & Vision 9207 5a
    Solist: Paulo Alvares, Klavier
    Label: cpo
    Labelcode: 8492