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Kleine AKWs vom Fließband
Schöne neue Reaktorwelt

Weltweit wachsen derzeit mehr als 60 Kernkraftwerke aus dem Boden, fast alle Giganten mit mehr als 1000 Megawatt Leistung. Nur zwei der Neubauten scheinen aus der Zeit gefallen. Es sind Testballons für kleine Reaktoren von der Stange, wie sie einmal in einer Fabrik in Serie gebaut werden sollen.

Von Dagmar Röhrlich | 16.07.2017
    Virtual Reality-Modell des Thorcon-Reaktors.
    "Walkaway safe" - So lautet das Versprechen der US-Firma Martingale für ihren Thorcon-Reaktor, das hier im Modell zu sehen ist. (ThorCon)
    Im Londoner Büro von Nuscale Power. Eine gute Adresse: Zum Buckingham Palace sind es von hier aus zu Fuß nur ein paar Minuten. Das kann sich die junge Firma leisten, weil ein mächtiger Investor an sie glaubt: ein US-Anlagenbauer mit zuletzt mehr als 19 Milliarden Dollar Jahreserlös.
    "Unsere Hauptniederlassung ist in Corvallis, Oregon, etwa zwei Stunden südlich von Portland. Das ist auch der Sitz der Oregon State University, die seit den frühen 2000er-Jahren in die Entwicklung der Nuscale-Technologie einbezogen war."
    Tom Mundy managt das Europa-Geschäft des Start-ups und das hat eine Mission: Es möchte kleine Reaktormodule von der Stange bauen, fix und fertig aus der Fabrik - ein Produkt, das es so bislang noch nicht gibt.
    "In den vergangenen Jahren hat es in China und dem Mittleren Osten einen Trend hin zum Bau von Gigawatt-Kernkraftwerken gegeben. Daneben erleben wir mit den Small Modular Reactors, den SMR, einen zweiten Trend, hin zu kleineren, einfacher zu bedienenden, flexibleren und auch kosteneffizienteren Lösungen."
    Schöne neue Reaktorwelt - Klein-Anlagen für den Atommarkt
    Weltweit sind mehr als 60 Kernkraftwerke in Bau: in China, Südkorea, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland, den USA, Indien, Finnland, Frankreich. Die meisten sollen es auf 1300 und mehr Megawatt bringen. Doch zwei Neubauten auf der Liste erregen Aufmerksamkeit: Mit 27 und 70 MW scheinen sie wie aus der Zeit gefallen, wie Relikte aus den frühen Tagen der zivilen Nutzung der Kernenergie. Die kleinere Anlage soll bald in Argentinien in Betrieb gehen - Carem-25: Ein Prototyp, den die Internationale Atomenergiebehörde IAEO als Forschungsreaktor einstuft. Die andere ist ein schwimmendes Kernkraftwerk, die Akademik Lomonossow. Sie soll 2019 die Strom- und Wärmeversorgung der 4000-Einwohner-Stadt Pewek in Sibirien übernehmen und die der Minenbetriebe in der Nähe. Beide fallen in die Kategorie SMR.
    Bis in die 1950er Jahre reicht die Idee zurück, statt großer Kernkraftwerke kleine, modulare Reaktoren zu bauen, erzählt William Magwood. Er ist Generaldirektor der OECD-NEA, der Nuklear-Agentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris:
    "Sie tauchte so alle 17 Jahre auf, schwirrte eine Weile wie eine Zikade herum, machte viel Lärm und verschwand wieder. Doch jetzt erleben wir vielleicht wirklich ihren Durchbruch, sodass sie beweisen können, ob sie Sinn ergeben, eine Lücke füllen und uns langfristig helfen, Strom zu produzieren."
    Kosten für den klassischen Kernkraftwerksbau sind hoch
    Bevor Magwood seinen Posten antrat, gehörte er einer von Barack Obama eingesetzten Kommission zur nuklearen Zukunft Amerikas an. Jetzt sitzt er in einem Büro mit fantastischem Blick auf die tiefblau leuchtende Seine und auf das Chateau de Saint Cloud am gegenüberliegenden Ufer. Vom dichten Verkehr auf dem Quai Alphonse le Gallo hört man hier drinnen nichts.
    Querschnitt eines Reaktorgebäudes, wie es die US-amerikanische Firma NuScale Power entworfen hat
    Querschnitt eines Reaktorgebäudes, wie es die US-amerikanische Firma NuScale Power entworfen hat (NuScale Power, LLC.)
    "Meiner Meinung nach gründet das große Interesse am SMR-Konzept in erster Linie darauf, dass die Kosten für den klassischen Kernkraftwerksneubau recht hoch sind. Die Idee mit den kleinen Reaktormodulen kam auf, weil die Leute hoffen, dass sie einen neuen Ansatz für den Bau von Kernkraftwerken bieten. Anstatt im Lauf von - sagen wir - zehn Jahren ein großes Kernkraftwerk bei Anfangsinvestitionen von zehn Milliarden Euro zu errichten, setzt man viele kleinere, in einer Fabrik gefertigte Module ein. Man installiert sie, bringt sie ans Netz und verdient schon einmal Geld, bis man - je nach Bedarf - das nächste Modul hinzufügt."
    Ökonomischen Hoffnungsträger
    Milliardenverluste in ihrer US-Atomsparte Westinghouse haben das Mutterunternehmen Toshiba an den Rand des Ruins gebracht. Auch der französischen Kernkraftwerksbauer Areva ist angeschlagen: 2014 verbuchte er wieder einen Rekordverlust. Verantwortlich waren nicht zuletzt Baumängel und Verzögerungen im finnischen Olkiluoto und im französischen Flamanville.
    "Die Idee ist, dass Reaktormodule in Fabriken gebaut werden, in denen die Anforderungen an die Qualitätskontrolle hoch, die Zeitpläne sicherer und die Kosten normalerweise kontrollierbar sind. Die Befürworter wollen, dass die Nuklearindustrie sehr viel mehr dem Flugzeugbau gleicht. Die Luftfahrtindustrie baut sehr zuverlässig sehr komplizierte Maschinen, mit vorhersagbaren Preisen und vorhersagbaren Lieferterminen."
    Kleine Modulare Reaktoren als Retter der Nuklearbranche. Das Energieministerium der kanadischen Provinz Ottawa möchte damit entlegene Gemeinden von teuren und schmutzigen Dieselgeneratoren erlösen. In Großbritannien sind sie vor allem seit dem Brexit-Votum zum ökonomischen Hoffnungsträger avanciert: Sie sollen dem Land eine Vorrangstellung auf internationalen Exportmärkten bringen, heißt es. Arrivierte Nuklearkonzerne wie GE Hitachi oder alteingesessene Firmen wie Urenco, Forschungsinstitute wie das Nuclear Power Institute of China oder das US-Energieministerium: Sie alle erwarten Großes von den kleinen Modulen. Das gilt auch für den Newcomer Nuscale.
    Alles wirkt übersichtlich
    "Our technology is premised upon what we call the Nuscale power module."
    Europa-Chef Tony Mundy wirkt routiniert. Selbst vor dem britischen Oberhaus hat er das Nuscale-Konzept schon präsentiert. Er greift zu einer Skizze mit einem Schnitt durch das Reaktor-Modul. Auf den ersten Blick gleicht es einem schlanken Silo.
    "Eines der Designelemente ist Einfachheit: Wir haben uns für ein Design entschieden, in dem das Kühlmittel Wasser nur aufgrund der natürlichen Konvektion durch den Reaktor zirkuliert. Es funktioniert aufgrund der Gesetze der Physik: Heißes Wasser steigt auf, kaltes sinkt ab."
    Alles wirkt übersichtlich: Außen das stählerne Containment, der Sicherheitsbehälter, darin wie bei einer russischen Babuschka der Reaktordruckbehälter. Unten, im Reaktorkern, läuft die Kettenreaktion. Sie erhitzt das Wasser im Primärkreislauf, das seine Hitze im Wärmetauscher an den Sekundärkreislauf abgibt, bevor es zurück in den Reaktorkern fließt. So weit, so klassisch - nur, dass alles in ein- und demselben Gefäß abläuft, passiv, ohne Pumpen und Ventile:
    Mock-up eines Nuscale-Kontrollraums: Hier werden die Prozeduren entwickelt und trainiert, mit denen einmal zwölf Reaktoren gleichzeitig überwacht werden sollen.
    Mock-up eines Nuscale-Kontrollraums. (Nuscale)
    "Unser Power-Modul ist ein 'integraler Reaktorbehälter', wobei integral meint, dass Kern, Dampferzeuger und die Leitungen des Primärkreislaufs im Reaktordruckbehälter liegen. In den klassischen Kernkraftwerken sind die alles große Einzelkomponenten: Verbunden durch Leitungen und Pumpen und Ventile, die Strom für ihren Betrieb brauchen. Wir haben alles vereinfacht. Und das Containment und der Reaktordruckbehälter bilden das Power-Modul, das komplett in einer Fabrik gefertigt werden wird."
    Per Schwertransport zum Einsatzort
    50 Megawatt soll so ein Modul liefern. Mit rund 22 Meter Höhe und viereinhalb Meter Weite soll es per Schwertransport an den Einsatzort geschafft werden.
    "Bis zu zwölf dieser Module werden in einem Gebäude untergebracht und zusammen 600 MW liefern. Jeder Reaktor arbeitet unabhängig von den anderen. Wird einer gewartet, laufen die anderen weiter. Außerdem kann man sie unterschiedlich nutzen. So produzieren einige Dampf zur Stromerzeugung, während andere Prozesswärme für eine Fabrik liefern oder Meerwasser entsalzen."
    Stehen sollen die Module nebeneinander in einem mit 28 Millionen Liter Wasser gefüllten Pool. Der dient auch als Abklingbecken für die Brennelemente. Und dann ist das Becken Wärmesenke für den Notfall. Berechnungen zufolge soll es selbst dann 30 Tage lang die Kühlung garantieren, wenn alle Module gleichzeitig havarieren. Und da in den kleinen Reaktoren bei Weitem nicht so viel Zerfallshitze entstehe wie in einem großen, sei bis dahin die Gefahr einer Kernschmelze gebannt - ohne dass irgendjemand eingreifen müsste.
    Zweifel an der Reaktorsicherheit
    Soweit der Plan. Die Zulassung für den US-Markt hat das Start-up Anfang des Jahres beantragt: Einen ersten Bauplatz gibt es in Idaho, dort laufen die Umweltgutachten. Der Nuscale-SMR könnte der Erste im Land werden, kleiner, effizienter, flexibler als die schwerfälligen Großkraftwerke, verspricht Tom Mundy, vor allem aber: sicherer.
    "In fact our safety case is so strong that we've coined what we call the Triple Crown of nuclear safety."
    An die Reaktorsicherheit mit Auszeichnung glaubt Edwin Lyman nicht so recht. Er ist Nuklearexperte für die Union of Concerned Scientists in Washington DC. Seine Kritik präsentierte er dem "Committee on Energy and Natural Resources" des U.S. Senats.
    "Eines der wichtigsten Argumente der SMR-Befürworter ist, dass im Reaktor weniger Zerfallswärme entsteht und die Hitze deshalb leichter abgeführt werden kann. Man brauche keine elektrischen Pumpen, der Kühlkreislauf funktioniere passiv, die natürliche Konvektion reiche aus."
    Kritiker sehen Probleme bei Störfällen
    Ausgelegt werden Reaktoren gegen alle Unfälle, die Ingenieure für wahrscheinlich halten, die Auslegungsstörfälle, erklärt Lyman. Doch was, wenn es schlimmer komme, wenn die Belastung über diese Auslegung hinaus gehe?
    "Was passiert - sagen wir - bei einem Erdbeben, das stärker ist als angenommen und bei dem - beispielsweise - Trümmer in den Pool der Nuscale-Reaktoren fallen? Kann dann die passive Kühlung auf irgendeine Art und Weise unterbunden werden? Und falls ja, was machen wir dann? Wie sieht das Back-up aus?
    "I don't think, the proposals, that I have seen, adequately account for the protection against beyond design basis accidents."
    Keines der Reaktorkonzepte, die er gesehen habe, gehe angemessen auf auslegungsüberschreitende Störfälle ein, urteilt Edwin Lyman. Dass Back-up-Systeme fehlen, hat aus seiner Sicht einen naheliegenden Grund: Sie machen den Reaktor teurer. Und Kosten sind ein zentrales Argument für die SMR. Die Anlagen werden sich nur dann am Markt durchsetzen, wenn sie konkurrenzfähig sind. Sparen lässt sich zum Beispiel über die Stückzahl, weiß OECD-Nuklearexperte William Magwood. Und beim Personal.
    Personalkosten sollen sinken
    "Der größte Kostentreiber beim Betrieb eines Kernkraftwerks sind heute - neben den Sicherheitsanforderungen - die Personalkosten."
    "Die Betriebskosten dieser SMR könnten theoretisch sehr viel geringer sein als die eines großen Kernkraftwerks. Zwar lässt sich das erst sagen, wenn der Genehmigungsprozess durchlaufen ist, doch die Anbieter gehen davon aus, dass sie viel weniger Personal in der Leitwarte brauchen, für die Wartung und die Objektsicherung. Wenn durch Bündelung der Anlagen dort nur zehn oder 20 Prozent der Leute arbeiten, die heute auf einer Zentralstation beschäftigt sind, dann macht das finanziell einen großen Unterschied."
    "Wie managt man zwölf kleine Reaktoren statt eines einzigen? Die Betriebsmannschaft müsste die vielen Reaktoren überwachen und beobachten können und auf Zwischenfälle reagieren, selbst wenn alles zur gleichen Zeit passiert und ein Störfall in einem Modul die anderen beeinflusst. Für mich ist überhaupt nicht klar, dass es sicherer ist, ein Dutzend kleine Reaktoren laufen zu lassen statt eines großen."
    Billiger produzieren als Kohlekraftwerke
    Trotzdem gehen andere Entwickler sogar noch weiter. Sie hoffen, irgendwann ganz auf eine Betriebsmannschaft verzichten zu können. "Walkaway safe" heißt das Konzept: Alles ist sicher, alle können gehen.
    "Walkaway safe" zu sein verspricht beispielsweise die US-Firma Martingale für ihren Thorcon-Reaktor. Vorangetrieben wird der vor allem von altgedienten Wissenschaftlern, die Entwicklungs- und Schwellenländer mit kohlendioxidfreier Energie versorgen möchten:
    "Unser Ziel ist es ehrlich gesagt, billiger zu produzieren als Kohlekraftwerke, damit wir den Anstieg der Kohlendioxidemissionen stoppen oder begrenzen können."
    So könnte eine am Meer gelegene Nuscale-Anlage einmal aussehen.
    So könnte eine am Meer gelegene Nuscale-Anlage einmal aussehen. (Nuscale)
    Robert Hargraves ist ehemaliger Mathematik-Professor, ein Idealist, der um die Welt tourt und Vorträge hält, um seine Hörerschaft von Flüssigsalzreaktoren zu überzeugen. Dabei greift er eine Idee aus den 1950er Jahren auf, als diese Technologie am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee erforscht wurde: erst als Antrieb für ein atomgetriebenes Flugzeug, später für die Stromerzeugung:
    "Flüssigsalzreaktoren bestehen im wahrsten Sinne des Wortes aus Salz, Fluoride von - in unserem Fall - Beryllium und Natrium, in denen als Brennstoff Uran- und Thoriumfluoride gelöst sind."
    Kernspaltung in flüssigem Salz
    Das Herz der Thorcon-Anlage ist ein "Topf" mit 700 Grad heißem, flüssigem Salz: Darin läuft die Kernspaltung ab, wobei Graphit als Moderator dafür sorgt, dass die Kettenreaktion läuft. Aus diesem Topf saugt eine Pumpe flüssiges Salz und drückt es durch den Wärmetauscher, wo es seine Hitze an den Sekundärkreislauf abgibt und zurück in den Topf fließt:
    "Dieser zylinderförmige Topf, die Pumpe und der Wärmetauscher, alles, was mit Radioaktivität in Berührung kommt, stecken wir in einen versiegelten Behälter mit sechs Meter Durchmesser und zwölf Meter Höhe. Unser Thorcon-Behälter soll in einer Fabrik in Asien gebaut, per Schiff an seinen Einsatzort gebracht und dort unterirdisch installiert werden. Dieses Modul wird später als Ganzes ausgetauscht."
    Das ist eine Lehre aus dem Oak-Ridge-Experiment, das 1969 aufgegeben wurde. Das heiße Salz hatte das Metall korrodiert: Feine Brüche waren in der Oberfläche entstanden:
    "Unser Design löst das Problem mit der Langlebigkeit des Materials, indem wir alle vier Jahre den heißen Bereich austauschen, um ihn zentral warten zu lassen. Bei modular gebauten Anlagen ist das einfach."
    Entwicklungs- und Schwellenländer brauchen dringend Strom
    Falls etwas passiere und die Betriebstemperatur ansteige, schalte sich der Reaktor von selbst ab, erklärt Hargraves. Direkt unter dem Topf wird ein Tank hängen. Beide sind über ein Ventil verbunden, das schmilzt, sobald es zu heiß wird. Das Salz fließt ab, die Kettenreaktion läuft sich tot, alles kühlt ab. Die Radionuklide sind chemisch im Salz gebunden und gasdichte Barrieren trennen den Reaktor von der Umwelt - es könne einfach nichts passieren, prophezeit der pensionierte Professor.
    "In den USA ist es schwer, Reaktoren zu verkaufen, weil der Strombedarf nicht steigt und die Menschen sich wegen der Nuklearenergie Sorgen machen. Doch Entwicklungs- und Schwellenländer brauchen dringend Strom, und dort sind die Rückmeldungen positiv. Wir erwarten, dass wir drei oder vier Demonstrationsanlagen in Indonesien bauen dürfen, um zu beweisen, dass wir billigen Strom liefern können."
    Der Inselstaat Indonesien, der die Energieversorgung für entlegene Gebiete verbessern möchte, scheint nicht abgeneigt: Drei staatliche Firmen gehen nach den Vorstudien von der Machbarkeit aus, und die indonesische Zulassungsbehörde prüft das Design. In vier Jahren soll der erste Prototyp arbeiten.
    Weltweit werden rund 60 SMR-Konzepte entwickelt
    Ein vollkommen neues, noch nie in einem Leistungsreaktor erprobtes Design als erstes in einem Schwellenland ohne Erfahrung mit Nuklearanlagen zuzulassen: OECD-Nuklearsparte William Magwood ist nicht begeistert:
    "Wenn diese Systeme zuerst erfolgreich in den entwickelten Ländern eingesetzt werden, wenn sie Gegenstand einer qualitativ hochstehenden Fabrikfertigung werden und das Ganze erprobt ist, kann man sie sehr viel einfacher in Entwicklungsländern einsetzen. Aber um einen Reaktor sicher zu betreiben, müssen diese Länder die notwendige Infrastruktur besitzen - und dazu zählt auch die intellektuelle Infrastruktur bei den Vertragsnehmern, beim Reaktor- und Wartungspersonal und ganz sicher gilt das für die Aufsichts- und Zulassungsbehörden."
    Weltweit werden derzeit von den verschiedensten Firmen rund 60 SMR-Konzepte entwickelt. Optimisten schätzen: 2035 könnten knapp zehn Prozent aller neu gebauten Kernkraftwerke SMR sein. Sie sollen eine Renaissance der Atomenergie bringen, selbst eine kritische Bevölkerung überzeugen: Die Kleinen seien so sicher, dass man keine Evakuierungszonen mehr brauche. Und sie passten perfekt zu den Erneuerbaren. Denn anders als große Kernkraftwerke wären die kleinen flexibel, könnten schnell ab- oder zugeschaltet und so an den Bedarf im Netz angepasst werden. Den Analysen der OECD-Nuklearsparte zufolge soll ihr Potenzial in Stromnetzen mit einem hohen Anteil an Erneuerbaren sogar am größten sein. Und auch das Abwracken wäre kein Problem - auch das könnte in einer Fabrik erledigt werden.
    Schwimmender Reaktor für Sibirien
    Noch haben sich die Entwürfe nicht in der Realität beweisen müssen. Doch der erste Test wird schon 2019 beginnen. Dann nämlich soll die Akademik Lomonossov den Betrieb aufnehmen - eine 150 Meter lange Barke, auf der zwei Reaktoren mit je 35 MW elektrischer Leistung installiert sind Die Barke wird in Sankt Petersburg starten und dann die Nordküste Eurasiens entlang geschleppt: nichts als Wasser, Eis und Tundra bis zur Tschuktschen See. Dort liegt das Ziel: Pewek, die nördlichste Stadt Asiens, einst Standort zweier Gulags, in deren Nähe heute noch Gold und Zinn gefördert werden, Quecksilber und Steinkohle. In ihrem Hafen soll die Akademik Lomonossov dann Strom und Wärme ins Netz speisen:
    "In Russland gibt es ziemlich viele entlegene Städte und Dörfer, zum Beispiel im hohen Norden, wo es zu teuer, schwierig und nicht immer sehr vielversprechend ist, permanente AKW zu bauen."
    So leitet die externe Pressestelle von Rosatom die Antworten der russischen Reaktorbauer weiter:
    "Dabei muss die wirtschaftliche Entwicklung vorangebracht und moderne Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Einwohner in allen, auch den stromisolierten Regionen, geschaffen werden. Das ermöglichen schwimmende AKW."
    Schwer bewaffnete Sondereinheiten
    In Petersburg wird derzeit das Bordpersonal für die Akademik Lomossow ausgebildet: 78 Personen. Sie werden im Schichtbetrieb arbeiten, rund um die Uhr – bewacht von schwer bewaffneten Sondereinheiten: Ein schwimmendes Kernkraftwerk in der Einsamkeit Sibiriens könnte ein attraktives Ziel bieten für Kriminelle und Terroristen.
    ("Die) Reaktoren vom Typ KLT-40C basieren auf einer tief greifenden Modernisierung von Reaktoren, die auf Eisbrechern verwendet werden."
    Die Kühlung, heißt es, funktioniere nun von selbst, ohne Pumpen. Und im Vergleich zu einem klassischen Schiffsreaktor sei der Kernbrennstoff nicht so hoch angereichert - aus Proliferationsgründen.
    Reaktorschiffe sind nicht nur in Russland in Arbeit: Die kanadische Firma Dunedin Energy Systems will ähnliche Anlagen für entlegene Bergbauprojekte in Amerika bauen. Und im chinesischen Chengdu setzt das Nuclear Power Institute für ihren schwimmenden Reaktor auf die Kooperation mit der britischen Firma Lloyd‘s Register:
    "Der Reaktor, den das Nuclear Power Institut of China entwirft, ist ein sogenannter 'Integraler Leichtwasser-Reaktor'."
    Richtlinen für die Seeschifffahrt
    King Lee leitet bei Lloyd’s Register die Abteilung für Nuklearentwicklung.
    "Der schwimmende Reaktor soll für verschiedene Einsatzbereiche genutzt werden, zur Produktion von Strom, Prozesswärme, Dampf, Meerwasserentsalzung, um Offshore-Öl- und Gas-Plattformen oder Inseln zu versorgen. Wir als Lloyd‘s beraten das Institut dabei, welche Sicherheitsvorschriften und -richtlinien das schwimmenden Kernkraftwerk wird erfüllen müssen und welche technischen Standards sie im Design und bei der Konstruktion berücksichtigen sollten."
    Kein einfacher Job: Schwimmende Atomkraftwerke müssen nicht nur den Vorgaben der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO entsprechen, sondern auch denen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation IMO.
    "Es gibt schon eine ganze Reihe von Reaktoren, die Eisbrecher, Schiffe oder U-Boote antreiben. Was nun einen breiteren Einsatz von Nuklearenergie im Offshore-Bereich angeht, hat die Internationale Seeschifffahrts-Organisation vor einiger Zeit einen vorläufigen Anforderungskatalog formuliert. Weil die meisten Sicherheitsstandards jedoch auf Kernkraftwerke an Land zielen, werden wir weitere Regularien und technische Anforderungen für schwimmende Anlagen erarbeiten müssen."
    Sicherheit, auch wenn der Reaktor untergeht
    Anstelle von Erdbeben müssten Schiffe und Reaktoren etwa gegen Schiffskollisionen ausgelegt werden oder tropische Wirbelstürme, Tsunamis: Wie hoch die Wellen auch werden, die Sicherheitssysteme des Reaktors müssen in jedem Fall funktionieren. Selbst dann noch, wenn das Reaktorschiff Leck schlägt und in die Tiefsee sinkt."
    "Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Reaktor zu kühlen, und es könnte durchaus vorteilhaft sein, das Meer als ultimative Wärmesenke zu haben. Die Herausforderung ist jedoch zu verhindern, dass Meerwasser mit dem radioaktiven Material in Berührung kommt. Das Containment muss intakt bleiben und das Kühlsystem laufen."
    Genau darin sieht Edwin Lyman von den "Concerned Scientists" das Problem, und es ist nicht das Einzige.
    "Bei einem Unfall oder einer terroristischen Attacke, durch den der Reaktor beispielsweise die Kühlung verliert, müssen Notfallmannschaften schnell an Bord kommen können. Und wie schwierig schnelle Hilfe werden könnte, zeigt sich, wenn man über die Auslöser eines Unfalls nachdenkt: Bei schweren Stürmen etwa wäre Hilfe von außen unmöglich."
    Genehmigungen stehen noch aus
    Ob den SMR wirklich eine glänzende Zukunft beschieden ist, hängt ganz grundlegend von einem Faktor ab, an den Laien nicht sofort denken: den Genehmigungsbehörden. Sie könnten die hochfliegenden Träume zerstören, noch bevor die kleinen Reaktoren richtig abgehoben haben.
    Die Wünsche der SMR-Entwickler weichen weit vom Althergebrachten ab, stellen die Behörden vor große Herausforderungen: So wird oft Expertise auf Gebieten verlangt, auf denen sie noch nie gearbeitet haben, urteilt OECD-NEA-Direktor William Magwood:
    "Genehmigungsbehörden haben noch nie eine Fabrik für den Bau von Reaktoren zertifiziert. Wenn Reaktoren wie Flugzeuge gebaut würden, wäre das ein vollkommen neuer Ansatz. Das Verfahren wird sich also sehr stark vom derzeitigen unterscheiden."
    Der schwimmende Atomreaktor "Akademik Lomonosov" im Hafen von St.Petersburg. Er soll einmal die Stadt Pewek in Sibirien mit Strom versorgen. 
    Der schwimmende Atomreaktor "Akademik Lomonosov" im Hafen von St.Petersburg. (imago / TASS / Peter Kovalev )
    Heute wird jeder einzelne Reaktor in jedem Land, in dem er gebaut werden soll, zertifiziert und genehmigt, als sei das Konzept brandneu. Das ist teuer, doch bei den immensen Investitionen für große Kernkraftwerke fällt das kaum ins Gewicht. Bei Reaktormodulen, die nur einen Bruchteil kosten, sieht das anders aus. Ein weiterer Punkt: Die Standardisierung muss hoch sein, denn damit das Konzept aufgeht, müssten SMR in großer Stückzahl gebaut werden und in vielen Ländern einsetzbar sein:
    "Internationale Lizenzierungen oder internationale Kooperationen zwischen den Aufsichtsbehörden werden wohl sehr große Herausforderungen sein. Bei den SMR geht es darum, eine echte Koordination in den Genehmigungsprozess zu bekommen. Das haben wir noch nie gemacht, und es wäre wirklich aufregend, wenn wir das schaffen könnten."
    Trump will Nuklearförderung streichen
    Lange, nachdem die Idee aufkam, nehmen die kleinen Atomreaktoren Fahrt auf. Noch sind etliche Fragen ungeklärt. Und während sich mancher Experte wünscht, dass das Konzept doch noch scheitert, träumen andere von einer klimaneutralen Lösung der Energiefrage oder wittern lukrative Geschäfte. Für US-Firmen ist unterdessen ein neues Problem aufgetaucht: Kohle- und Frackingfreund Donald Trump will im Nuklearbereich kürzen. Im Department of Energy DOE steht das SMR-Budget zur Disposition. Republikanische Kongressabgeordnete haben einen Brief an ihren Präsidenten geschrieben, im Interesse der US-Wirtschaft die Förderung doch fortzusetzen.
    "Wir wissen, dass die ausländischen Nuklearprogramme in großem Stil von ihren Regierungen unterstützt werden, was für den US-Nuklear-Sektor einen signifikanten Wettbewerbsnachteil bedeutet."
    Wie die Geschichte in den USA ausgeht, ist offen.
    Derweil warten die Bürger des sibirischen Pewek darauf, dass ihnen die Akademik Lomonossov Strom und Wärme liefert, und darauf, dass das alte Atomkraftwerk Bilibino stillgelegt wird. Die Vorarbeiten laufen: Das Stromnetz muss modernisiert werden und die Anschlussanlagen im Hafen gebaut. Wenn das schwimmende Kernkraftwerk dann arbeitet, müssen sich die Bürger an den Anblick der schwer bewaffneter Sondereinheiten gewöhnen: Eine Barke mit zwei Atomreaktoren an Bord mitten im Nirgendwo.