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Kleine Fluchten

Zwischen FKK-Strand, Datsche und einem Kessel Buntem - zwei Berliner Wissenschaftler haben zusammengetragen, wie die Menschen in der DDR sich amüsierten, während das Politbüro verbitterte.

Von Jacqueline Boysen |
    Manchem mag der Titel wie ein Widerspruch in sich erscheinen. Anderen hingegen wie die überfällige Rehabilitierung der geschmähten kleinen grauen Welt strebsamer Kleinbürger und klassenbewusster Proletarier. Das "Vergnügen in der DDR" ist auf jeden Fall der genauen Betrachtung wert. Hier geht es nicht um die Verniedlichung eines vermeintlich heilen Biotops, in dem idealerweise der "neue Mensch" hätte gedeihen können. Vielmehr binden Ulrike Häußer vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität und Marcus Merkel vom Forschungsverbund Theater und Fest in Europa der FU Berlin einen bunten Strauß von Artikeln zusammen, der verschiedene Formen der Zerstreuung im dahingewelkten Arbeiter- und Bauernstaat zeigt.
    Die Gleichzeitigkeit von durchaus populären, aber politisierten Massenspektakeln und dem Rückzug ins Privatvergnügen auf Tanzboden oder der Datsche sagt kulturgeschichtlich gesprochen viel aus über das Amüsierverhalten in Deutschland: kollektive Freude und schenkelklopfendes Gemeinschaftserleben brauchen ein diskretes Gegenstück: Intimität und Verschwiegenheit, die Abgrenzung von den anderen, die nicht immer mitlachen müssen. So analysiert der Band einerseits die Kultur der Volksfeste, die im Sozialismus eigene Formen annahmen und Identität stifteten. Die Autoren beschreiben andererseits niveauvolle Heiterkeit im DDR-Boulevardtheater des Rudi Strahl ebenso wie derb-proletarische Fußballspiele auf dem kleineren Feld der geteilten Nation. Nicht unbeachtet bleiben die schrebergärtnernden Laubenpieper oder auch das Glücksspiel in der Planwirtschaft: Lotterien, von denen der Staat profitierte, konkurrierten mit privater Zockerei.
    Von den Kreuzfahrten für politische Obenschwimmer bis zum Zirkus in der DDR – es geht um das Amüsement auf der ganzen Linie - und natürlich geht es um Musik. So vielfältig die unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände und die Ansätze der zahlreichen Autoren, so abwechslungsreich und erheiternd auch die Form der Beiträge in dem vorliegenden Sammelband: In der Bleiwüste erscheint als optische Oase eine Bilderstrecke aus dem Archiv des Fotografen Harald Hauswald sowie einzelne Fundstücke aus privaten Fotoalben: DDR-Bürger auf Reisen, so begrenzt ihr Radius gewesen sein mag, haben selbstverständlich fleißig geknipst, die Bilder atmen bis heute Sonne, Sand und Fernweh, und zeigen eine sozialistische Ferienlageratmosphäre, ungestillte Sehnsucht sowie den Stolz auf das Erreichte, den so viele heute vermissen. Nicht zuletzt wird in dem Band die Untersuchung des einstigen FKK-Geschehens unter den Augen der so prüde zugeknöpften SED bebildert

    ""Zu DDR-Zeiten machte ein Witz die Runde, in welchem nach den sieben Todsünden des Sozialismus gefragt wurde. Die einfach Antwort lautete: Sex und Saufen – sehr viele lebten auch wirklich nach diesem Motto, ich kann mich selbst nicht so ganz ausschließen","

    bekennt eben jener Fotograf Harald Hauswald, geboren 1954 in Radebeul, der dem Band nicht allein seine Fotografien, sondern auch biografische Skizzen beifügt – Zeitdokumente, deren Authentizität sich gut mit den etwas zu akademisch anmutenden Aufsätzen mischt. Hauswalds freizügige Beschreibungen lockern den Band erfreulicherweise auf – denn bisweilen stauben die Studien doch ein wenig - bemüht um vermeintliche Wissenschaftlichkeit. Müssen wir wirklich ein 460 Seiten starkes Buch zur Hand nehmen, um über den Flickenteppich der DDR-Festkultur zu erfahren:

    Zu den großen Familienfesten gehörten die "rites de passage", neben der Hochzeit die Jugendweihe und die Schuleinführung. Geburtstage wurden längst nicht mehr nur als Familienfeste gefeiert. Kindergeburtstage fanden auch im Kindergarten und im Schulhort statt. Geburtstagsfeiern der Erwachsenen oder Ehejubiläen verlängerten sich durch Nachfeiern mit Arbeitskolleginnen und Kollegen.

    Mitteilenswert wäre es doch wohl nur gewesen, wenn die DDR ihren Bürgern ausgetrieben hätte, persönliche Partys zu feiern. Dass Selbstverständlichkeiten wie das Zelebrieren von Geburtstagen auch noch überreichlich mit Quellenangaben gespickt werden, trägt nicht zur Leserlichkeit bei. Vor allem aber fehlt in manchen Passagen, die vor Details strotzen, die Einordnung. Am Beispiel der feierlichen Einschulungen ließe sich mehr über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, Bürger und Staat zeigen.
    Selbstverständlich berühren die Autoren auch die wenig vergnüglichen Seiten der Freizeit in der Diktatur. Nein, gemeint sind ausnahmsweise einmal nicht Staatssicherheit, Verrat und Unterwanderung – sondern zum Beispiel das staatliche Fernsehen der DDR. Erwiesenermaßen erfreuten sich die Bürger beiderseits der Grenze naiv-fröhlicher Unterhaltungsshows: Propaganda-Auftrag hin oder her: Wenn im Osten der Kessel Buntes über die Mattscheibe flimmerte, dann versammelte sich eine biedere Fernsehgemeinde auf der Suche nach Zerstreuung vor der Glotze, ganz so wie es die Brüder und Schwestern im Westen mit ihrem Musikantenstadl taten. Dass sich der jüngere Teil der Bevölkerung von derlei Amüsement fernhielt und sich hier wie dort in Auflehnung gegen Obrigkeit, Eltern, Autorität jegliche Art Punks auf den Weg in andere musikalische Sphären machten, verschweigen die Autoren nicht.

    Schließlich widmen sie sich natürlich auch dem Ventil, das der hintersinnige politische Witz dem Menschen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft öffnete. So zeigt der Band bunt und zumeist anschaulich, aber keineswegs verflachend oder beschönigend, dass der Titel "Vergnügen in der DDR" eben keinen Widerspruch in sich beschreibt. Und dass das Bedürfnis nach Geselligkeit und Ausschweifung beiderseits der Mauer auch in den vierzig Jahren der Teilung letztlich doch recht ähnlich war. Typisch: der Karneval:

    Diese selbstorganisierte Tätigkeit der Karnevalsklubs war einerseits Ausdruck eines Bedürfnisses nach aktiven Formen von Geselligkeit und Unterhaltung und andererseits aber auch Ausdruck eines Bedürfnisses nach individueller Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung. Der ständige Konformierungsdruck durch das SED-Herrschaftssystem auf die Klubs konnte zwar für die Betroffenen bittere Auswirkungen haben, aber den wachsenden Zulauf zum Karneval nicht aufhalten – hier befand sich die SED letztlich in der Defensive.
    Brauchtum darf sogar in Deutschland auch mal über die Politik siegen.

    "Vergnügen in der DDR" – so heißt das Buch von Ulrike Häußer und Markus Merkel, das im Panama-Verlag erschienen ist. 464 Seiten kosten 24 Euro 80. Unsere Rezensentin war Jacqueline Boysen.