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Kleine leisten Großes

Die Hauptaufgabe der Landestheater besteht darin, auf Tournee zu sein. Sie sind gewissermaßen eine Art Wanderzirkus-Ausgabe der Stadttheater. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gibt es vier solcher Landesbühnen. Die beiden kleinsten - Castrop-Rauxel und Dinslaken - leisten Großes.

Von Dorothea Marcus |
    In den Feuilletons wird seit Jahren über die Unflexibilität und Schwerfälligkeit der deutschen Stadttheater geklagt. Fast unmöglich ist es den großen Häusern, auf Gastspielreise zu gehen: zu groß die Bühnenbilder, zu zahlreich und kostspielig das mitreisende Stab aus Dramaturgen, Disponenten, Assistenten und einem Heer von Technikern. Dabei gibt es eine Ausprägung des deutschen Stadttheaters, deren Hauptaufgabe darin besteht, auf Tournee zu sein. In den Feuilletons werden sie so gut wie nie erwähnt: die 21 Landestheater der Bundesrepublik. Sie bringen Theater in Deutschlands hinterste Provinz, in Gemeinden, die kein eigenes Theater haben. Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW gibt es am meisten, nämlich vier. Noch vor drei Jahren hätte jedoch niemand mehr einen Cent auf das Überleben der beiden kleinsten Landesbühnen gewettet, als der damalige Kulturminister Michael Vesper eine extreme Kürzung von 40 Prozent verkündete. Doch die zwei Intendanten kämpften wie Löwen um ihre Theater, die Kürzungen wurden auf 15 Prozent zurückgenommen. Trotzdem hängt das Damoklesschwert der Schließung noch über ihnen. Also versucht man, sich noch unentbehrlicher zu machen. Unter anderem mit Sommerspektakeln an ungewöhnlichen Orten, auf Abraumhalden oder in Landgestüten, mit einem Publikum, das man sonst nicht im Theater vermuten würde. Oder mit einem 3tägigen Freiluftfestival auf dem Marktplatz von Castrop-Rauxel, vom 25. - 27. August.

    Hoch über Bottrop liegt die Halde Haniel - ein unwirklicher Krater in rund 600 Metern Höhe, eine zugige Mondlandschaft, wenn nicht in ihrer Mitte ein kleines Amphitheater eingelassen wäre, das jedes Jahr vom Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel bespielt würde. Fast könnte man die RuhrTriennale vergessen bei dieser rauschenden Theaterparty auf der Zeche.

    Die 300 rustikalen Zuschauer, die bei Wind und Wetter den Weg zum Freilufttheater über den Kohleschächten gefunden haben, sind mit Decken, Bier und Bratwürsten ausgerüstet. Die Songs aus der 70er-Jahre-Revue "Licht aus, Spot an" werden lauthals mitgesungen. Vier Klassenkameraden reflektieren ihr Leben, 20 Jahre nach den psychedelischen 70er Jahren. Ein Stück darüber, dass aus jungen, weit offenen Hippieleben Einbrecherschicksale oder Staranwaltskarrieren werden können. Und eine kleine politische Abrechnung mit den Mythen der Vergangenheit:

    "Ach ja, die RAF-Gefangenen in Stammheim, die haben sich natürlich selber umgebracht, hä? Nein, da ist Helmut Schmidt eigenhändig reinspaziert und hat sie exekutiert."

    "Das wichtigste daran, das ist, dass wir es für wichtig halten, bestimmte Stücke draußen im Freien zu spielen und auch Menschen, die sonst vielleicht gar nicht ins Theatergebäude den Weg finden, zu locken, sich mit Kultur, Kunst, mit Musik, mit Lachen im Freien, in einer wunderbaren Atmosphäre auseinanderzusetzen, um ein ganz anderes Publikum zu generieren."

    Der Intendant aus Castrop-Rauxel, Benjamin Heindrich, hat aber nicht nur poetisch-politische Partymusicals im Programm. Zu den 46 Stücken im Verkaufsrepertoire gehören auch Sarah Kanes düsteres "Gier" oder Kleists "Prinz von Homburg". Mit Feridun Zaimoglus "Schwarze Jungfrauen", das auf Interviews mit Musliminnen basiert, diskutiert er in Schulklassen mit hohem Ausländeranteil über Integration und Heimat. Ein besonderer Knüller hat im November Premiere: die Uraufführung von Henning Mankells letztem Roman "Vor dem Frost". Mankell war vom Regiekonzept so angetan, dass er Castrop-Rauxel die Rechte überließ. Mit dem Einfraustück "Fieber" des Amerika-Kritikers Wallace Shawn wurde man sogar zum NRW-Theatertreffen eingeladen: eine Anklage über das pervertierte Verhältnis unserer Wohlstandsgesellschaft zur Gewalt.
    Wem die deftige 70er-Jahre-Revue in Bottrop nicht so liegt, der findet wenige Kilometer weiter einen besinnlicheren Freiluftabend: Heine-Texte zu Jazzklängen, veranstaltet von der Burghofbühne Dinslaken auf dem Hof ihres idyllischen alten Gestüts. In der Pause können die Zuschauer Heines Lieblingsspeise essen: Pfannkuchen mit Speck und Äpfeln.

    Intendant Torsten Weckherlin hat einst Peter Zadeks Tourneetheater am Berliner Ensemble geleitet. Auf seinem Programm stehen Klassiker wie Shakespeares "Die lustigen Weiber von Windsor" oder Fontanes "Effi Briest". Er schreckt aber auch nicht vor harter Kost wie Karmakars "Der Totmacher" oder "Das Nest" von Kroetz zurück - und eröffnet die neue Spielzeit mit einer eigenen Bühnenversion von Max Frischs "Homo Faber". Ein erstaunlicher Höhepunkt der kommenden Spielzeit ist aber das türkische Stück "40 Jahre leicht gesagt". Torsten Weckherlin:

    "Wir spielen nicht nur in Kindergärten oder Schulen oder Stadthallen. Weil wir in der BRD ja nicht nur älter, sondern bunter werden, wollten wir ein türkisches Stück anbieten, in türkischer Sprache, von Türken inszeniert und geschrieben. Bei Besuchen in Abstecherorten, teilweise mit bis zu 30 Prozent Ausländeranteil, merken wir, dass die Kulturamtsleiter oft gar nichts im Angebot haben für Leute mit Migrationshintergrund."

    Nach den harten Kürzungen haben die beiden kleinsten Landesbühnen von NRW noch öffentliche Etats von 800.000 (Dinslaken) und 2,07 Millionen Euro (Castrop-Rauxel). 20 bis 40 Prozent des Etats erwirtschaften sie selbst - davon können normale Stadttheater nur träumen, die normalerweise etwa 10 Prozent erreichen. Zu schaffen ist das nur mit winzigen Schauspielerensembles aus drei bis sechs Personen und vielen Gastverträgen - und indem die Intendanten die Tourneebusse selber fahren, mit aufbauen und zuweilen auch selbst auf der Bühne stehen. Und eben mit leichten, fröhlichen Freiluftspektakeln. Doch auch wenn beide Intendanten wissen, dass sie dem Publikumsgeschmack manchmal weit entgegenkommen müssen, so tun sie dies doch mit großem gesellschaftlichen Engagement - und bis in theaterresistenteste Schichten hinein.