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Kleine Stadt am großen Fluss

Den Bewohnern im hügeligen Vicksburg liegt der Mississippi majestätisch zu Füßen. Die roten Schaufelraddampfer wecken Erinnerungen an den Schriftsteller Mark Twain. Doch die kleine Stadt am großen Fluss erzählt noch mehr Geschichten: zum Beispiel, wie die braune Limonade als Coca Cola in die Flaschen kam, und ein Stoffbär namens Teddy zu seinem Namen.

Von Rudi Schneider |
    Er entspringt am Itascasee als fünf Meter breiter Bach, um nach 3778 Kilometern als einer der größten Flüsse der Erde bei New Orleans in den Golf von Mexico zu münden: der Mississippi. Er ist bei Vicksburg, wo wir jetzt an seinem Ufer stehen, vier- bis fünfmal so breit wie der Rhein. Das Land ist fruchtbar und die Vegetation üppig. Lange bevor Weiße diesen Landstrich besiedelten, war dies das Land der Chactaw Indianer.

    Gordon Cotton gesellt sich zu uns. Er ist Historiker und begleitet uns zum alten Courthaus. Das repräsentative Gebäude mit einer großen Säulenfront thront über dem Mississippi, und seine Glocke kündet auch nach 150 Jahren immer noch die Tageszeit. Den Klang dieser Glocke hörten eine ganze Reihe von historischen Persönlichkeiten, die die Geschichte Amerikas prägten.

    "Jefferson Davis begann seine Karriere auf diesem Platz. Am Tag der Wahl hielt er hier seine erste Rede. Obwohl er diese Wahl verlor, beurteilte die Presse seinen Auftritt als bemerkenswert und Prophezeite ihm, dass er seine Spuren noch in der amerikanischen Geschichte hinterlassen werde. Und so geschah es. Neben anderen Ämtern wurde er der Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika. Das alles begann auf diesem Gerichtshof."

    Die breiten ausgetretenen Eingangsstufen, die schwere Eichentür, die alten Bolen des rustikalen Fußbodens führen den Besucher übergangslos auf eine Zeitreise. In den hohen Räumen stehen uralte Tische und Stühle, die Sieg und Niederlage der beiden Generäle Lee und Grant erlebten. In den deckenhohen Regalen stehen oder liegen faustdicke Folianten und die goldbeschrifteten Lederrücken künden von interessantem Inhalt.

    Wer in der realen Geschichte blättern möchte, kann hier mit der fachkundigen Unterstützung
    von Archivaren tief in die historischen Geschehnisse einsteigen und die alten Handschriften und Aufzeichnungen studieren.

    Aber nicht nur alte Bände locken das Interesse der Besucher. Es ist auch ein Teddybär, der im
    Obergeschoss des alten Courthauses residiert. Der Bär verdankt seinen Namenszusatz "Teddy"
    keinem geringeren als dem amerikanischen Präsidenten Teddy D. Roosevelt, dem man nachsagt, dass er sich geweigert habe, auf einer Jagd ein Bärenbaby zu erlegen. Clifford Berryman, ein Karikaturist der Washington Post, hielt dieses Ereignis in einer Zeichnung fest. Der Teddybär war geboren. Zwei Firmen nannten forthin ihren Stoffbär "Teddy".

    "Eine dieser beiden Unternehmen war die Firma von Margarete Steiff aus Deutschland, ich glaube in Bayern, und die Ideal Toy Company in Brooklyn, New York. 1907 kam Teddy Roosevelt nach Vicksburg. Er liebte die Publicity, die er hier hatte, und schenkte einem Kind einen Teddy-Bär. Wir haben diesen Teddy-Bär im oberen Stock. Alle Besucher wollen ihn sehen. Immerhin gab der Präsident unabsichtlich seinen Namen für Amerikas beliebtes Spielzeug."

    Von dem altehrwürdigen Courthouse starten wir eine Wanderung durch das hügelige Vicksburg. Besonders im alten Stadtkern findet sich eine Vielzahl wunderschöner Antebellum-Häuser, die allesamt interessante Geschichten zu erzählen haben. Unser erstes Ziel ist das älteste Haus der Stadt das wir über die Washington Street ansteuern. Die Familie George Washingtons hatte in Vicksburg ein Haus, das Betty Bullard, die es heute bewohnt, mit viel Liebe restauriert hat. Betty empfängt uns mit ein paar deutschen Worten, die sie in einem Sprachkurs gelernt hatte.

    "Dankeschön. Bitteschön. My teacher was Mr. Schneeweiß."

    Betty ist eine Persönlichkeit mit einem unglaublichen Intellekt und erwies sich als eine Fundgrube an Hintergrundwissen. Wer in die frühen Tage Vicksburgs eintauchen will, der setzt sich am besten einfach auf den Boden, während sie im Ohrensessel sitzt und unermüdlich eine nach der anderen Geschichte aus einem unermesslichen Wissensschatz hervorzaubert.

    "Das ist eine Nachbarschaft! Das ist nicht nur einfach eine Gruppe von Antebellum Häusern. Das ist eine Nachbarschaft. Eine wirkliche Nachbarschaft hat bestimmte Komponenten, die sie dazu machen. In direkter Nähe befinden sich eine Schule, eine Kirche und ein Markt. Man kann alles zu Fuß erreichen und jederzeit seine Freunde an der Haustür treffen. Das hier ist also eine echte Nachbarschaft. Die älteste Kirche des Ortes ist einen Block entfernt von meinem Haus, dem George Washington Ball Haus, und das ist das älteste Haus in Vicksburg."

    Um die Nachbarschaft besser überschauen zu können, nimmt uns Betty mit auf die Veranda im Obergeschoss. Wir lassen uns auf ihrer freischwingenden Südstaaten-Schaukel nieder und genießen den weiten Blick über den Mississippi, der uns majestätisch zu Füßen liegt.

    "Man schaut und sieht diese unglaublich weite Flussbiegung des Mississippi. Er ist ein mächtiger, wirklich mächtiger Fluss, und es ist sehr aufregend an seinem Ufer zu leben."

    Vicksburg war lange Zeit zwischen St. Louis und New Orleans der bedeutendste Hafen, erzählt uns Bill Longfellow.

    "Die ersten Schaufelraddampfer kamen den 1811 den Fluss herunter. Sie kamen von Pittsburg und fuhren runter nach New Orleans. 1830 waren es bereits 350 und 1850 schon 1000 Schiffe. Im späten 19. Jahrhundert waren 7000 Dampfschiffe auf den Flüssen zwischen Kalifornien und New York unterwegs."

    Paddlewheeler, berühmte Namen wie Delta Queen oder Mississippi Queen kommen in den Sinn. Schubverbände auf dem Mississippi sind bis zu sieben Lastkähne lang und vier Kähne breit. Auf dem Rhein sind es vielleicht zwei mal zwei Kähne. Die großen Paddlewheeler erkennt man schon lange, bevor man sie sieht, an ihrer Dampfpfeife. Diese großen Schaufelraddampfer haben als akustische Attraktion für ihre Passagiere sogar eine regelrechte Dampfpfeifenorgel, auf der bekannte Melodien erklingen.

    Bill Longfellow, der uns am Mighty Mississipi begrüßt hat, wohnt übrigens in dem Haus, das der Dame gehörte, die der Stadt am Mississippi den Namen gab. Es war Martha Vick.

    "Martha hat dieses Haus um 1830 als Stadthaus gebaut. Wenn man auf dem Land wohnte, war es wichtig, ein Stadthaus zu haben. Denn alle sozialen Aktivitäten fanden hier statt, beispielsweise Kirche, Behörden, Schulen und nicht zuletzt die Geschäfte. Das in griechisch klassizistischem Stil erbaute Haus ist ein massives Ziegelstein-Gebäude mit sehr schönen Stuckdecken."

    Die Inneneinrichtung der Räume ist eine liebevolle Sammlung von Möbeln, Gemälden, Porzellan und allen möglichen Accessoires aus der Zeit Martha Vicks, und Bill Longfellow weiß zu jedem Stück eine interessante Geschichte.

    "Wir befinden uns in der Eingangshalle. Links und rechts befinden sich zwei große quadratische Räume. Früher waren die getrennten Wohn- und Gesellschaftszimmer für die Frauen und die Männer. Nachdem man im Esszimmer gemeinsam dinierte hatte, begaben sich die Männer in ihren Gesellschaftsraum und die Frauen in den anderen."

    Das ist Martha Vicks Klavier. Etwas verstimmt sind ihm allerdings nach so vielen Jahren immer noch Töne zu entlocken. Viele dieser historischen Häuser in Vicksburg kann man nicht nur besichtigen, man kann auch ihn ihnen übernachten, weil die Besitzer einige Räume als Bed & Breakfast anbieten. Für die Gäste hat das den Reiz, Häuser und Familien zu erleben, die aufs Engste mit der amerikanischen Geschichte verbunden sind.

    Vom Martha Vick House begeben wir uns unter dem kühlenden Schatten von uralten Eichen den Hügel hinauf in die First East Street, wo die Duff Green Mansion in einem Meer von Blumen seit 1856 majestätisch im Herzen des historischen Vicksburg thront. Am Eingangsportal, das wir über eine breite Zentraltreppe erreichen, wartet Harry Sharp auf uns.

    "Mein Ur-Ur-Großvater war Wilhelm von Scharf aus Baden in Westfalen. Ich recherchiere gerade die Geschichte über diesen Teil meiner Familie, weil wir nur wenige Informationen haben. Sie immigrierten nach Central-Illinois. Ich glaube, es war im Jahr 1870, als sie in die Vereinigten Staaten kamen."

    In der amerikanischen Linie von Harry Sharps Vorfahren finden sich Namen wie General Lee, der die Südstaatenarmee anführte, und der Präsident der Konföderierten Jefferson Davis.
    Interessanterweise war die Duff Green Mansion während des Bürgerkrieges 1863 das Lazarett für beide Seiten. Im Erdgeschoss lagen die verwundeten Soldaten der Konföderierten und im
    Obergeschoss die der Unionstruppen. Die Küche diente als Operationsraum für beide. Dies ist nur eine von vielen historischen Begebenheiten, die unter dem Dach dieses Hauses stattfanden, und Stoff in Hülle und Fülle für einen Roman abgeben würden.

    "Dieses Haus ist möglicherweise das beste Beispiel dieses architektonischen Stils im Staat von Mississippi. Die im Design nach Andrea Palladio erbaute italienische Villa vier symmetrische Gebäudeseiten. Das erste Geschoss ist vollständig oberirdisch und diente zur Zeit der Erbauung als Keller."

    Harry Sharp hat das Haus in den späten 80er Jahren vollständig restauriert und fünf der Räume für Gäste eingerichtet. Man übernachtet nicht nur in südstaatlichem Ambiente, sondern man wird auch ein Teil der Geschichte des Hauses.

    Wir verlassen die Duff Green Mansion und wandern die First East Street hinunter zum Mississippi, wo wir auf die Washington Street treffen, die parallel zum Fluss läuft. In der Washington Street fand in einem eher unscheinbaren Haus Geschichte statt, die jeder von uns möglicherweise schon hunderte Mal in der Hand hatte, eine einfache Cola-Flasche. Hoch über dem Schaufenster des alten Ziegelsteingebäudes lesen wir in großen Lettern: "Biedenharn Candy Company", und eine alte, Glas besetzte Holztür lädt zum Eintritt ein.

    Wieder ist der Eintritt in ein Gebäude ein Eintritt in die Vergangenheit. Diesmal stehen wir vor dem Tresen eines typischen Sodafountains, wo man in längst vergangenen Tagen eine kühle Erfrischung in Form einer köstlichen Limonade kaufen konnte. Coke, das war hier in den Südstaaten nur eine von hunderten unterschiedlicher köstlicher Limonaden. Jedes Haus hatte seine eigenen Rezepte, erzählt uns Nancy Bell.

    "Das Gebäude, in dem wir stehen, wurde 1890 von der Familie Biedenharn errichtet. Im Erdgeschoss war der Laden, in dem sie Kuchen, Süßigkeiten und auch Erfrischungsgetränke anboten. In einem Nebenraum verkauften sie sogar Schuhe. So was war zur damaligen Zeit üblich. In jedem Fall wurde in diesem Haus zum ersten Mal in der Welt Coca Cola in Flaschen abgefüllt."

    Die Biedenharns waren eine deutschstämmige Familie, und ihre Idee, Coca Cola in Flaschen abzufüllen, war der Start für die heute wohl meist verbreitetste Flasche der Welt. Im Haus der Biedenharns kann man neben vielen Utensilien der Gründertage auch jenen Teil der Anlage besichtigen, wo alles mit der braunen Südstaaten-Limonadenflasche begann. Nach einem erfrischenden Trunk verabschieden wir uns von Nancy Bell und lassen den Tag auf die schönste Weise ausklingen, die in Vicksburg möglich ist.

    Wir setzen uns in der untergehenden Abendsonne ans Ufer des Mississippi genießen das Bild, das wie ein bewegtes Ölgemälde scheint. Die Delta Queen zieht mit ihrem roten Schaufelrad am Heck stromaufwärts und weckt Erinnerungen an die vielen Geschichten von Mark Twain, der, bevor er Schriftsteller wurde, hier als Lotse auf dem Mississippi fuhr, und dessen Name untrennbar mit diesem Fluss verbunden ist.