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Kleine Übung, großer Effekt

Neurowissenschaft.- Dass sich graue Hirnzellen bei Erwachsenen noch vermehren lassen, ist bekannt. Nur war das bisher eine Aufgabe von mehreren Wochen. Einem internationalen Forscherteam ist es nun gelungen, mit einer zweistündigen Übung das Volumen der Hirnrinde deutlich zu vergrößern.

Von Tomma Schröder |
    Die vier Farbtöne sind sich durchaus ähnlich: Fast wie die Türkisfarben des Meeres an einem schönen Sommertag, unterscheiden sie sich nur gering in ihrem Grün- und Blauanteil. Dennoch ist die Aufgabe, vor die 19 Pekinger Studenten gestellt wurden, nicht allzu schwer, erklärt Li-Hai Tan, Neurowissenschaftler und Linguist an der Universität Hongkong,

    "Wir haben sie trainiert und sie gebeten, sich Kunstnamen für die vier Farben zu merken. Diese Aufgabe ahmt die Wort-Objekt-Zuordnung nach, die bei kleinen Kindern stattfindet, wenn sie sprechen lernen."

    Und natürlich war diese Aufgabe für die Erwachsenen kinderleicht. Nach knapp zwei Stunden konnten alle Probanden die vier Farben mit den richtigen Nonsense-Namen voneinander unterscheiden. Umso überraschter zeigte sich Li-Hai Tan, als er die Ergebnisse dieses Trainings auf den Hirnscans der Probanden sah:

    "Nach diesen Übungen fanden wir eine deutliche Volumenzunahme der grauen Substanz, und zwar in dem visuellen Kortex in der linken Gehirnhälfte, in einer Region, die verantwortlich ist für die Verarbeitung von Farb- und Leuchtwahrnehmungen."

    Messen können die Forscher diese Veränderung in der Hirnrinde mithilfe so genannter Voxel. Eine Einheit, die das dreidimensionale Pendant zum Pixel ist. Dementsprechend ist aber bisher auch nur klar, dass es eine Volumenzunahme um 50 Voxel gegeben hat. Nicht aber, was genau gewachsen ist: Es könne sein, dass sich die Nervenzellen selbst vermehrt hätten oder aber die Ausläufer der Nervenzellen gewachsen seien, meint Li-Hai Tan. Doch so oder so fordert die Volumenzunahme in einer solch kurzen Zeit unser bisheriges Verständnis des Gehirns heraus.

    "Das menschliche Gehirn ist eine anatomische Struktur, die sich normalerweise nicht so einfach verändern lässt. Es ist so etwas wie die Hardware. Wie kann dann eine kleine Übung diese Struktur verändern? Das war eine große Überraschung für viele Leute und für uns selber auch."

    Denn eigentlich wollten die Forscher nur untersuchen, wie Farben wahrgenommen werden. Dass es dabei durch die kurzen Tests zu einer Zunahme des Gehirnvolumens kam, war für Li-Hai Tan eher eine Zufallsentdeckung. Für die 19 Probanden bedeutet das nun nicht, dass sie viel intelligenter sind als vorher. Aber für viele Menschen mit Entwicklungsstörungen im Gehirn könnten die Ergebnisse von Bedeutung sein, meint Li-Hai Tan.

    "Wir denken, dass dieses Ergebnis für viele Erwachsene mit Entwicklungsstörungen im Gehirn Hoffnung weckt. Mithilfe von angemessenen Übungen könnte auch das Gehirn Erwachsener noch fähig sein, seine Struktur schnell zu erweitern und neue Fähigkeiten zu lernen. Es gibt ja zum Beispiel eine Entwicklungsstörung die mit Legasthenie einhergeht. Und Forscher haben auch schon neue Übungsstrategien erarbeitet, die die Gehirnaktivität verändern und den Menschen helfen können. Aber unsere Ergebnisse könnten vielleicht dazu dienen, Trainingsmethoden zu entwickeln, die nicht nur die Aktivität des Gehirns verändern, sondern auch seine Struktur."

    Vorher müssen aber noch viele Fragen beantwortet werden: Was genau bewirkt eine solche Strukturveränderung? Kommt sie tatsächlich dann zustande, wenn wir ähnlich lernen wie Kleinkinder? Und welche Übungen kommen dafür in Frage? Immerhin aber machen die Ergebnisse von Li-Hai Tan Hoffnung, dass Hans eines Tages vielleicht doch noch nachholen könnte, was Hänschen versäumt hat.