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Kleist. Eine Biographie

Heinrich von Kleist: Das war ein hell leuchtender Komet, der 1801 über Deutschland zum ersten Mal richtig zu sehen war, der für kurze Zeit auch im europäischen Ausland sichtbar gewesen sein muss und der im Jahre 1811 gleißend hell verglühte. Trotz seiner außergewöhnlichen Strahlkraft bemerkte den Komet damals niemand. Die Zeit war für diese Art Licht ganz offenbar nicht reif – erst spätere Generationen erkannten, was sich da über 34 Jahre für ein einzigartiges Wesen auf der Erde bewegt hatte. Heinrich von Kleist: So in etwa muss man sein eigenartiges Leben zusammenfassen, wenn man es auf den Punkt bringen will.

Peter Michalzik | 21.04.2003
    Spektakulär, aufsehenerregend für die damalige Zeit, war allein sein Selbstmord. Etwas davon hat sich bis heute gehalten und bestimmt das Kleistbild nach wie vor. Man kennt den Mann als den, dem auf Erden nicht zu helfen war. Dieses Wort, das Kleist selbst in einem Brief an seine Schwester Ulrike im November 1811 über sein Ende in Umlauf brachte, hat irgendwie jeder halbwegs Gebildete im Kopf – selbst die, die mit dem Namen Kleist nichts anfangen können. Der, dem auf Erden nicht zu helfen war: Auch die Kleist-Biographik hatte damit ihr Leitmotiv gefunden, vom ersten biographischen Abriss, den Eduard von Bülow im Zusammenhang mit der Kleistausgabe von Ludwig Tieck 1826 veröffentlichte, bis zu Rudolf Lochs neuer Lebensbeschreibung, die in diesem Jahr im Göttinger Wallstein Verlag erschienen ist und die hier vorgestellt werden soll.

    Wer aber war Kleist, als er lebte? Es war der Geheimrat von Goethe, der zum Leitmotiv auch noch den Takt vorgab:

    / Mir erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre.

    Selbst die Schwester Ulrike schien noch viele Jahre nach dem Tod ihres Bruders Heinrich von dieser Krankheit zu sehr berührt worden zu sein, um sich mit Kleist noch einmal abgeben zu wollen:

    "Sprechen wir nicht von ihm, es tut meinem Herzen weh.

    Lange konnte man sich über Kleist nicht anders äußern als mit Schaudern. Selbst Ludwig Tieck, der ein Jahrzehnt nach seinem Tod begann, seine Schriften herauszugeben, und ihm sehr wohl gesonnen war, war nicht frei davon. Es ist einfach so: Solange die Erinnerung an Kleists Leben noch irgendwie präsent war, löste er Betretenheit und Schamgefühle aus.

    Erst hundert Jahre später wendeten sich die Vorzeichen. Dann aber gleich ins genaue Gegenteil. Thomas Mann antwortete jetzt auf die Frage "Wie stehst du zu Kleist?" indem er ihn explizit gegen Goethe ausspielte:

    Die unzerstörbare Meisterlichkeit seiner Novellistik und die große, leidende Seele, die sich in seinen Dramen äußert, hat mich von jeher mit tiefster Ehrfurcht erfüllt, und mir scheint, dass diese Ehrfurcht einer der Punkte ist, in dem ein Mensch von heute sich in Opposition gegen die Majestät Goethes fühlen muss, dessen Kälte gegen die Erscheinung Kleists mir immer unbegreiflich und tadelnswert erschien.

    Heinrich von Kleist, der lange nicht einmal einen kleinen Seitenzweig der deutschen Literatur verkörpert hatte, war damit auf den majestätischen Trampelpfad des deutschen Geistes geführt, den Thomas Mann genauso besetzt hielt wie seinerzeit Goethe. Wo einmal Abscheu und Schaudern gewesen waren, standen jetzt Bewunderung und Identifikation. Grundsätzlich hat sich daran bis heute nichts geändert.

    Wo Identifikation ist, erzählt sich die Lebensgeschichte wie von selbst. Man kann quasi gar nichts mehr dagegen tun, wenn sie sich als die Geschichte einer tragischen Verkennung erzählt. Diese Geschichte ist in sich bündig, überzeugend und ergreifend. So richtig stimmig ist sie allerdings nicht. Vergessen wurde und wird, um nur ein Beispiel zu nehmen, über der Identifikation mit dem unglücklichen Kleist und seinem tragischen Ende immer, dass er auch der einzige Mörder unter den deutschen Großliteraten war: Bevor er sich selbst am Wannsee mit der Pistole ins Jenseits hinüberexpedierte, tat er desgleichen bei der Vertrauten seiner letzten Tage, Henriette Vogel. Kleist hatte kriminelle Energie, er war beileibe nicht nur das arme Opfer einer ignoranten Zeit, er war selbst hochaktiv, massstabsetzend, zuweilen herrisch, eine Figur, die sich zunächst einmal aus sich selbst definiert, durch ihre Einzigartigkeit und Stärke und nicht nur durch ihr tragisches Lebensschicksal.

    Das oder ähnliches, um es gleich vorwegzunehmen, hat auch Rudolf Loch nicht in den Blick bekommen. Dabei wäre es die zentrale Aufgabe einer neuen Kleistbiographie. Man müsste durch die Bewunderung zur Peinlichkeit und von der Peinlichkeit, die die Berührung erzeugt, zu Kleist vordringen.

    Dann würde der Leser vielleicht auch zu spüren bekommen, was über Kleists Charakter tatsächlich überliefert ist: Er war vor allem störrisch, "Konsequenztalent" wurde ihm einmal bescheinigt, dazu gehörte seine naive und unerschütterliche Treue, wo er einmal Vertrauen gefasst hatte. Die andere Seite seines Charakters war ein schwärmerisches, melancholisches Wesen, etwas Träumerisch-Rätselhaftes umgab ihn. Trotz seiner Aufenthalte in Paris und der Schweiz wirkte er irgendwie bieder, er war anspruchslos und hatte etwas hölzern Aufrichtiges. Gleichzeitig war er nervös, gehetzt, seine Stimmungen schwankten mehr als seine Mitmenschen auszuhalten in der Lage waren. Kleist war aufbrausend, schon in der Jugend ein "nicht zu dämpfender Feuergeist, der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend". Wenn er sich für etwas interessierte, schien er von stupender Intelligenz, was ihn nicht interessierte, bekam er erst gar nicht mit. Und nur die sensibelsten Geister spürten, dass er in einer eigentümlichen Beziehung zu einer Wahrheit stand, die sie nicht näher definieren konnten.

    Diese oder ähnliche Charakterisierungen gibt auch Rudolf Loch wieder, lebendig werden sie in seinem Buch allerdings nie. Wer dieser Kleist gewesen sein könnte, das bekommt der Leser an keiner Stelle zu spüren. Darum aber geht es letztendlich doch bei der Art Literatur, die man Biographie nennt. Die Bücher sind hier Ersatz für den fehlenden Mensch, wo Abwesenheit ist, suggerieren sie Präsenz. Und das sollten sie dann auch möglichst lebendig tun.

    Nichts davon bei Loch, er – so kann man es ruhig zusammenfassen – schreibt die alte Kleiststory schlicht fort und füllt dabei zusammen mit der neueren Kleistforschung einige Lücken. Denn Lücken kennt die Kleistforschung trotz ihres ausufernden Umfangs bis heute zu genüge, vom "Dichter ohne Biographie" sprach sehr zu Recht Günther Blöcker, der das bis heute beste Buch über Kleist geschrieben hat. Diese Überlieferungsarmut ist eine Spätfolge der Peinlichkeitsgefühle, die Kleist erzeugte. Auch darüber findet sich nichts bei Loch.

    Bei ihm erfahren wir über Fragen der Darstellung nur Folgendes:

    Beibehalten habe ich mein Anliegen, nicht nur akademische Fachkreise anzusprechen und dennoch den Dialog mit der Forschung zu suchen. Bei der relativ kargen Überlieferung der äußeren Lebenstatsachen Kleists war es naheliegend, das Werk des Dichters als das komprimierte Ergebnis innerer und äußerer Daseinsvorgänge, auf lebensgeschichtlich Bedeutsames hin zu befragen. Was dabei an Interpretation angeboten wird, ist, neben der Vergegenwärtigung der poetischen Welten, deshalb vor allem eine Suche nach Lebensstoff. Werkanalysen waren nicht beabsichtigt.

    Genau die, ganz normale Werkanalysen, aber liefert Loch vergleichsweise ausführlich, um sie dann auf die Person Kleists zu projizieren. Dieses Verfahren ist nicht sehr angesehen, weder in der Forschung noch in der Publizistik, tatsächlich wird es, reflektiert oder nicht, unbewusst oder souverän damit spielend, bei Schriftstellerbiographien aber dauernd angewandt. Man könnte Lochs Selbstcharakterisierung auch viel einfacher ausdrücken: Er liest Kleists Schriften als Ausdruck seiner Person. Warum auch nicht, würden wir eigentlich gern dazu setzen, wenn es besser gelungen wäre.

    Wer über Heinrich von Kleist eine Biographie schreibt, kommt an zwei Ausgangsfragen nicht vorbei. Er muss Lücken mit Vermutungen füllen. Und er muss erklären, was es war, das diesen Dichter befähigte, gleich am Anfang des neuen Jahrhunderts die modernste Dichtung für dieses Jahrhundert zu schreiben, quasi nur aus sich selbst herausholend. Es steckt etwas Elementares in Kleists Dramen und Novellen, das man immer als Kern seines Wesens begreifen wird. Darum geht es, das gilt es in den Blick zu bekommen.

    Sehen wir also zu, wie Loch damit umgeht. Wir befinden uns zum Beispiel im Dresden des Jahres 1809. Die preussische Regierung hatte definitiv vor Napoleon kapituliert, die Hoffnungen, auch die von Kleist, ruhten auf Österreich, sein jüngstes Stück, die "Herrmannsschlacht", machte Hermanns Kampf gegen die Römer zum Vorbild eines rigorosen Kampfes gegen die Franzosen. Kleist war – in aussichtsloser Lage – zum Patrioten mutiert, er hatte – aber das wußte er natürlich noch nicht – hier die Zeit seiner größten Anerkennung erlebt, und war – so vermutet man – konspirativ im Rahmen der Kriegsvorbereitungen gegen die Franzosen tätig. Am 29. April verließ er dann Dresden. Aber warum? Auf dieses biographische Detail ist von der Forschung viel Mühe verwandt worden. Lochs Antwort auf diese Frage lautet so:

    Am 26. April verließen Zichy und Buol aufgrund eines sächsischen Ausweisungsbefehls überstürzt Dresden. Kleist kam erst drei Tage später los. Möglicherweise hatte er Probleme mit seinen Gläubigern, oder er sollte, wie auch vermutet wurde, Zichys Frau beistehen. Eigentlich hatte Kleist ja in Dresden bleiben wollen. Wegen der französischen Drohungen gegen die an der österreichischen Pressekampagne Beteiligten mag es ihm ratsam erschienen sein, sich auf österreichisches Hoheitsgebiet zu begeben. Die Unmöglichkeit von sächsischem Boden aus weiter effektiv der nationalen Sache dienen zu können, mag dann den Ausschlag für seine Ausreise am 29. April gegeben haben. Denn fest stand, dass er sich da einsetzen wollte, wo er unmittelbar wirken zu können glaubte.

    Dieser Absatz ist typisch für das gesamte Buch. Er enthält vier Mutmaßungen über den Grund der Abreise, ohne dass sich Loch für eine entscheiden würde, ohne dass er sie diskutieren würde. Vier Gründe halten besser als einer, ist die Maxime. Und in diesem Absatz finden sich fünf Ausdrücke des Vermutens wie "möglicherweise", "mag" ... etc. Damit aber nicht genug. Im nächsten Absatz finden sich wieder fünf solcher Ausdrücke, so dass wir auf einer knappen Buchseite mit zehn Sätzen konfrontiert werden, die als Vermutung zu klassifizieren sind. Hier zeigt sich deutlich, was auf das ganze Buch zutrifft: Loch hat ein Darstellungsproblem. Es resultiert aus seiner Unentschiedenheit, Kleist ist bei ihm eine Summe von Möglichkeiten. Loch trägt viele, wenn nicht alle bekannten Einzelheiten zusammen, aber die Zeit zerfasert ihm dabei genauso wie Kleist. Eine Idee, wer Kleist war, hat er nicht. Das Wort "vermutlich" ist dagegen das Leitmotiv seiner Arbeit.

    Die wesentliche, auf der Hand liegende Vermutung zu Kleists politischem Engagement findet sich dagegen in Lochs Buch nicht ausgeführt. Es ist offensichtlich, dass Kleist sich für Deutschland, d.h. Preussen, Sachsen oder auch Österreich, zu engagieren begann, als die Lage aussichtslos war. Deutschland war in der Situation, in der die Bewohner von Chili nach dem Erdbeben sind, wie Kleist sie in seiner Erzählung beschreibt: vollkommen mittellos, aber dadurch eben auch in einen reinen Naturzustand zurückversetzt. Außerdem zeichnete sich, hervorgerufen durch den französischen Feind, die Möglichkeit einer Gemeinschaft ab, die Kleist so schmerzlich vermißte. Er könnte sich also in den Dienst einer Sache stellen, die Freiheitspathos, die Aufrichtung und die Neugründung des deutschen Volkes aus einem archaisch gedachten Zustand verband.

    Die Situation passte zu Kleists Seelenlage, wie wenn sie für ihn gemacht wäre. Für einen Moment schien es als würden die Zeitläufte und Kleist doch noch zusammenfinden. Loch fällt in diesem Zusammenhang aber nur ein, Kleists Wille zur politischen Aktion gegen den ohnehin nicht erhobenen Vorwurf in Schutz zu nehmen, dass es dabei um eine "pathologische Verkehrung der Natur" handle – was immer das bedeuten soll.


    Dass Loch wirklich an Kleist, dem Unverständnis für dessen Besonderheit gescheitert ist, zeigt der erste Teil, in dem Kleist noch kein Dichter ist. Hier ist das Buch gelungen, es füllt die großen Lücken in Kleists Biographie nicht nur mit plausiblen sondern auch an den Gegenstand hinreichenden Vermutungen.

    Man kann vermuten, dass er nach dem Tode des Vaters von Berlin nach Frankfurt zurückgeholt wurde, um hier eine kostengünstigere Ausbildung zu erhalten; womöglich bei Martini, was Kleists spätere, so vertrauensvolle Hinwendung zu diesem erst recht verständlich machen würde. Die Ausbildung in Frankfurt, sofern es sie gegeben hat, kann nur bruchstückhaft gewesen sein. Längst nicht so intensiv und umfassend wie die in Berlin begonnene. So dürfte in Kleist früh das Bewusstsein entstanden sein, er habe hinsichtlich seiner Bildung gegenüber Gleichaltrigen Nachholbedarf, was seinen späteren Bildungs- und Erziehungseifer angefacht haben wird.

    Ja, so wird es tatsächlich gewesen sein!

    Loch erzählt hier Kleists Entwicklung denn auch bündig und auf einen Punkt zulaufend:

    Im Alter von einundzwanzig Jahren befand sich der Gardeleutnant Kleist am Beginn seiner militärischen Karriere, als er seinem ehemaligen Lehrer die Mitteilung machte, dass er die preußische Armee verlassen werde. Sie korrumpiere nicht nur sein Gewissen, sondern verhindere auch seine moralische und wissenschaftliche Ausbildung, die fortan sein Glück gründen solle.

    Das sind die beiden ersten Sätze des Buches. Es sind auch die besten. Darauf läuft zum Abschluss von Kleists Jugend alles hin, nach diesem Punkt steht der Heinrich vor Kleist vor uns, den wir kennen. Und bis dahin funktioniert Lochs Biographie.

    Danach versagt sie. Die Probleme sind sonder Zahl: Es scheint als sei Kleist unerträglich gewesen. Nichts davon bei Loch. Vielmehr gibt es bei ihm eine Tendenz, Kleist zu rechtfertigen, ihn in Schutz zu nehmen. Lochs Buch wirkt manchmal, wie wenn man Kafkas berühmter Verlobter Felice Vorwürfe machen würde, weil es am Ende mit den beiden doch nicht geklappt hat. Wilhelmine von Zenge hat für Loch schlicht ihren Heinrich nicht verstanden. Ja, wie sollte sie denn? Wie sollte die Tochter eines gewöhnlichen Stadtkommandanten diesen Kleist verstehen? Loch hat keinerlei Begriff von dem Pathologischen, das in diesem Mann eben auch am Werk war. Er begreift Kleist dagegen als Heros, der sich in der Auseinandersetzung mit seiner Zeit bewährt bzw. scheitert. Das Unbewusste und seine Beziehung zum Menschen scheinen sich hundert Jahre nach Freud zu Loch dagegen noch nicht durchgesprochen zu haben. Dafür wird Kleist zu einem dunkel Vorausschauenden:

    Doch Kleist blickte tiefer als andere, ahnungsvoll erfasste er das vorerst nur in Ansätzen Vorhandene. Rücksichtslose Besitz- und Machtgier werden zu Merkmalen des "neuen Weltgeistes". Dieser wird bald Millionen Opfer fordern und womöglich das letzte Kapitel in der Geschichte der Menschheit sein.

    Worum geht es hier? Hegel, Karl Kraus, Hitler, Harry Potter? Gemeint ist wohl Napoleon. Sicher kann man aber nicht sein. Außerdem hat Loch einen unseligen Hang zur allgemeinen Sentenz:

    Dichter gestalten nicht nur eigene Erlebnisse aus. Sie stellen ebenso Fiktionen in ihren Dienst, um etwa heimliche, nicht befriedigte Wünsche und Befürchtungen zu kompensieren.

    Aha, Loch hat doch etwas von Freud gehört! Aber wäre es doch nicht dazu gekommen, dann wären uns diese Plattitüden erspart geblieben. Loch spricht von Hedonistischem, wo er der Frage nachgehen sollte, ob Kleist in Paris im Bordell war. Es schleichen sich falsche Urteile ein, etwa wenn er Kleist als den Höhepunkt der Großstadtschriftstellerei bis hin zu Rilke sieht oder Raphael als Maler "individueller Menschendarstellung". Und er vergreift sich in den Charakterisierungen:

    Isoliert wie er war, hoffte Kleist, wenn er schon aufs Monologisieren angewiesen bleibt, durch einen produktiven imaginären Dialog einen wirkungsvollen therapeutischen Effekt zu erzielen.

    Ja, um Gottes Willen, woher weiß Loch das nur?

    Loch schafft es außerdem nicht, aus seinen vielen Details eine Synthese herzustellen. Und in seinem Bemühen, summarisch zu sein, schleichen sich viele schiefe Charakterisierungen des Dichters ein, etwa dass Kleist eine "gewisse Skepsis gegenüber der Stimme im Inneren des Menschen" gehabt habe. Wie, Kleist, der Dichter des Käthchen und des Homburg, glaubt nicht an die Stimme im Inneren des Menschen? Die These hätten wir doch gern ausgeführt.

    Was also ist hier schief gelaufen? In seiner im letzten Jahr erschienen, großartigen Kafka-Biographie hat Reiner Stach zwei Arten von Biographien unterschieden. -- Die meisten Biographien, auch die besten, dürften auf diese Weise entstanden sein: mittels einer Art von Wabentechnik. Das Bild des gelebten Lebens zerfällt zunächst in eine gewisse Anzahl thematischer Segmente, die relativ unabhängig voneinander sind und zumeist auch unabhängig recherchiert werden müssen: Herkunft, Bildung, Einflüsse, Leistungen (oder Untaten), soziale Beziehungen, Religion, politischer und kultureller Hintergrund. Auch wenn schließlich noch so viele Interdependenzen dieses klare Bild verwischen, will der Biograph seinen Leser nicht einer chaotischen Fülle ausliefern, so bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als die Fiktion einer topischen Übersichtlichkeit zunächst aufrecht zu erhalten und die einzelnen Themen je für sich zu synthetisieren: das heißt, die Waben zu schließen. Dann erst, in einem zweiten Schritt, wird er versuchen, die einzelnen Zellen miteinander zu verkleben, [...] Ganz andere Anforderungen hingegen stellen Figuren, bei denen die Zahl der Topoi begrenzt, deren wechselseitige Abhängigkeit aber schwer durchschaubar ist: komplexe Charaktere, bei denen alles mit allem zusammenhängt. Kafka ist hier der paradigmatische Fall.

    Man könnte statt Kafka auch Kleist sagen, dessen Leben zwar äußerlich weitaus ereignisreicher als das von Kafka war, woran Loch uns jetzt mit seinem Buch wieder erinnert hat, das immerhin ist seine Leistung, aber Kleists Leben scheint sich genauso um ein einziges Motiv zu zentrieren wie das von Kafka. Alles scheint mit allem in einem Topoi verbunden.

    Darum ginge es. Loch hat aber ein Buch nach dem ersten von Stach herausgestellten Prinzip geschrieben, er hat die neuen Flicken, die die Kleistforschung hergestellt hat, in den alten löchrigen Teppich geklebt. Normalerweise ist dagegen nichts zu sagen, im vorliegenden Fall verfehlt es den Gegenstand aber vollständig.

    So ist dieses Buch wohl vor allem an der fehlenden Methodik gescheitert, Loch hat eine viel schlichtere Auffassung von seinem Metier als Stach:

    Man kann Biographien auf sehr unterschiedliche Weise schreiben. Ich habe mich im wesentlichen für die Goethesche Auffassung entschieden, die er im ersten Teil von Dichtung und Wahrheit formuliert: "Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt und Menschenansicht daraus bildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt.

    Eigentlich brauchen Biographen keine durchreflektierte Haltung zu ihrem Metier, wenn sie gut erzählen können reicht das aus, um den Porträtierten zu vergegenwärtigen. Bei Kleist ist das anders. Was Loch mit Goethe postuliert, ist für Goethe selbstverständlich ein hilfreiches und zielführendes Verfahren. Kleist aber deckt man so zu, wo nicht mit einem Grabstein, so doch mit einem dicken Daunen-Plumeau, das in diesem Fall die "Kleistforschung" ist.