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Kleist-Förderpreis 2003

Neben der Europa-Universität Viadrina ist der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker das zweite überregional ausstrahlende kulturelle Highlight der Kleiststadt Frankfurt an der Oder. Er besteht aus einem Preisgeld, das den jungen Stückeschreibern ein paar Monate ruhige Schreibtischarbeit ermöglichen soll und beinhaltet eine Uraufführungsgarantie, also den Bühnentest für das preisgekrönte Stück. Für diese vor acht Jahren ins Leben gerufene AutorInnenförderung bzw. für die Auswahl der jeweiligen Jury spricht auch, dass mehr als die Hälfte der bisherigen Preisträger, darunter Marius von Mayenburg oder Andreas Sauter und Bernhard Studlar keine theatralen Eintagsfliegen blieben.

Von Karin Fischer |
    Rebekka Kricheldorf ist 29 Jahre alt, hat Szenisches Schreiben an der Hochschule der Künste in Berlin studiert und fiel zuerst vor zwei Jahren beim Heidelberger Stückemarkt auf, wo sie mit einem humorvoll verwickelten Märchen für Erwachsene namens "Prinzessin Nicoletta" den Verleger- und den Publikumspreis gewann; das Stück wurde im März 2003 in Gießen uraufgeführt, am Neumarkt Theater in Zürich nachgespielt - und zuletzt doch für zu leicht befunden. Ihr zweites Stück "Kriegerfleisch" hielt Juror und Laudator Oliver Bukowski unter den eingereichten 150 Stücken nicht nur für den "gewagtesten, originellsten und sprachlich begabtesten Text"; er sieht in ihm sogar eine neue, sehr moderne Art, politisches Theater zu machen. Nach den kitchen-sink-Sozialdramen und den Blut-Sperma-Gewaltorgien, die vor ein paar Jahren aus Großbritannien kamen, und dem darauf folgenden "Anything Goes" aus privater Nabelschau, postmoderner Textfläche und medial inspiriertem Hyperrealismus-Trash gibt es heute, so Bukowski, wenn überhaupt von Trends die Rede sein kann, einen Trend zurück zu Plot und Thema. Nicht selten, wie auch in "Kriegerfleisch", mit ironischem Bezug auf eine literarische Meta-Erzählung (hier Bram Stokers "Dracula"). Die Geschichte über Traum und Alptraum vom ewigen Leben aus dem Labor wird dabei souverän und leichthändig verwoben mit sozialdarwinistischen Slogans der - in diesem Fall sehr jungen - Leistungsgesellschaft, mit täglichen Horrormeldungen aus Nachrichten oder Liebesleben, mit Zukunftssehnsüchten und Sinnkrisen einer geschichtspessimistischen Generation.

    Kricheldorffs Personal zitiert Stoker im Namen, ist aber ganz 21. Jahrhundert: Hels, ein eitler, erfolgversessener Wissenschaftler auf der Jagd nach dem Rezept für die Unsterblichkeit, der sich als gutes Produkt vermischter Gene präsentiert und seiner Assistentin Mina, die sich für Geld seinen Versuchen zur Verfügung stellt, nicht nur ein neues Gesicht, sondern offenbar auch den Verlust einiger Intelligenz-Zellen beschert hat. (Der Labortisch in Münster gleicht denn auch einem riesigen Altar, auf dem wahlweise Ratten oder Menschen im Dienst der Wissenschaft geopfert werden.) Kollege Hark lässt sich zwar nur von seiner emanzipierten WG-Mitbewohnerin Fizzi als Beobachtungsobjekt für deren Magisterarbeit missbrauchen, leidet aber von Anfang an unter einer wissenschaftlichen Sinnkrise, die ihn anfällig macht für das Überwirkliche: den Untoten Isidor, der als unsterblicher Enzyklopäde die Szene mit Histörchen zum Thema Evolution kommentiert und gleichzeitig als Vampir die Geschichte vorantreibt.

    Kricheldorf ist ihr Thema ebenso verspielt komisch wie poetisch ernst angegangen. Indem sie zwei "Unsterblichkeitsmodelle" gegeneinander stellt, modelt sie kurz mal die literarische Vorlage in eine gesellschaftskritische Zeitgeist-Komödie um. Der Witz liegt in einer einfachen Umkehrung: die Untoten sind keine blutsaugenden Monster, sondern mit Synästhesie geschlagene arme Leidende; ihr ewiges Leben ekelt sie ebenso an wie die Menschen die eigene Sterblichkeit. Der Fortschritt, zu Ende gedacht, muss in Wahnsinn oder unendliche Langeweile münden. Wer kann das wollen?

    Die Uraufführung von "Kriegerfleisch" in Münster - Generalintendant Thomas Bockelmann inszenierte selbst - setzt ganz auf den komischen Gehalt des Stücks und mit ihm einfach umrissene Typen auf die Bühne. Hels sieht aus wie jeder Durchschnittswissenschaftler in Deutschland, ist damit aber eigentlich auch zu harmlos für seinen evolutionären Auftrag. Mina quietscht und stakst als sexy Labormäuschen mit heftigem Schmollmund und vermutlich gebotoxtem Augenaufschlag durchs Bild; einzig der namenlose Fremde am Bühnenrand scheint nicht ganz von dieser Welt. Er steht für das Quentchen echter Irritation, das sich aus diesem eher kleinen Text jenseits von Slapstick auch heraus lesen ließe, für eine Dosis Schmerz und eine Dimension von Unwirklichkeit, wie sie beispielsweise Roland Schimmelpfennigs Stücke auszeichnen. Rebekka Kricheldorfs "Kriegerfleisch" kann auch anders zubereitet werden, kulinarisch und kritisch genug für die Theaterküche ist es.