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Kleist mit Starbesetzung

Der Regisseur Jan Bosse hat sich dafür entschieden, die Hauptrolle des Stückes "Der Zerbrochene Krug" von Schauspieler Edgar Selge spielen zu lassen. Edgar Selge ist ein wunderbarer, intellektueller Schauspieler, der das Verschlagene, Fintenreiche, aber auch Hilflose der Figur aus ganz nebensächlichen Angestellten-Attitüden herausentwickelt, eine Art Woody Allen, der sich auf den Richterstuhl verirrt hat.

Von Christian Gampert |
    "Lustspiel" ist ein schöner, aber etwas anachronistischer Untertitel für dieses Stück. Denn man kann fast alles mit dem "Zerbrochenen Krug" anstellen: Man kann dem Affen Zucker geben und ein rasselndes Pointenstück daraus basteln, man kann aus der Vorlage aber auch etwas ganz verhangen Melancholisches destillieren, indem man sich völlig auf die Hauptfigur konzentriert:

    Ein tragischer Bürger, der hinter kleinen Mädchen her ist. Dass da einer über sich selbst zu Gericht sitzt, auch wenn er nur Dorfrichter ist, resümiert ja auf possenhafte Weise das, was wir der europäischen Aufklärung verdanken: Die Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion und zum politischen schlechten Gewis-sen, auch wenn der schauspielende Richter, zum Vergnügen des Publikums, sich zwei Stunden lang in den Disziplinen Verleugnung und Verdunklung der bösen Tat übt.

    In Zürich ist der Übeltäter am Anfang nackt. Das ist insofern mutig, als es die Figur, die zu allem Überfluss auch noch Adam heißt, schon mit dem Startschuss demontiert, um sie hinterher notdürftig wieder zusammenzuflicken. Es ist allerdings auch desillusionierend für den Zuschauer, weil der Schauspieler Edgar Selge mit dem Mut zur Banalität, zu all seiner leptosomen, etwa 50-jährigen nackten Körperhaftigkeit auf die Garderoben-Tische des Foyers springt, vom erotischen Sturz der vergangenen Nacht berichtet und das Publikum damit auf die eigene, durchs Ausgehdress schick kaschierte Mickrigkeit verweist.

    Der Regisseur Jan Bosse hat sich dafür entschieden, das Stück nur als komisches Übungsfeld für die Hauptfigur zu begreifen. Das macht das moralische Problem des bigotten Jurisprudenzlers Adam kleiner, aber es macht natürlich den Aktionsradius des Hauptdarstellers groß. Edgar Selge ist ein wunderbarer, intellektueller Schauspieler, der das Verschlagene, Fintenreiche, aber auch Hilflose der Figur aus ganz nebensächlichen Angestellten-Attitüden herausentwickelt, eine Art Woody Allen, der sich ins Katasteramt, auf den Richterstuhl verirrt hat.

    Auch die Kontrollinstanz, der Gerichtsrat Walter, ist mit einem großartigen Understatement-Komiker besetzt, mit Jean-Pierre Cornu, der aber leider den ganzen Abend einen bandagierten gestreckten Zeigefinger vor sich hertragen muss. So wird das Publikum pädagogisch darauf gestoßen, wie ungeheuer amüsant es seit neuestem im Züricher Schauspiel wieder zugeht.

    Zunächst aber wird eine kleine Marthaler-Gedenkfeier abgehalten: Man darf dem offenbar nicht gewerkschaftsorganisierten - und daher auch nicht streikenden – Bühnenpersonal ausgiebig dabei zusehen, wie es die Bühne, einen mit Girlanden dekorierten alten Ballsaal von eben Marthalerscher oder Viebrockscher Trübseligkeit, schlurfend herrichtet für die Gerichtsverhandlung, mit ganz vielen Mikrofonen, in die man dann hineinkriecht, und einem Spiegel fürs Pub-likum. Der Herr Gerichtsrat tritt dann mal in Unrat, auf den Fahnen im Hintergrund steht etwas von Liberté und Patrie, in Saal schweben Luftballons. Eine patente Marthe Rull in Jeansanzug und mit 50iger-Jahre-Brille, die Schauspielerin Franziska Walser, schält sich als Anklägerin aus dem Publikum.

    Wir unter uns also: So ist der Abend angelegt. Als nette kleine Publikumsanmache in der Familie, als Probierhandeln mit geladenen Gästen. Der Regisseur Jan Bosse hält das Stück immer wieder an, zu kleinen Denkpausen, und gibt dann mit Running Gags wieder Gas, mit quietschenden Schraubenziehern, Limburger Käse und Volkshochschul-Projektoren. Ein Dialog-Ping-Pong, das bisweilen bedenklich in Richtung Mitternachts-Soap und RTL-Comedy schwankt: Das Fernsehgericht tagt, und die geheimen Gewissensbisse des Mädchenschänders Adam werden völlig weggespielt mit immer neuen, politik-kompatiblen Verteidigungs-Volten.

    Edgar Selge bietet an diesem Abend die hohe Schule der Behändigkeit, ein Sophistiker vor dem Untersuchungs-Ausschuss, ein Spieler, der sich in eine Art argumentative Selbstbesoffenheit hineinsteigert. Und der umgeben ist von halbstarken Elvis-Rüpeln im Glitzerjackett und einem verführerisch verstockten Evchen im Petticoat. Die verklemmten 50iger Jahre halt. Am Ende stellen sich alle zu einem jämmerlichen Familienbild vor den eisernen Vorhang. Aber die nachdenkliche Verlegenheit, die sich da einstellt, die hatte Jan Bosse in den vorangegangenen zweieinviertel Stunden gründlich vergeigt.