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Klima auf der Kippe

Seit Beginn des Industriezeitalters ist die Durchschnittstemperatur um fast 0,8 Grad gestiegen - und die Erwärmung geht weiter. Schon bald könnte die steigende Temperatur sogenannte Kipppunkte erreichen, die das Klima schlagartig in einen anderen Zustand bringen würden.

Von Volker Mrasek | 06.12.2009
    "Also, wenn eine Kugel auf einer Schneide steht, dann könnte sie darauf balancieren. Und wenn man sie nur ganz winzig antippt, dann fällt sie runter."

    "Der entscheidende Punkt ist, dass man nur leicht stoßen muss und bekommt ein großes Signal."

    Klima auf der Kippe. Wann die Erderwärmung wirklich kritisch wird. Eine Sendung von Volker Mrasek.

    Seit Beginn des Industriezeitalters ist die Durchschnittstemperatur der unteren Erdatmosphäre um knapp 0,8 Grad Celsius gestiegen.

    "Wir verändern das globale Klima durch die Emission von Treibhausgasen. Das ist ein physikalisches Grundgesetz einer Planetenatmosphäre. Wenn man Treibhausgase zunehmen lässt, dann muss die Oberfläche sich erwärmen."

    Hartmut Graßl, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.

    Atmosphäre und Ozean werden sich also weiter aufheizen. Daran bestehe kein Zweifel, sagt auch die US-Atmosphärenchemikerin Susan Solomon. Sie ist führende Autorin des letzten Weltklimareports von 2007, herausgegeben vom IPCC, dem Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen der Vereinten Nationen

    "In den nächsten beiden Jahrzehnten müssen wir mit einer weiteren Temperaturzunahme um jeweils 0,2 Grad rechnen. Selbst wenn wir die Treibhausgas-Emissionen ab sofort konstant hielten, wäre es immer noch ein Zehntel Grad pro Jahrzehnt. Das liegt daran, dass das Klima träge ist und mit zeitlicher Verzögerung reagiert. Eine weitere Erwärmung ist also beschlossene Sache."

    "Immer derselbe eintönige Eishorizont. Nichts als Eis. Nach keiner Richtung ein Zeichen von Land, kein offenes Wasser. Wir wissen weder, wo wir sind noch wissen wir, wie das enden soll."

    Eine endlose Eiswüste liegt vor Fridtjof Nansen, als er im Sommer 1895 bis auf 86 Grad Nord vorstößt. Zu Fuß. Sein Schiff, die "Fram", musste der norwegische Polarforscher zurücklassen. Selbst im Spätsommer verschwindet der Arktische Ozean unter meterdickem Packeis.

    "Ein hoffnungsloses Gewirr von Ketten, Rinnen, Schlammeis und ungeheuren Blöcken. Alles kunterbunt durcheinandergeworfen, so dass man sich einbilden könnte, man blickte auf plötzlich erstarrte Brandung."

    "Und die Frage ist jetzt: Gibt es im Erdsystem solche kritischen Grenzwerte, ab wo das System sich in seiner inneren Struktur schlagartig verändert?"

    Im September 2007 ist die Meereis-Ausdehnung im hohen Norden so schwach wie nie. Das Nationale Schnee- und Eisdaten-Zentrum an der Universität von Colorado in den USA meldet einen Flächenverlust von 40 Prozent gegenüber dem Mittel der 80er- und 90er-Jahre. Zugleich wird das Eis immer dünner. Nach Analysen von Polarforschern der Universität von Washington in Seattle schrumpft es um 60 Zentimeter pro Jahrzehnt zusammen; 2007 ist es im Schnitt nur noch 2,60 Meter dick.

    Klimaforscher sehen diese Entwicklung mit großer Sorge. Es geht nicht mehr nur um einen stetigen Prozess, um eine fortschreitende Veränderung des Klimasystems, die noch einigermaßen kalkulierbar sein mag. Zu befürchten ist vielmehr, dass die globale Erwärmung schon bald Schwellenwerte überschreitet: Tipping Points oder Kipppunkte, wie die Experten sagen. Das Klima könnte einen Schalter umlegen und in einen anderen Zustand kippen. Unwiderruflich.

    Der Arktische Ozean steht ganz oben auf der Liste dieser Kippelemente. Wenn sein Meereis immer mehr Masse verliert, ist irgendwann zu wenig da, um es über den immer milder werdenden Sommer zu schaffen. Peter Lemke, Leiter des Fachbereichs Klimawissenschaften am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, fürchtet um ein ganzes Ökosystem.

    "Im Meereis leben kleine Krebschen. Es leben die größeren davon, die da drunter sind. Davon leben dann die Fische. Die Robben leben davon. Und der Eisbär, der lebt auch davon. Und wenn das Eis sich zurückzieht, kommen dann andere Arten nach, die warmes Wasser lieben. Die kommen nach Norden, weil das Wasser wärmer wird."

    Das schneeweiße Meereis reflektiert einfallendes Sonnenlicht wirkungsvoll. Wenn es sich zurückzieht, kommt dunkler Ozean zum Vorschein, der die Strahlung nicht zurückwirft, sondern absorbiert. Statt einer Abkühlung bekommt man eine Erwärmung.

    "Wir wissen, dass in der Arktis die Temperatur ungefähr doppelt so stark ansteigt wie global gemittelt."

    Im Moment nimmt die Lufttemperatur in der Arktis um 1,1 Grad Celsius pro Jahrzehnt zu. Allein 0,9 Grad davon gehen auf das Konto des Meereisrückgangs. Das ermittelten Forscher der Universität von Wisconsin in Madison soeben bei der Auswertung aktueller Satellitendaten.

    Wolfgang Lucht, Leiter des Forschungsbereiches "Klimawirkungen" am PIK, dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung:

    "Beim arktischen Seeeis ist das Kippelement möglicherweise schon ausgelöst worden. Und wenn es noch nicht ausgelöst worden ist, sind wir wahrscheinlich sehr in der Nähe des Punktes, wo wir eine Erwärmung erreicht haben, dass das arktische Seeeis für den Sommer unrettbar verloren ist."

    "Welch eine Nacht! Es ist ein fast unbegreifliches Wunder, dass wir noch am Leben sind. Das Inlandeis hat gekalbt, gerade hier an unserer Aufstiegsstelle. Im Meere wuchs eine Eismauer empor, höher und höher. Es war der losgelöste Eisberg, der sich nach dem Kalben wälzte und seine wassertriefende Seite hoch in die Luft hinauftrug."

    September 1912. Unter dramatischen Umständen versucht der deutsche Polarforscher Alfred Wegener den mächtigen Eisschild Grönlands zu überqueren. Über Jahrtausende hat sich Schnee zu einem Eispanzer aufgetürmt, der mehr als 3000 Meter in die Höhe ragt.

    "Ich erwachte vom Krachen im Eise, und in diesen höchst unheimlichen Laut mischte sich das Poltern herabfallender Eisblöcke."

    "Es ist einfach so, dass eine solche Kontinental-Eismasse sich selber stabilisiert. Wenn das Eis einmal da ist, hat es ja eine gewisse Höhe. 3000 Meter dick ist das. Und oben an der Oberfläche ist es dann natürlich sehr kalt. Denn die Atmosphäre wird nach oben hin pro Kilometer etwa sechs bis sieben Grad kälter. Und damit erzeugt sich das Eis selber praktisch die Hochgebirgslage, die dann so kalt ist, dass das Eis auch nicht abtauen kann."
    Seit rund einer Million Jahre, seit dem Ende des warmen Pliozäns, trägt Grönland vermutlich seinen Eispanzer. Die Kältekonservierung funktioniert bis heute. Doch jetzt stellt der Klimawandel seine Fortdauer in Frage. Stefan Rahmstorf, Forscher am Potsdam-Institut und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung:

    "Wenn es wärmer wird und ein kritischer Punkt überschritten wird, und das Eis dadurch dünner wird, dann gerät die Oberfläche allmählich in immer wärmere Luftschichten. Und das wird dann zum Selbstläufer. Das Eis wird dann allmählich komplett verschwinden. Und der letzte Weltklimabericht des IPCC sagt, dass so ab knapp zwei Grad globaler Erwärmung dieses Risiko dann erheblich wird, dass wir den grönländischen Eispanzer destabilisieren."

    Die meisten Länder der Erde wollen die globale Erwärmung heute auf zwei Grad begrenzen gegenüber der vorindustriellen Zeit. Das hat unter anderem mit der kritischen Schwelle für das Grönland-Eis zu tun. Die Gletscher komplett abzutauen, würde zwar Jahrhunderte dauern, wenn nicht gar Jahrtausende. Das weiß auch Wolfgang Lucht:

    "Aber wenn das Abschmelzen einmal begonnen hat, dann ist nach allem, was wir wissen, der Prozess nicht mehr umkehrbar. Das heißt, die Auswirkungen, ein Anstieg des Meeresspiegels um sieben Meter – also, das würde sämtliche Küstenstädte: Venedig, Amsterdam, London, Lagos - die wären alle weg. Aber eben erst frühestens in einigen Hundert Jahren. Der Punkt ist aber: Nur in diesem Jahrhundert kann es verhindert werden."

    Wo die Temperaturschwelle genau liegt, die Grönland besser nicht überschreiten sollte, ist ungewiss. Laut Stefan Rahmstorf vermag das niemand zu sagen:

    "Genau bei 1,9 Grad globaler Erwärmung haben wir den kritischen Punkt überschritten, und dann schmilzt das Ding ab, sondern, nein, IPCC sagt: Irgendwo zwischen 1,9 und 4,2 oder so, da liegt der kritische Punkt. Man kann ihn leider nicht genauer eingrenzen. Das können die heutigen Klimamodelle einfach noch nicht leisten."

    Nach einer Studie englischer, dänischer und US-amerikanischer Forscher wäre selbst eine globale Erwärmung von sechs Grad noch unkritisch. Das Team um Jonathan Bamber von der Universität Bristol benutzte ein verbessertes Energie-Bilanzmodell für den grönländischen Eisschild. In den Simulationen kam heraus, dass Schmelzwasser von der Oberfläche im Inneren des Eispanzers wieder gefriert und gar nicht ins Meer abfließt. Das würde mehr Luft verschaffen für ein entschlossenes Handeln im Kampf gegen dramatische Klimaveränderungen.


    "Jetzt gibt’s aber noch einen ganz anderen Prozess. Und das ist das Fließen des Eises. Auch da diskutiert man, ob das nicht ein Kippelement ist, wo bei einer bestimmten kritischen Grenze dann das Eis richtig ins Rutschen kommt. Man beobachtet auch, dass die Auslassgletscher von Grönland sich in den letzten zehn, 20 Jahren deutlich beschleunigt haben, um ein Mehrfaches zum Teil, in ihrer Fließgeschwindigkeit. Das ist ein Prozess, der wesentlich rascher zum Eisverlust in Grönland führen kann."

    Je zügiger die grönländischen Gletscher in den Nordatlantik abrutschen und sich dort auflösen, desto schneller wird auch der Meeresspiegel steigen. Genauso verhält es sich im Prinzip auch mit den Eisströmen der Antarktis am anderen Pol der Erde, wenn sie sich vom Festland lösen und im Südlichen Ozean verschwinden.

    "Wir befürchten, dass im schlimmsten Falle bis Ende des Jahrhunderts sogar bis zu zwei Meter Meeresspiegelanstieg schon zusammenkommen könnten. Das haben Studien von amerikanischen Glaziologen gezeigt. Wir selber kommen auch zu ähnlichen Ergebnissen mit einer anderen Methode in einer neuen Arbeit, die demnächst erscheinen wird. Das heißt, dass wir schon in diesem Jahrhundert für den Menschen verheerende Auswirkungen zu befürchten haben."

    "Wir standen auf, gerade als es zu stürmen begann. Der Wind hielt tagsüber an und ging allmählich in einen Schneesturm bei minus 55 Grad Celsius über. Unter normalen Umständen würden wir in derart ernster Witterung nicht marschieren, doch wir haben keine Zeit zu verlieren."

    Entkräftet befindet sich Ernest Shackleton im Februar 1909 auf dem Rückmarsch aus der zentralen Antarktis. Mit drei Expeditionsbegleitern war der Ire fast bis zum Südpol vorgestoßen. 180 Kilometer fehlten noch, als das Quartett gezwungen war, kehrtzumachen.

    "Es ist jetzt eine Frage von Leben und Tod. Vor uns liegt reichlicher Proviant, doch hinter uns lauert der Tod. Es ist zu kalt, um mehr zu schreiben. Gott sei Dank, wir nähern uns dem Ziel."

    "Vereinfacht gesagt lautet die Definition, dass an einem bestimmten kritischen Punkt im System eine recht große, rasche Veränderung auftritt."

    Lange Zeit hielten Experten die lebensfeindliche Tiefkühlkammer jenseits des 60. südlichen Breitengrades für unangreifbar. Doch wie es scheint, kann sich auch der sechste Kontinent dem Klimawandel nicht entziehen.

    "In der Antarktis sehen wir: Ein Schelfeis nach dem anderen bricht auseinander. Das sind also die Eismassen, die den großen Auslassgletschern vorgelagert sind. Wir beobachten dort, dass auch diese Gletscher sich in ihrer Fließgeschwindigkeit stark beschleunigt haben, nachdem Schelfeis praktisch weggebrochen und weggeschwommen ist, einfach aufs Meer hinaus. Und zurzeit vermag, glaube ich, niemand mit Sicherheit vorherzusagen, wie das weitergehen wird."

    Klimaforscher wie Gerhard Kuhn vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut richten ihren Blick vor allem auf die Westantarktis. Der Meeresgeologe war an dem internationalen Bohrprojekt Andrill in der Antarktis beteiligt. Dabei wurden zum ersten Mal Bohrkerne aus dem Meeressediment am Rand des Südkontinents gezogen, vom Ross-Schelfeis aus, dem größten in der Antarktis.

    Die Meeresablagerungen sind ein Archiv der jüngeren Erdgeschichte. So wie Bäume Jahresringe ausbilden, folgt in den Bohrkernen eine Jahresschicht auf die andere. Seit kurzem nun liegen erste Ergebnisse der Analysen vor:

    "Wir haben an den Sedimenten ablesen können, dass es Zeiten gab, in denen dieses Schelfeis nicht vorhanden war. Dort gab es dann zu den Zeiten einen offenen Ozean, in dem Kieselalgen gelebt haben. Die Ablagerungen dieser Kieselalgen haben wir in den Sedimenten gefunden. Das Ross-Schelfeis wird überwiegend durch die westantarktische Eiskappe gespeist. Also kann man rückschließen, dass in diesen Zeiten auch die westantarktische Eiskappe nicht vorhanden war. Das ist der erste Nachweis, dass wirklich vor Ort festgestellt wurde, wie das Eis auf Klimaveränderungen reagiert hat."

    Nach der Analyse der Sedimentkerne war die Westantarktis gleich mehrfach fast oder ganz gletscherfrei. Und zwar in den Warmphasen während des Pliozäns, vor ein bis fünf Millionen Jahren. Das ist eine wichtige Erkenntnis.

    Denn die Erde steuert wieder auf Bedingungen zu, wie sie damals herrschten. Nach allem, was Gerhard Kuhn inzwischen weiß, war es im Pliozän lediglich zwei bis drei Grad wärmer als heute und der Gehalt von Kohlendioxid in der Atmosphäre nur unwesentlich höher:

    "Wenn man allein die Temperaturentwicklung betrachtet, und wir würden durch die CO2-Erhöhung zu einem gleichen Stadium kommen, dass wir globale Temperaturerhöhungen um zwei Grad haben, wie sie auch vorausgesagt worden sind für das Ende dieses Jahrhunderts, dann würde das antarktische Eis durchaus abschmelzen können."

    "Es wäre auch ein Kippelement, es würde angestoßen werden."

    "Wir sehen, dass das bei zwei bis drei Grad auftritt."

    Das arktische Meereis, bei dem der Schalter schon umgelegt sein könnte; die Gletscher auf Grönland und in der West-Antarktis, die vielleicht kurz davor stehen, einen kritischen Schwellenwert zu überschreiten – Wolfgang Luchts Liste der potentiellen Kippelemente im Klimasystem ist noch länger ...

    "Eine Eigenschaft von solchen Kippelementen ist, dass die Erde danach einfach nicht mehr die Erde ist, wie man sie vorher kannte. Etwas Großes hat sich verändert."

    "Paradiesfeigen und eine Fülle von Bäumen mit enormen Blättern und duftenden Blüten so groß wie eine Handfläche, von denen wir überhaupt nichts wissen."

    Um das Jahr 1800 herum unternimmt Alexander von Humboldt seine legendäre Expedition nach Südamerika. Sie führt ihn auch in den Regenwald.

    "Wir laufen herum wie die Irren. Während der ersten drei Tage waren wir unfähig, irgendetwas einzuordnen. Wir heben ein Ding auf, um es gleich wieder wegzuwerfen und ein anderes zu nehmen."

    "Der Mann, der im Ruderboot sitzt und hin und her kippelt. Und bis zum gewissen Grade ist das stabil. Aber wenn er sich zu weit hinauslehnt, da gibt’s irgendwo einen kritischen Punkt, da kippt das Boot und der Mann fällt ins Wasser."

    Noch 1950 dehnte sich der tropische Regenwald über schätzungsweise 16 bis 17 Millionen Quadratkilometer aus. Das entsprach rund elf Prozent der gesamten Landoberfläche der Erde. Heute sind es nicht einmal mehr sechs Millionen Quadratkilometer. Unverändert wird Regenwald gerodet - in Südamerika, in Afrika, in Asien. Die Welternährungsorganisation FAO beziffert den jährlichen Verlust noch immer auf fast 170.000 Quadratkilometer. Das entspricht der vierfachen Fläche der Schweiz.

    Was der Mensch noch nicht durch Kahlschlag vernichtet hat, das könnte bald dem Klimawandel zum Opfer fallen. Laut Stefan Rahmstorf steht auch der tropische Regenwald im Amazonas-Gebiet auf der Kippe:

    "Kollegen haben im März neue Arbeiten vorgestellt, wo sie zeigen, dass selbst ein Ökosystem wie der Amazonas-Wald einen solchen kritischen Punkt hat. Wenn man da drüber ist, hieße es: Es ist zu trocken für diesen Wald. Er kann sich auf Dauer so nicht halten."

    Dieses Risiko besteht, wenn sich Niederschlagsgürtel im Zuge der globalen Erwärmung verlagern. Tatsächlich deuten einige Klimamodelle solche markanten Veränderungen der atmosphärischen Zirkulation an. Wolfgang Lucht:

    "Die innertropische Konvergenzzone, ein wichtiges Regen bringendes Windsystem für das Amazonas-Becken, wird sich in seiner räumlichen Positionierung verschieben. Die Frage ist: Wieviel Trockenheit verträgt ein Regenwald? Wir haben für die Weltbank kürzlich eine umfassende Studie zu diesem Thema angelegt und zeigen, dass es tatsächlich nicht auszuschließen ist, dass diese Austrocknung so stark ist, dass im amazonischen Regenwald flächig Wald zurückgehen könnte, die Biomasse abnimmt und der heutige Primärwald ins Wanken kommt."

    Der Klima-Kippschalter würde dann von Regenwald auf Savanne umgelegt, auf anspruchsloseres Grasland. Anhaltende Brandrodungen durch den Menschen könnten den Vegetationswandel zusätzlich befördern, wenn Feuer auf die Grassteppe übergreifen...

    "... und diese Savanne sich dann selber stabilisiert. Weil die Feuer dann häufiger sind und das Wiederaufkommen des vorhergehenden Waldes selbst dann nicht erlauben würden, wenn die Trockenheit zurückginge."

    Mit dem tropischen Regenwald gerät nicht nur ein einzigartiges, besonders artenreiches Ökosystem in Gefahr. Wälder sind auch ein wichtiger Faktor im Klimageschehen. Ihre Bäume leben von Kohlendioxid und binden große Mengen des Treibhausgases im Holz. Das gilt sogar für die heutigen CO2-Emissionen durch menschliche Aktivitäten: Wälder schlucken einen beträchtlichen Teil davon. Dadurch kühlen sie das Klima. Diese Thermostat-Wirkung droht nun verlorenzugehen – am Amazonas, am Kongo, in Indonesien und – was die Lage zusätzlich verschärft - auch im größten zusammenhängenden Waldgürtel der Erde, dem boreale Nadelwald im Norden Kanadas, Skandinaviens und Sibiriens.

    In dieser kalten Klimazone wachsen die Bäume auf Permafrostböden. Die meiste Zeit des Jahres ist der Untergrund gefroren. Zumindest hier sollte der Klimawandel das Wachstum fördern, könnte man meinen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wolfgang Lucht rechnet auch in den borealen Nadelwäldern mit Trockenstress. Beispiel Sibirien:

    "In Sibirien ist die Wachstumsperiode sehr kurz. Sobald es im Frühjahr auch nur ein bisschen warm wird, müssen die Bäume anfangen, ihre Blätter zu produzieren. Und damit fangen sie an, das Wasser aus dem Boden zu saugen. Da ist aber nicht sehr viel Wasser drin, weil der Permafrost noch nicht sehr stark aufgetaut ist. Und dann führt das zu Trockenheit."

    Steigende Frühjahrstemperaturen verschärfen die Wasserknappheit. Und auch im Sommer wird die Lage immer kritischer. Die Permafrostböden tauen zwar stärker auf, zunehmende Hitze trocknet sie aber an der Oberfläche aus.

    "Die erwachsenen Bäume haben tiefe Wurzeln. Die kommen noch an Wasser ran. Aber wenn der Sommer wärmer wird, dann überleben einfach die Sämlinge nicht mehr. Und deswegen reproduziert sich der Wald nicht mehr so. Und unsere Vegetationsmodelle, die wir im Computer laufen lassen, die zeigen, dass das großflächig passieren könnte. Irgendwann wird es zu trocken für den Wald. Und die Sequenz ist dann immer: eine Schwächung der Reproduktion des Waldes, eine Schwächung der Bäume in den sehr heißen Sommern. Wenn dann Wassermangel herrscht, dann kommen Insekten. Dann kommt Feuer. Und das führt zu einer Vernichtung des Waldes."

    Doch ist nicht auch ein anderes Szenario denkbar? Nämlich dass Baumarten aus gemäßigten Breiten in den milderen Norden vorstoßen und die entstandene Waldlücke schließen? Eine Hoffnung, die vermutlich trügt.

    "Das liegt daran, dass im Inneren der Kontinente die Winter immer noch bitterkalt sind. Und diese Bäume der temperierten Zone immer noch erhebliche Frostschäden erleiden würden. Das schließt sie aus. Deswegen ist die Vorhersage unserer Computermodelle, dass da möglicherweise Graslandschaften entstehen."

    "Wir sind da auf eine ungewöhnliche Sache gestoßen. Ungewöhnlich und beunruhigend. Wissen Sie noch, was Sie neulich über das Schmelzen der Pole gesagt haben? Und dass das das Ende des Golfstroms bedeuten könnte? "Ja." "Ich glaube, es ist so weit."


    Klimawandel à la Hollywood. Im Kinofilm "The day after tomorrow" versinkt New York in Eis und Schnee, weil der Golfstrom abbricht und nicht mehr länger Wärme aus den Tropen nach Norden transportiert.

    "Ich fürchte, die Uhr ist abgelaufen, mein Freund." "Was können wir tun?" "Retten Sie so viele Sie können."

    Ein überzogenes Szenario, wie Klimaforscher monieren. Doch in einem hat der Film auf jeden Fall Recht: Die Meereszirkulation im Nordatlantik könnte bei steigenden Temperaturen tatsächlich ins Stocken geraten. Auch sie ist ein Kippelement im Klimasystem. Wobei sich die Experten nicht so sehr um den Golfstrom sorgen, sondern um seinen nördlichen, Richtung Europa schwenkenden Ausläufer: den Nordatlantikstrom.

    Der Physiker Anders Levermann, der beim Potsdam-Institut ein neueingerichtetes Projekt über Kipppunkte leitet:

    "Der Golfstrom ist der Teil, der an der nordamerikanischen Küste entlang fließt. Der ist windgetrieben in diesem Bereich, das heißt da haben wir auch keine Sorge, dass der abbricht. Wenn er aber die amerikanische Küste verlässt, wird er zum Nordatlantikstrom. Und dann wird er vulnerabel, dann ist er plötzlich dichtegetrieben. Wenn man diesen Dichteunterschied verändert, dann kann auch die Zirkulation abbrechen."

    Je weiter die warme Strömung nach Norden vorstößt, desto kälter wird es. Das Oberflächenwasser kühlt ab, verdichtet sich immer stärker und sinkt schließlich ab, in der Meeresgegend um Island herum.

    Diese sogenannte thermohaline Zirkulation geriete ins Stocken, wenn man den Nordatlantikstrom verdünnte – durch den Eintrag von Süßwasser. Genau das ist in einem wärmeren Treibhaus zu erwarten. Weil der Niederschlag über dem Nordatlantik dann zunimmt und immer mehr Schmelzwasser von Grönlands Gletschern in den Ozean fließt. Nach den Erkenntnissen der Paläoklimatologen kam die Zirkulation während der letzten Eiszeit wiederholt zum Stillstand. Mit gravierenden Folgen auch für andere Komponenten des Klimasystems.

    "Die Arktis, das arktische Meereis, hängt damit zusammen. Grönland hängt damit zusammen. Aber auch der gesamte Regengürtel in den Tropen überm Atlantik. Es wurde sogar schon gezeigt, dass der indische Monsun mit der thermohalinen Zirkulation verbunden ist über atmosphärische Strömungen."

    Wenn das Strömungssystem im Nordatlantik kollabierte, würde zwar nicht gleich die ganze Gegend schockgefrieren, wie Roland Emmerichs Hollywood-Film suggeriert. In Europa würde die Abkühlung vielleicht nicht einmal die starke Erwärmung durch zunehmende Treibhausgase kompensieren, glaubt Stefan Rahmstorf. Doch unangenehme Folgen gäbe es vermutlich schon:

    "Wir haben heute die Situation, dass im Nordatlantik der Meeresspiegel besonders tief ist, weil im Nordatlantik das Tiefenwasser absinkt. Man kann es so ein bisschen mit dem Badewannenabfluss vergleichen. Da neigt sich die Wasseroberfläche auch so ein bisschen bergab in Richtung Abfluss. Wenn man den Nordatlantikstrom zum Erliegen bringt, kommt der Meeresspiegel im Nordatlantik bis zu einem Meter hoch. Und er sinkt dafür hauptsächlich im Südpolarmeer ab. Dort nützt es leider keinem Menschen, weil es fernab von bewohnten Küsten passiert."

    "Ich fürchte, die Uhr ist abgelaufen, mein Freund."

    Nach der Hollywood-Inszenierung kann der Ernstfall im Atlantik jeden Moment eintreten. Das ist sicher übertrieben. Doch so weit entfernt liegt der Kipppunkt der Meereszirkulation nun auch wieder nicht:

    "Wenn wir tatsächlich vier, fünf, sechs Grad Erwärmung zulassen würden, dann wäre es wahrscheinlich, auch was Meeresströmungen angeht, kritisch."

    Auf der Liste der Kippelemente des Klimasystems stehen noch weitere potentielle Kandidaten:

    "Instabilitäten des Monsun-Systems in Indien und in Westafrika."

    "El Nino, La Nina im pazifischen Ozean ist wahrscheinlich auch so ein System."

    "Die Frage, ob die Sahara sich möglicherweise wieder begrünen könnte. Das hängt mit dem westafrikanischen Monsunsystem auch zusammen."

    Bei welchen Temperaturzuwächsen die einzelnen Kipppunkte ganz genau überschritten werden und ob es überhaupt dazu kommt, können Wolfgang Lucht und andere Klimaforscher nicht mit Bestimmtheit sagen.

    "Wir wissen insgesamt sehr wenig darüber, weil die gesamte Klimaforschung sich bisher sehr viel mit dem graduellen Klimawandel beschäftigt hat. Es kann sehr gut sein, dass weitere Forschung dazu führt, das Prozesse, die wir heute für mögliche Kippelemente halten, dass die doch stabiler sind, als wir gedacht haben. Dann kann man ja nur erleichtert sein. Es kann aber auch sein, dass wir bei einigen zu optimistisch waren und die viel schneller ausgelöst werden, als wir gedacht haben."
    Als plausibel gilt, dass die Gletscher Grönlands und der West-Antarktis auf eine kritische Schwelle der Erwärmung zusteuern. Und dass das sommerliche Meereis im Nordpolargebiet bereits im Begriff ist, sie zu passieren.

    "Wir wissen genug, um sagen zu können, dass die Temperaturen, wo sie ausgelöst werden, nicht erst im höheren Bereich liegen, sondern möglicherweise schon bei drei Grad eine Reihe von denen betroffen sind."

    "Diese kritischen Punkte sind nicht etwas, was einem jetzt unmittelbar ins Auge springt, wenn man sie überschritten hat. Sondern es ist eher so, dass dann Dinge wie der Amazonas-Wald oder das Grönland-Eis dann einen schleichenden Tod beginnen."

    "Und es wäre jetzt eigentlich relativ gut, das Wissen deutlich zu verbessern innerhalb der nächsten zehn Jahre und vor allem zu verstehen, wie viel Spielraum eigentlich bleibt, bis diese Gefahr dann doch erheblich wird."

    "Selbst wenn man’s dann versteht und etwas noch nicht überschritten ist, könnte es zu spät sein, die Politik noch umzusteuern."