Leszek Balcerowicz: Morgen werden unsere Minister dem Premierminister ihren Rücktritt erklären. Die Koalition kann ihre politischen Ziele nicht erreichen, ohne dass eine sichere politische Unterstützung im Parlament gewährleistet ist. Und es muss aufhören, dass einige gemeinsam mit der Opposition ihre eigenen Ziele durchsetzen, die der Strategie der Regierung schaden.
Anlass war eine Entscheidung des Premierministers, in der bedeutendsten und reichsten Kommunalverwaltung Polens, in Warschau, einen kommissarischen Verwaltungschef einzusetzen. Damit sei kommunales Recht verletzt worden, beschwerte sich umgehend die Freiheitsunion. Tatsächlich hatten die Liberalen in der Hauptstadt ein Kompensationsgeschäft mit der postkommunistischen Opposition vereinbart, nachdem ihr Stadtpräsident Pawel Piskorski nicht wiedergewählt worden war, weil ihm dafür einige Stimmen des Koalitionspartners Akcja Wyborcza, also dem sogenannten Wahlbündnis Solidarnosc AWS, fehlten. Dieser Handel ging etwa so: "Ihr unterstützt unseren Stadtpräsidenten, dafür bekommt Ihr einen Bürgermeisterposten im Bezirk Warschau-Mitte." Dies aber machten die AWS-Stadträte nicht mit. Sie blieben seitdem den Sitzungen fern, wodurch die ganze Arbeit der kommunalen Selbstverwaltung zum Stillstand kam. Premierminister Jerzy Buzek hat deshalb von seinem Recht Gebrauch gemacht, einen kommissarischen Verwalter für den Bezirk Warschau- Mitte einzusetzen, der für die Dauer von bis zu zwei Jahren im Amt ist und fast unbegrenzte Befugnisse hat. Die Freiheitsunion fühlte sich durch diesen Schritt des Premierministers übergangen. So lassen wir mit uns nicht umgehen, hieß es. Das Maß ist voll, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Freiheitsunion und Transportminister Tadeusz Syryjczyk, der am heftigsten für ein Ende der Koalition plädiert hatte:
Tadeusz Syryjczyk: Es ist klar, dass nicht jede einzelne Geschichte einen Effekt verursacht, aber in der Summe kann das, was die Wahlaktion Solidarnosc im Rahmen der Koalition betreibt, einen endgültigen Effekt haben, damit muss man rechnen.
Der Streit um die Besetzung der Spitzenposten in der kommunalen Selbstverwaltung der Hauptstadt war nur der Auslöser für die jetzige Krise. In Wahrheit geht es um etwas ganz anders. Die Koalition aus Wahlaktion Solidarnosc und Freiheitsunion hat zwar rechnerisch eine Mehrheit im Parlament, aber trotzdem sind in der Vergangenheit zahlreiche Gesetzesvorhaben der Regierung im Sejm gescheitert, weil ein Teil der AWS-Abeordneten mit der Opposition gegen die Regierung gestimmt hat. So kann man nicht regieren, sagte Balcerowicz, der Chef der polnische Liberalen. Entweder die AWS garantiert uns, dass künftig die Fraktionsdisziplin eingehalten wird, oder die Koalition ist zuende.
Doch die AWS ist keine geschlossene Partei, sondern ein Zusammenschluss konservativer, gewerkschaftlicher und nationalklerikaler Gruppen, Fraktionsdisziplin war von Anfang an nur ein Traum, meint der Leiter des Zentrums für internationale Beziehungen Janusz Reiter, der frühere Botschafter Polens in Deutschland:
Janusz Reiter: Das Problem ist nicht neu. Es ist im Grunde genommen eine Erbsünde dieser Partei, die entstanden ist aus einem Zusammenschluss aus mehreren Gruppierungen und Parteien. Dass diese Parteien und Gruppen zusammengekommen sind, war ein großer Erfolg. Aber auf die Dauer hat es sich als sehr schwierig erwiesen, die Disziplin in diesem Block zu erhalten. Das wird die schwierigste Aufgabe sein, die große Sammlungsbewegung AWS zu disziplinieren und zu einem verlässlichen Koalitionspartner zu machen. Ich glaube, dass die inhaltlichen Probleme zwischen den Führungen der beiden Parteien gar nicht so groß sind.
Die Freiheitsunion hat der AWS drei Bedingungen für die Fortsetzung der Koalition gestellt: erstens die Rücknahme des kommissarischen Verwalters in Warschau, dies ist inzwischen geschehen und zweitens die Einsetzung eines starken Regierungschefs, der über genügend Autorität in der AWS verfügt, um den Zusammenhalt der verschiedenen Gruppen zu erreichen und die Fraktionsdisziplin zu sichern. Jerzy Buzek aber kann dies nicht gewährleisten. Der frühere Chef der Untergrund-Solidarnosc in Oberschlesien verfügt über keine große Hausmacht in der AWS. Die größte Autorität wird dem AWS-Vorsitzenden Marian Krzaklewski zugeschrieben, doch der hat schon seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl bekannt gegeben:
Janusz Reiter: Es war von Anfang an eigentlich die sinnvollste Lösung, dass die unumstrittene Führungspersönlichkeit in der AWS, Krzaklewski, auch den Vorsitz in der Regierung übernehmen sollte. Er hat das nicht getan und ich glaube, das war ein Fehler. Und er will das wohl auch jetzt nicht tun und auch das halte ich für einen Fehler. Denn nur er kann die Stärke haben, die Partei und Regierung jetzt brauchen.
Aber es gehe nicht nur um die Person des Regierungschefs, betonen die Vertreter der Freiheitsunion, es gehe um die Mehrheit für das gemeinsame Reformprogramm. Die dritte Bedingung der Liberalen für den Verbleib ihrer Minister im Kabinett ist deshalb eine neue Koalitionsverhandlung. Die politischen Beobachter in Polen betrachten dies als sinnvollen Schritt, unter anderem Roland Freudenstein, der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau. Seiner Meinung nach ist die jetzige Koalitionsvereinbarung, die von der Freiheitsunion als ineffektiv kritisiert wird, in vielen Punkten ungenau:
Roland Freudenstein: Sie fordert die Massenprivatisierung, formuliert aber nicht aus, wie diese aussehen soll. Die Freiheitsunion will die Massenprivatisierung nicht, wollte sie nie. Und die AWS in teilen hat große Hoffnung darein gesetzt. Der Ausweg wäre jetzt, dass man einen Kompromiss formuliert, der in Wahrheit ein Eingehen auf die Freiheitsunion ist, nämlich die maroden Staatsunternehmen auf dem freien Markt zu verkaufen und in einzelnen kleinen Punkten, zur Gesichtswahrung den Eindruck zu erwecken, dass die Belegschaften noch berücksichtigt werden bei der Privatisierung. Eine genaue Ausformulierung dessen, was jetzt unklar ist, könnte beiden Seiten helfen. Den einen das Gesicht zu wahren und den anderen, die Substanz ihrer Politik zu wahren.
Dies dürfte für die AWS der schwierigste Brocken bei den neuen Koalitonsverhandlungen sein: eine strenge Fraktionsdisziplin und gleichzeitig eine Verstärkung ihres Reformprogramms, das bei Teilen der AWS schon jetzt auf Ablehnung stößt. Wir würden uns ja an die Fraktionsdisziplin halten, sagen die AWS-Abgeordneten, die zu den unsicheren Kandidaten bei den Abstimmungen im Sejm gehören, aber dann muss das Regierungsprogramm stärker auf unsere politischen Vorstellungen eingehen. Eigentlich verlangt die Freiheitsunion fast unmögliches, aber sie hat mit dem Rücktrittsgesuch ihrer Minister deutlich gemacht, diesmal meinen wir es ernst. Drohungen, die Koalition zu verlassen hatte es schon häufig gegeben:
Janusz Reiter: Die Freiheitsunion hat ihren Koalitionspartner unter Druck gesetzt. Und die Frage ist, wie wird das bei der anderen Seite aufgenommen. Wird das einen Schock auslösen und die Gesprächsbereitschaft erhöhen oder wird es die Reaktion des Beleidigtseins auslösen. Beides ist möglich. Im Interesse Polens wäre es, wenn die Koalition fortgesetzt würde, es gibt keine bessere Variante für Polen.
Die anderen Varianten sind klar: Vorgezogene Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung der Wahlaktion Solidarnosc. Vorgezogene Neuwahlen will eigentlich niemand, vor allem die Wahlaktion Solidarnosc müsste dabei mit einer dramatischen Niederlage rechnen. Bei den Meinungsumfragen ist die AWS auf etwa 17 Prozent gefallen, das ist ungefähr die Hälfte ihres Ergebnisses von 1997. Auch in ihrem eigenen Interesse sollte sich das konservative Wahlbündnis deshalb an mehr Disziplin halten, meint Janusz Reiter:
Janusz Reiter: Die Zerstrittenheit in den Reihen der AWS macht einen desaströsen Eindruck in der Bevölkerung. Vor allem die konservativen Wähler in Polen sind enttäuscht von ihrer Partei. Die AWS war vor vier fünf Jahren eine große Erfolgspartei, die Partei hat inzwischen den Mut, hat das Selbstvertrauen verloren. Und nun kann man nur hoffen, dass der Schock, der jetzt kommt, durch die schwere Krise, auch in dieser Partei einen heilenden Effekt haben wird, aber ich muss gestehen, das ist nur eine Hoffnung, keine Prognose.
Der postkommunistische Sojusz Lewicy Demokratycznej - SLD - , das sogenannte "Demokratische Linksbündnis", wäre voraussichtlich der große Sieger von Parlamentswahlen zum jetzigen Zeitpunkt. Möglicherweise würde die jetzige Opposition sogar die absolute Mehrheit erhalten. Deshalb will auch die Freiheits-Union keine vorgezogenen Neuwahlen, denn dann würde sie in der Geschichte als die Partei dastehen, die durch ihren Austritt aus der Koalition die Linken an die Macht gebracht hat.
Die andere Variante für den Fall eines endgültigen Scheiterns der Koalition wäre eine Minderheitsregierung der Wahlaktion Solidarnosc, doch Premierminister Buzek hat schon deutlich gemacht, dass er für eine Minderheitsregierung nicht zur Verfügung stehen würde.
Roland Freudenstein: Davon ist eigentlich schon seit Anfang der letzten Woche schon die rede. Von Seiten der AWS nach dem Motto: wir können auch ohne Euch. Aber ehrlich gesagt, eine Minderheitsregierung halte ich für wenig wahrscheinlich, denn sie würde nichts mehr zustandebringen, was nötig ist an Reformen und für den EU-Beitritt. Und deshalb würde es wohl früher oder später dazu führen, dass der Präsident das Parlament auflöst.
Dieses Problem sehen auch die Vertreter der AWS. Parlamentspräsident Maciej Placzynski, einer der führenden Politiker der AWS sagte, eine Minderheitsregierung könnte die Herausforderungen, vor denen Polen derzeit steht, keinesfalls bewältigen:
Maciej Placzynski: In vielen stabilen Ländern, zum Beispiel in Dänemark und den anderen skandinavischen Ländern gibt es sogar eine Tradition der Minderheitsregierungen. Das sind aber stabile Demokratien, in denen die Probleme ganz anders sind. Wo der politische Wettbewerb ganz anders ist. In Polen wäre das eine Regierung mit geringen Chancen, den Staat zu ändern. In Polen muss man schwierige Entscheidungen treffen und nicht nur verwalten.
Der frühere Präsident und Solidarnosc-Führer Lech Walesa, dessen kleine Partei, die Christdemokratie der Dritten Republik, nicht zum Wahlbündnis Solidarnosc gehört, macht der Regierung schwere Vorwürfe. Sie habe mit ihrer Politik das Ansehen der Rechten in Polen beschädigt und die Chancen des konservativen politischen Lagers zerstört, sowohl für die kommende Präsidentschaftswahl als für die Parlamentswahl im nächsten Jahr:
Lech Walesa: Es werden Fehler gemacht, aber Fehler dürfen nicht so viel kosten. Sie dürfen nicht eine Destabilisierung des Landes mit Neuwahlen verursachen. Das kann nicht sein. Solche grundlegenden Fehler dürfen die Solidarnosc nicht zerstören. Wir würden heute doch die Macht an die Postkommunisten abgeben, mit denen noch nicht abgerechnet wurde. Und die alle Schwierigkeiten, die es in Polen gibt ausnutzen. Also man kann von einem Verrat sprechen, einem Verrat der Rechten, der Bewegung Solidarnosc.
Die Bewegung Solidarnosc feiert in diesem Jahr ihr zwanzig-jähriges Bestehen. Im August 1980 hatte das Streikkomitee auf der Danziger Leninwerft unter Leitung von Lech Walesa mit der kommunistischen Regierung verhandelt, unter anderem über die Zulassung freier Gewerkschaften und die Einführung eines Streikrechts. Kurz darauf, am 31. August, wurden die sogenannten Danziger Vereinbarungen unterzeichnet, die Grundlage für die Gründung der Solidarnosc. Heute ist von der damaligen Solidarität nichts mehr zu spüren. Die heutige Wahlaktion Solidarnosc ist allerdings nur ein Teil dessen, was einmal vor 20 Jahren als Gewerkschaftsbewegung entstanden ist. Die Solidarnosc war einst eine Organisation mit einem breiten politischen Spektrum. Sogar die Mitglieder des Koalitionspartners Freiheits-Union waren damals zu 90 Prozent Teil dieser "Ur"-Solidarnosc. Trotz der heutigen Krise der Wahlaktion Solidarnosc und trotz des Streits im konservativen Lager Polens, könne man aber keinesfalls von einem Scheitern der Solidaritätsbewegung des Jahres 1980 sprechen, sagt der Polen-Spezialist Roland Freudenstein:
Roland Freudenstein: Wenn man diese 20 Jahre Revue passieren lässt, dann sind die polnischen Arbeiter und Intellektuellen die 1980 den Aufstand geprobt haben, die großen Sieger der Geschichte. Daran ändert auch ein Fiasko dieser Koalition oder die internen Streitigkeiten überhaupt nichts. Sondern das ist ja die Bewegung, die nicht nur das kommunistische Polen, sondern den gesamten Warschauer Pakt und auch die Ost-West-Teilung ins Wanken gebracht haben.
Die Gründe für die Krise der Solidarnosc, die zu einer Regierungskrise in Polen geworden ist, liegen wohl in der Natur der Sache. Seit der Wende steht die Gewerkschaftsbewegung von einst in einem völlig anderen Umfeld. Es gibt nicht mehr das klare Feindbild, den kommunistischen Staat, gegen den man aufbegehren kann. Heute müssen die verschiedenen Strömungen, die damals die Gewerkschaft Solidarnosc bildeten miteinander konkurrieren:
Roland Freudenstein: Dass sich die Freiheitsunion und die AWS heute nicht gut verstehen, ist für mich überhaupt kein Wunder. Denn wir haben innerhalb der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc unterschiedliche Tendenzen gehabt, deren Konflikte noch viel weiter zurückreichen, als 20 Jahre. Das ist eine in der polnischen Geschichte angelegte Konfliktsituation zwischen den Intellektuellen und der Mittelschicht auf der einen Seite und dem Rest des Landes auf der anderen.
Der Konflikt könnte für die Wahlaktion Solidarnosc durchaus zur Existenzbedrohung werden. Parteichef Marian Krzaklewski, dem als einzigen genügend Autorität zugesprochen wird, die auseinander driftenden Gruppen zusammenzuhalten, will bei der Präsidentschaftswahl gegen Alexander Kwasniewski antreten. Große Chancen hat er nicht. Kwasniewski ist ein allgemein anerkannter Präsident, bei den Umfragen in den letzten Monaten bekam er rund 70 Prozent Zustimmung, Krzaklewski nur 4 Prozent.
Janusz Reiter: Der jetzige Amtsinhaber Präsident Kwasniewski ist seit langer Zeit der Favorit bei den Wahlen und vielleicht ist die Auswirkung der Krise nur die, er ist in seiner Rolle als Favorit gestärkt worden. Sein Herausforderer Krzaklewski, der Vorsitzende der AWS ist geschwächt worden. So dass Polen Gefahr läuft, eine langweilige Wahl zu haben, bei der der Gewinner von Anfang an fest steht.
Aber selbst wenn der Gewinner feststeht: Sollte es der Solidarnosc-Vorsitzende dennoch schaffen, zumindest ein respektables Ergebnis zu erzielen, könnte er immerhin parteiintern seine politische Autorität weiter festigen. Schafft er dies aber nicht, wäre seine Zeit möglicherweise sogar ganz vorbei. Krzaklewski könnte dann auch den AWS-Vorsitz verlieren. Und ob nach ihm ein anderer die Wahlaktion Solidarnosc zusammenhalten kann, ist derzeit mehr als fraglich. Ein Ende der gegenwärtigen Regierungskoalition könnte so gesehen also zu-gleich auch das Ende der Wahlaktion Solidarnosc bedeuten. Die regierenden Politiker der AWS sind jedoch entschlossen, die Konfliktsituation in der Partei und in der Regierung zu überwinden. Premierminister Buzek, dessen Ausscheiden aus dem Amt sehr wahrscheinlich ist, zeigte sich sehr zuversichtlich über die Chancen, dass sich Wahlaktion Solidarnosc und Freiheitsunion zur Fortsetzung ihrer Koalition durchringen:
Buzek: Ich bin immer Optimist, in jeder Situation. Weil ich glaube, dass die Verantwortung gewinnen wird. Derjenige oder diejenigen Politiker, die in diesem Moment zu einem Zusammenbruch der Koalition führen, nehmen die Verantwortung für die Zukunft Polens auf sich. Für die nächsten Monate aber auch für eine längere Perspektive. Weil wir der EU beitreten wollen. Wir haben ein Programm. Die Regierung hat ein genaues Programm, wie man unsere Gesetzgebung anpassen muss, wie man die Hilfsmittel der EU aufnehmen soll. Und das verlangt eine gute, verständnisvolle Arbeit der Regierung. Einer Koalitionsregierung und deshalb ist es wichtig, sich sofort zu verständigen.
Das gemeinsame Ziel der Regierungsparteien, der Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2003 könnte zum verbindenden Element der Koalition werden. Ein Ende der Koalition hätte dagegen wohl fatale Auswirkungen auf den Reformprozess in Polen und damit auch auf die laufenden Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union. Zwar würde der Integrationsprozess in Richtung Europa weitergehen, denn die Vertreter der Freiheitsunion sagen, selbst wenn sie aus der Koalition austreten, seien sie ja noch im Parlament und würden die Beitrittsverhandlungen unterstützen. Heute aber besetzt gerade die Freiheitsunion die dafür Ausschlag gebenden Schlüsselressorts - das Außen-, das Finanz- und das Justiz-Ministerium. Bei einem endgültigen Rücktritt dieser Minister würde dem Kabinett dringend nötige Fachkenntnis verloren gehen. Leszek Balcerowicz, Bronislaw Geremek und auch Hanna Suchocka, die frühere Premierministerin gelten als kompetente Ressortchefs. Und sie sind anerkannte Gesprächspartner für die EU-Kommission. Außerdem könnte der gesamte Reformprozess ins Stocken geraten, wenn die liberalen Minister tatsächlich aus der Regierung ausscheiden, denn die Modernisierung der Wirtschaft und des Staates wird im wesentlichen von den polnischen Liberalen, der Freiheitsunion vorangetrieben. Innerhalb der AWS gibt es dagegen verschiedene Ansichten, welchen Weg Polen einschlagen sollte. Allerdings dürfte die polnische Regierung ihr Ansehen in Europa jetzt ohnehin schon beschädigt haben. Die aktuelle Krise in Polen verstärkt nämlich das ohnehin spürbare Negativ-Image des Landes als vermeintlich instabile Demokratie:
Freudenstein: Es wirkt schlecht, weil man zunächst Instabilität sieht. Man sieht eine instabile Situation, die sich sofort auswirkt auf das wirtschaftliche Image Polens, in Washington, bei den verschiedenen internationalen Wirtschaftsorganisationen, in Brüssel, bei der Europäischen Kommission und in den Mitgliedsstaaten der EU. Man sieht Instabilität in einem ganz entscheidenden Punkt, nämlich an einem Schlüsselmoment für die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft zur EU. Und es ist deshalb kein Wunder wenn diese Krise in den Augen der Westeuropäer und natürlich besonders der Deutschen mit der Frage verbunden wird, schaffen die denn jetzt die Vorbereitungen für den Beitritt?
Die Antwort auf diese Frage lautet immer noch und wohl uneingeschränkt: ja. Denn die Probleme, die Polen für den EU-Beitritt noch bewältigen muss, sind durch die Krise in der Regierung nicht größer geworden. Auswirkungen hat die Krise aber möglicherweise auf das Tempo, mit dem die Polen ihre Gesetzgebung an das EU-Recht anpassen. Bis Ende 2002 will Polen beitrittsfähig sein, doch bis dahin müssen noch fast 180 Gesetze verabschiedet werden. Dafür wird ein breiter Konsens im Parlament notwendig sein und auf jeden Fall eine verlässliche Mehrheit der beiden Koalitionsparteien Freiheitsunion und Wahlaktion Solidarnosc.
Anlass war eine Entscheidung des Premierministers, in der bedeutendsten und reichsten Kommunalverwaltung Polens, in Warschau, einen kommissarischen Verwaltungschef einzusetzen. Damit sei kommunales Recht verletzt worden, beschwerte sich umgehend die Freiheitsunion. Tatsächlich hatten die Liberalen in der Hauptstadt ein Kompensationsgeschäft mit der postkommunistischen Opposition vereinbart, nachdem ihr Stadtpräsident Pawel Piskorski nicht wiedergewählt worden war, weil ihm dafür einige Stimmen des Koalitionspartners Akcja Wyborcza, also dem sogenannten Wahlbündnis Solidarnosc AWS, fehlten. Dieser Handel ging etwa so: "Ihr unterstützt unseren Stadtpräsidenten, dafür bekommt Ihr einen Bürgermeisterposten im Bezirk Warschau-Mitte." Dies aber machten die AWS-Stadträte nicht mit. Sie blieben seitdem den Sitzungen fern, wodurch die ganze Arbeit der kommunalen Selbstverwaltung zum Stillstand kam. Premierminister Jerzy Buzek hat deshalb von seinem Recht Gebrauch gemacht, einen kommissarischen Verwalter für den Bezirk Warschau- Mitte einzusetzen, der für die Dauer von bis zu zwei Jahren im Amt ist und fast unbegrenzte Befugnisse hat. Die Freiheitsunion fühlte sich durch diesen Schritt des Premierministers übergangen. So lassen wir mit uns nicht umgehen, hieß es. Das Maß ist voll, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Freiheitsunion und Transportminister Tadeusz Syryjczyk, der am heftigsten für ein Ende der Koalition plädiert hatte:
Tadeusz Syryjczyk: Es ist klar, dass nicht jede einzelne Geschichte einen Effekt verursacht, aber in der Summe kann das, was die Wahlaktion Solidarnosc im Rahmen der Koalition betreibt, einen endgültigen Effekt haben, damit muss man rechnen.
Der Streit um die Besetzung der Spitzenposten in der kommunalen Selbstverwaltung der Hauptstadt war nur der Auslöser für die jetzige Krise. In Wahrheit geht es um etwas ganz anders. Die Koalition aus Wahlaktion Solidarnosc und Freiheitsunion hat zwar rechnerisch eine Mehrheit im Parlament, aber trotzdem sind in der Vergangenheit zahlreiche Gesetzesvorhaben der Regierung im Sejm gescheitert, weil ein Teil der AWS-Abeordneten mit der Opposition gegen die Regierung gestimmt hat. So kann man nicht regieren, sagte Balcerowicz, der Chef der polnische Liberalen. Entweder die AWS garantiert uns, dass künftig die Fraktionsdisziplin eingehalten wird, oder die Koalition ist zuende.
Doch die AWS ist keine geschlossene Partei, sondern ein Zusammenschluss konservativer, gewerkschaftlicher und nationalklerikaler Gruppen, Fraktionsdisziplin war von Anfang an nur ein Traum, meint der Leiter des Zentrums für internationale Beziehungen Janusz Reiter, der frühere Botschafter Polens in Deutschland:
Janusz Reiter: Das Problem ist nicht neu. Es ist im Grunde genommen eine Erbsünde dieser Partei, die entstanden ist aus einem Zusammenschluss aus mehreren Gruppierungen und Parteien. Dass diese Parteien und Gruppen zusammengekommen sind, war ein großer Erfolg. Aber auf die Dauer hat es sich als sehr schwierig erwiesen, die Disziplin in diesem Block zu erhalten. Das wird die schwierigste Aufgabe sein, die große Sammlungsbewegung AWS zu disziplinieren und zu einem verlässlichen Koalitionspartner zu machen. Ich glaube, dass die inhaltlichen Probleme zwischen den Führungen der beiden Parteien gar nicht so groß sind.
Die Freiheitsunion hat der AWS drei Bedingungen für die Fortsetzung der Koalition gestellt: erstens die Rücknahme des kommissarischen Verwalters in Warschau, dies ist inzwischen geschehen und zweitens die Einsetzung eines starken Regierungschefs, der über genügend Autorität in der AWS verfügt, um den Zusammenhalt der verschiedenen Gruppen zu erreichen und die Fraktionsdisziplin zu sichern. Jerzy Buzek aber kann dies nicht gewährleisten. Der frühere Chef der Untergrund-Solidarnosc in Oberschlesien verfügt über keine große Hausmacht in der AWS. Die größte Autorität wird dem AWS-Vorsitzenden Marian Krzaklewski zugeschrieben, doch der hat schon seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl bekannt gegeben:
Janusz Reiter: Es war von Anfang an eigentlich die sinnvollste Lösung, dass die unumstrittene Führungspersönlichkeit in der AWS, Krzaklewski, auch den Vorsitz in der Regierung übernehmen sollte. Er hat das nicht getan und ich glaube, das war ein Fehler. Und er will das wohl auch jetzt nicht tun und auch das halte ich für einen Fehler. Denn nur er kann die Stärke haben, die Partei und Regierung jetzt brauchen.
Aber es gehe nicht nur um die Person des Regierungschefs, betonen die Vertreter der Freiheitsunion, es gehe um die Mehrheit für das gemeinsame Reformprogramm. Die dritte Bedingung der Liberalen für den Verbleib ihrer Minister im Kabinett ist deshalb eine neue Koalitionsverhandlung. Die politischen Beobachter in Polen betrachten dies als sinnvollen Schritt, unter anderem Roland Freudenstein, der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau. Seiner Meinung nach ist die jetzige Koalitionsvereinbarung, die von der Freiheitsunion als ineffektiv kritisiert wird, in vielen Punkten ungenau:
Roland Freudenstein: Sie fordert die Massenprivatisierung, formuliert aber nicht aus, wie diese aussehen soll. Die Freiheitsunion will die Massenprivatisierung nicht, wollte sie nie. Und die AWS in teilen hat große Hoffnung darein gesetzt. Der Ausweg wäre jetzt, dass man einen Kompromiss formuliert, der in Wahrheit ein Eingehen auf die Freiheitsunion ist, nämlich die maroden Staatsunternehmen auf dem freien Markt zu verkaufen und in einzelnen kleinen Punkten, zur Gesichtswahrung den Eindruck zu erwecken, dass die Belegschaften noch berücksichtigt werden bei der Privatisierung. Eine genaue Ausformulierung dessen, was jetzt unklar ist, könnte beiden Seiten helfen. Den einen das Gesicht zu wahren und den anderen, die Substanz ihrer Politik zu wahren.
Dies dürfte für die AWS der schwierigste Brocken bei den neuen Koalitonsverhandlungen sein: eine strenge Fraktionsdisziplin und gleichzeitig eine Verstärkung ihres Reformprogramms, das bei Teilen der AWS schon jetzt auf Ablehnung stößt. Wir würden uns ja an die Fraktionsdisziplin halten, sagen die AWS-Abgeordneten, die zu den unsicheren Kandidaten bei den Abstimmungen im Sejm gehören, aber dann muss das Regierungsprogramm stärker auf unsere politischen Vorstellungen eingehen. Eigentlich verlangt die Freiheitsunion fast unmögliches, aber sie hat mit dem Rücktrittsgesuch ihrer Minister deutlich gemacht, diesmal meinen wir es ernst. Drohungen, die Koalition zu verlassen hatte es schon häufig gegeben:
Janusz Reiter: Die Freiheitsunion hat ihren Koalitionspartner unter Druck gesetzt. Und die Frage ist, wie wird das bei der anderen Seite aufgenommen. Wird das einen Schock auslösen und die Gesprächsbereitschaft erhöhen oder wird es die Reaktion des Beleidigtseins auslösen. Beides ist möglich. Im Interesse Polens wäre es, wenn die Koalition fortgesetzt würde, es gibt keine bessere Variante für Polen.
Die anderen Varianten sind klar: Vorgezogene Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung der Wahlaktion Solidarnosc. Vorgezogene Neuwahlen will eigentlich niemand, vor allem die Wahlaktion Solidarnosc müsste dabei mit einer dramatischen Niederlage rechnen. Bei den Meinungsumfragen ist die AWS auf etwa 17 Prozent gefallen, das ist ungefähr die Hälfte ihres Ergebnisses von 1997. Auch in ihrem eigenen Interesse sollte sich das konservative Wahlbündnis deshalb an mehr Disziplin halten, meint Janusz Reiter:
Janusz Reiter: Die Zerstrittenheit in den Reihen der AWS macht einen desaströsen Eindruck in der Bevölkerung. Vor allem die konservativen Wähler in Polen sind enttäuscht von ihrer Partei. Die AWS war vor vier fünf Jahren eine große Erfolgspartei, die Partei hat inzwischen den Mut, hat das Selbstvertrauen verloren. Und nun kann man nur hoffen, dass der Schock, der jetzt kommt, durch die schwere Krise, auch in dieser Partei einen heilenden Effekt haben wird, aber ich muss gestehen, das ist nur eine Hoffnung, keine Prognose.
Der postkommunistische Sojusz Lewicy Demokratycznej - SLD - , das sogenannte "Demokratische Linksbündnis", wäre voraussichtlich der große Sieger von Parlamentswahlen zum jetzigen Zeitpunkt. Möglicherweise würde die jetzige Opposition sogar die absolute Mehrheit erhalten. Deshalb will auch die Freiheits-Union keine vorgezogenen Neuwahlen, denn dann würde sie in der Geschichte als die Partei dastehen, die durch ihren Austritt aus der Koalition die Linken an die Macht gebracht hat.
Die andere Variante für den Fall eines endgültigen Scheiterns der Koalition wäre eine Minderheitsregierung der Wahlaktion Solidarnosc, doch Premierminister Buzek hat schon deutlich gemacht, dass er für eine Minderheitsregierung nicht zur Verfügung stehen würde.
Roland Freudenstein: Davon ist eigentlich schon seit Anfang der letzten Woche schon die rede. Von Seiten der AWS nach dem Motto: wir können auch ohne Euch. Aber ehrlich gesagt, eine Minderheitsregierung halte ich für wenig wahrscheinlich, denn sie würde nichts mehr zustandebringen, was nötig ist an Reformen und für den EU-Beitritt. Und deshalb würde es wohl früher oder später dazu führen, dass der Präsident das Parlament auflöst.
Dieses Problem sehen auch die Vertreter der AWS. Parlamentspräsident Maciej Placzynski, einer der führenden Politiker der AWS sagte, eine Minderheitsregierung könnte die Herausforderungen, vor denen Polen derzeit steht, keinesfalls bewältigen:
Maciej Placzynski: In vielen stabilen Ländern, zum Beispiel in Dänemark und den anderen skandinavischen Ländern gibt es sogar eine Tradition der Minderheitsregierungen. Das sind aber stabile Demokratien, in denen die Probleme ganz anders sind. Wo der politische Wettbewerb ganz anders ist. In Polen wäre das eine Regierung mit geringen Chancen, den Staat zu ändern. In Polen muss man schwierige Entscheidungen treffen und nicht nur verwalten.
Der frühere Präsident und Solidarnosc-Führer Lech Walesa, dessen kleine Partei, die Christdemokratie der Dritten Republik, nicht zum Wahlbündnis Solidarnosc gehört, macht der Regierung schwere Vorwürfe. Sie habe mit ihrer Politik das Ansehen der Rechten in Polen beschädigt und die Chancen des konservativen politischen Lagers zerstört, sowohl für die kommende Präsidentschaftswahl als für die Parlamentswahl im nächsten Jahr:
Lech Walesa: Es werden Fehler gemacht, aber Fehler dürfen nicht so viel kosten. Sie dürfen nicht eine Destabilisierung des Landes mit Neuwahlen verursachen. Das kann nicht sein. Solche grundlegenden Fehler dürfen die Solidarnosc nicht zerstören. Wir würden heute doch die Macht an die Postkommunisten abgeben, mit denen noch nicht abgerechnet wurde. Und die alle Schwierigkeiten, die es in Polen gibt ausnutzen. Also man kann von einem Verrat sprechen, einem Verrat der Rechten, der Bewegung Solidarnosc.
Die Bewegung Solidarnosc feiert in diesem Jahr ihr zwanzig-jähriges Bestehen. Im August 1980 hatte das Streikkomitee auf der Danziger Leninwerft unter Leitung von Lech Walesa mit der kommunistischen Regierung verhandelt, unter anderem über die Zulassung freier Gewerkschaften und die Einführung eines Streikrechts. Kurz darauf, am 31. August, wurden die sogenannten Danziger Vereinbarungen unterzeichnet, die Grundlage für die Gründung der Solidarnosc. Heute ist von der damaligen Solidarität nichts mehr zu spüren. Die heutige Wahlaktion Solidarnosc ist allerdings nur ein Teil dessen, was einmal vor 20 Jahren als Gewerkschaftsbewegung entstanden ist. Die Solidarnosc war einst eine Organisation mit einem breiten politischen Spektrum. Sogar die Mitglieder des Koalitionspartners Freiheits-Union waren damals zu 90 Prozent Teil dieser "Ur"-Solidarnosc. Trotz der heutigen Krise der Wahlaktion Solidarnosc und trotz des Streits im konservativen Lager Polens, könne man aber keinesfalls von einem Scheitern der Solidaritätsbewegung des Jahres 1980 sprechen, sagt der Polen-Spezialist Roland Freudenstein:
Roland Freudenstein: Wenn man diese 20 Jahre Revue passieren lässt, dann sind die polnischen Arbeiter und Intellektuellen die 1980 den Aufstand geprobt haben, die großen Sieger der Geschichte. Daran ändert auch ein Fiasko dieser Koalition oder die internen Streitigkeiten überhaupt nichts. Sondern das ist ja die Bewegung, die nicht nur das kommunistische Polen, sondern den gesamten Warschauer Pakt und auch die Ost-West-Teilung ins Wanken gebracht haben.
Die Gründe für die Krise der Solidarnosc, die zu einer Regierungskrise in Polen geworden ist, liegen wohl in der Natur der Sache. Seit der Wende steht die Gewerkschaftsbewegung von einst in einem völlig anderen Umfeld. Es gibt nicht mehr das klare Feindbild, den kommunistischen Staat, gegen den man aufbegehren kann. Heute müssen die verschiedenen Strömungen, die damals die Gewerkschaft Solidarnosc bildeten miteinander konkurrieren:
Roland Freudenstein: Dass sich die Freiheitsunion und die AWS heute nicht gut verstehen, ist für mich überhaupt kein Wunder. Denn wir haben innerhalb der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc unterschiedliche Tendenzen gehabt, deren Konflikte noch viel weiter zurückreichen, als 20 Jahre. Das ist eine in der polnischen Geschichte angelegte Konfliktsituation zwischen den Intellektuellen und der Mittelschicht auf der einen Seite und dem Rest des Landes auf der anderen.
Der Konflikt könnte für die Wahlaktion Solidarnosc durchaus zur Existenzbedrohung werden. Parteichef Marian Krzaklewski, dem als einzigen genügend Autorität zugesprochen wird, die auseinander driftenden Gruppen zusammenzuhalten, will bei der Präsidentschaftswahl gegen Alexander Kwasniewski antreten. Große Chancen hat er nicht. Kwasniewski ist ein allgemein anerkannter Präsident, bei den Umfragen in den letzten Monaten bekam er rund 70 Prozent Zustimmung, Krzaklewski nur 4 Prozent.
Janusz Reiter: Der jetzige Amtsinhaber Präsident Kwasniewski ist seit langer Zeit der Favorit bei den Wahlen und vielleicht ist die Auswirkung der Krise nur die, er ist in seiner Rolle als Favorit gestärkt worden. Sein Herausforderer Krzaklewski, der Vorsitzende der AWS ist geschwächt worden. So dass Polen Gefahr läuft, eine langweilige Wahl zu haben, bei der der Gewinner von Anfang an fest steht.
Aber selbst wenn der Gewinner feststeht: Sollte es der Solidarnosc-Vorsitzende dennoch schaffen, zumindest ein respektables Ergebnis zu erzielen, könnte er immerhin parteiintern seine politische Autorität weiter festigen. Schafft er dies aber nicht, wäre seine Zeit möglicherweise sogar ganz vorbei. Krzaklewski könnte dann auch den AWS-Vorsitz verlieren. Und ob nach ihm ein anderer die Wahlaktion Solidarnosc zusammenhalten kann, ist derzeit mehr als fraglich. Ein Ende der gegenwärtigen Regierungskoalition könnte so gesehen also zu-gleich auch das Ende der Wahlaktion Solidarnosc bedeuten. Die regierenden Politiker der AWS sind jedoch entschlossen, die Konfliktsituation in der Partei und in der Regierung zu überwinden. Premierminister Buzek, dessen Ausscheiden aus dem Amt sehr wahrscheinlich ist, zeigte sich sehr zuversichtlich über die Chancen, dass sich Wahlaktion Solidarnosc und Freiheitsunion zur Fortsetzung ihrer Koalition durchringen:
Buzek: Ich bin immer Optimist, in jeder Situation. Weil ich glaube, dass die Verantwortung gewinnen wird. Derjenige oder diejenigen Politiker, die in diesem Moment zu einem Zusammenbruch der Koalition führen, nehmen die Verantwortung für die Zukunft Polens auf sich. Für die nächsten Monate aber auch für eine längere Perspektive. Weil wir der EU beitreten wollen. Wir haben ein Programm. Die Regierung hat ein genaues Programm, wie man unsere Gesetzgebung anpassen muss, wie man die Hilfsmittel der EU aufnehmen soll. Und das verlangt eine gute, verständnisvolle Arbeit der Regierung. Einer Koalitionsregierung und deshalb ist es wichtig, sich sofort zu verständigen.
Das gemeinsame Ziel der Regierungsparteien, der Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2003 könnte zum verbindenden Element der Koalition werden. Ein Ende der Koalition hätte dagegen wohl fatale Auswirkungen auf den Reformprozess in Polen und damit auch auf die laufenden Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union. Zwar würde der Integrationsprozess in Richtung Europa weitergehen, denn die Vertreter der Freiheitsunion sagen, selbst wenn sie aus der Koalition austreten, seien sie ja noch im Parlament und würden die Beitrittsverhandlungen unterstützen. Heute aber besetzt gerade die Freiheitsunion die dafür Ausschlag gebenden Schlüsselressorts - das Außen-, das Finanz- und das Justiz-Ministerium. Bei einem endgültigen Rücktritt dieser Minister würde dem Kabinett dringend nötige Fachkenntnis verloren gehen. Leszek Balcerowicz, Bronislaw Geremek und auch Hanna Suchocka, die frühere Premierministerin gelten als kompetente Ressortchefs. Und sie sind anerkannte Gesprächspartner für die EU-Kommission. Außerdem könnte der gesamte Reformprozess ins Stocken geraten, wenn die liberalen Minister tatsächlich aus der Regierung ausscheiden, denn die Modernisierung der Wirtschaft und des Staates wird im wesentlichen von den polnischen Liberalen, der Freiheitsunion vorangetrieben. Innerhalb der AWS gibt es dagegen verschiedene Ansichten, welchen Weg Polen einschlagen sollte. Allerdings dürfte die polnische Regierung ihr Ansehen in Europa jetzt ohnehin schon beschädigt haben. Die aktuelle Krise in Polen verstärkt nämlich das ohnehin spürbare Negativ-Image des Landes als vermeintlich instabile Demokratie:
Freudenstein: Es wirkt schlecht, weil man zunächst Instabilität sieht. Man sieht eine instabile Situation, die sich sofort auswirkt auf das wirtschaftliche Image Polens, in Washington, bei den verschiedenen internationalen Wirtschaftsorganisationen, in Brüssel, bei der Europäischen Kommission und in den Mitgliedsstaaten der EU. Man sieht Instabilität in einem ganz entscheidenden Punkt, nämlich an einem Schlüsselmoment für die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft zur EU. Und es ist deshalb kein Wunder wenn diese Krise in den Augen der Westeuropäer und natürlich besonders der Deutschen mit der Frage verbunden wird, schaffen die denn jetzt die Vorbereitungen für den Beitritt?
Die Antwort auf diese Frage lautet immer noch und wohl uneingeschränkt: ja. Denn die Probleme, die Polen für den EU-Beitritt noch bewältigen muss, sind durch die Krise in der Regierung nicht größer geworden. Auswirkungen hat die Krise aber möglicherweise auf das Tempo, mit dem die Polen ihre Gesetzgebung an das EU-Recht anpassen. Bis Ende 2002 will Polen beitrittsfähig sein, doch bis dahin müssen noch fast 180 Gesetze verabschiedet werden. Dafür wird ein breiter Konsens im Parlament notwendig sein und auf jeden Fall eine verlässliche Mehrheit der beiden Koalitionsparteien Freiheitsunion und Wahlaktion Solidarnosc.