Archiv


Klingender Stendhal

Stendhals verschachtelter Roman "Die Kartause von Parma" erschien 1839. 100 Jahre später kam eine Opernversion zur Uraufführung - allerdings reduziert auf die vertrackten Liebesgeschichten des Offiziers Fabrice de Dongo. In Marseille steht die Oper unter der Regie von Renée Auphan auf dem Spielplan.

Von Frieder Reininghaus |
    Henri Sauguet, Jahrgang 1901, ist – wie so mancher Leistungsträger seiner Generation – weitgehend dem Vergessen anheim gefallen. Seit seinem Tod im Jahr 1989 drängte eben so viel Neues auf die Märkte. Gelegentlich erinnert an den aus Bordeaux stammenden Komponisten noch ein Titel wie "Le chemin de forains". Zumal dann, wenn er in ein Sammelalbum von Edith Piaf gelangte.

    1922 kam Henri Sauguet aus der südwestfranzösischen Provinz nach Paris, wo er in den Bann von Erik Satie geriet, sich dann auf Empfehlung von Darius Milhaud von Charles Koechlin fortbilden ließ und rasch mit einem Operneinakter Aufmerksamkeit auf sich zog, dann vor allem mit "La Chatte", einer für Serge Diaghilew geschriebenen Ballettmusik. Als Theater- und Filmmusiker war er in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren sehr gefragt – insbesondere dank seiner Zusammenarbeit mit Jean Girodoux.

    Obwohl vom Scheitel bis zur Sohle ein seriöser Tonsetzer (und zugleich ein durchaus produktiver Musikpublizist sowie unbequemer Kritiker), scheute Henri Sauguet die Berührung mit den Sphären des Populären und der leichten Musen keineswegs. Nicht zufällig bilden die Volksszenen in seiner Oper "La Chartreuse de Parme" die gelungensten Momente. Infolge seiner Seitensprünge gerät der jugendliche Liebhaber Fabrice del Dongo zum Beispiel im Verlauf des zweiten Akts an der Landesgrenze des Fürstentums Parma in eine Spelunke – er ist wegen eines in Rivalität um eine "kleine Tänzerin" begangenen Tötungsdelikts zur Fahndung ausgeschrieben und sucht bei seinem früheren Kutscher und dessen Frau Zuflucht. Zum Versteckspiel mit den Gendarmen gelingt Sauguet eine heiter-dramatische Musik, die sich ganz auf der Höhe der moderat modern gestimmten 30er-Jahre bewegt. Sébastian Guèze gibt den Tenorhelden mit jugendlicher Unbeschwertheit und leicht geführter Stimme. Wir können dies hier nicht dokumentieren, weil die Opéra Marseille den Mitschnitt nicht freigegeben hat – möglicherweise wegen gewisser Unzulänglichkeiten bei der Intonation in der Partie der Clélia. Aus dem tatsächlich nicht ganz homogenen Ensemble ragen Marie-Ange Todorovitch als Herzogin von Sanseverina und der alte Haudegen Jean-Philippe Lafont als Général Conti vorteilhaft hervor.

    Bruno de Lavenère besorgte dem musikalischen Zwischenkriegsgut einen ansprechenden optischen Rahmen: Die elf Tableaus und Genrebilder wurden fast durchgängig in Bildsegmenten gezeigt, vermittels derer die Straßen- und Gesellschaftsszenen in Uniformen und Mode des frühen 19. Jahrhunderts aufblitzen – so, dass immerhin die Illusion entsteht, die wichtigsten Stationen der Liebe und Entsagung von Fabrice und Clélia stünden in einem plausiblen Zusammenhang. Sauguets im Prinzip tonale, aber durch vielerlei Reizdissonanzen aufgeweckte Musik bleibt hinsichtlich der Erregung und Kommentierung großer Leidenschaften weit unter dem Level Verdis und den Höchstpegeln Puccinis, entwickelt aber einen denkwürdigen kleinbürgerlichen Realismus mit scharfer Zeichnung charakteristischer Figuren.

    Vom Kolorit der politischen Wirren und gesellschaftlichen Verwerfungen in der Zeit nach Napoléon I. hat sich das von Sauguet komponierte Text-Kompilat, obwohl es ganz auf die Emotionen der Protagonisten abheben wollte, mehr bewahrt als zum Beispiel Francesco Piaves Saavedra-Bearbeitung für Giuseppe Verdis "Macht des Schicksals". So präsentiert die Opéra Marseille unter der umsichtigen Leitung von Lawrence Foster nun eine veritable Delikatesse, die auch anderswo den Opern-Gourmet verwöhnen könnte.