Noch 73 Tage bis zur Wahl. 73 Tage Wahlkampf – inklusive Sommerpause. Ganz gleich, was jetzt in der Welt geschieht und in den Nachrichten landet, Parteien und Politiker nutzen die jedes Ereignis, um sich zu präsentieren und den Bürger vor eine Wahl zu stellen. Edward Snowden, der gesuchte Geheimnisverräter, etwa ist Anlass um Position zu beziehen: Wer steht hier zu was? Zu Recht, zu Asyl, zu Vorratsdatenspeicherung, Sicherheit oder Freiheit? Aber eben weil Wahlkampf ist, wird von den Bürgern derzeit keine dramatisierende Äußerung so richtig ernst genommen. Alles nur Strategie? Die Wahlkampfstrategien der Parteien werden seit Wochen von Wahlkampfforschern beobachtet und begleitet - eine junge Disziplin, die wissen will, wer wie und warum welche Mittel einsetzt und mit welchem Erfolg.
Werner Weidenfeld:
"Die Wahlkampfstrategien der Parteien sind klassische, traditionelle Materialeinsätze. Ohne große überragende mobilisierende Themen. Sondern das sind Detailthemen und dazu setzen sie Werbematerial ein und damit mobilisieren sie diese Gesellschaft ja nicht."
Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München fällt ein ernüchterndes Urteil.
Werner Weidenfeld:
"Das Unterfutter der Gesellschaft hat sich verändert. Das ist sehr viel ungebundener geworden und deshalb können sie mit dem klassischen alten traditionellen Zugriff nur relativ wenig bewegen."
Das veränderte "Unterfutter" der Gesellschaft heißt, dass sie längst nicht mehr aus politischen Lagern mit festen Stammwählern besteht, die man alle vier Jahre nur mal kurz mit einem bewährten Wahlkampfkonzept zur Wahlurne schicken musste. Werner Weidenfeld sagt, die Parteien hätten sich auch 2013 nicht wirklich auf diese Veränderung eingestellt. Der Wahlkampf fokussiere noch immer auf traditionellen Lagerwahlkampf und die - deutlich geschrumpften - Stammwähler.
Werner Weidenfeld:
"Unsere Mitbürger, die mal in früheren Jahrzehnten beispielsweise über 85 Prozent Stammwähler waren, sind jetzt deutlich unter 15 Prozent. Vertrauen in die Parteien haben noch weniger als zehn Prozent."
Man könne noch gerade so gewinnen, wenn man kleinere Teile der Bevölkerung mit traditionellen Wahlkampfmethoden mobilisiert, meint der Politikwissenschaftler.
Werner Weidenfeld:
"Aber es ist nur ein kleinerer Ausschnitt. Und die kriegen sie nur hin, wenn sie situativ bestimmte Formen dramatisch zuspitzen: die Strahlkraft der Kanzlerin, wenn sie für die CDU Wahlkampf machen wollen. Oder gewissermaßen diese Überalterung der Kanzlerschaft, wenn sie für die SPD Wahlkampf machen wollen."
Wie in Deutschland ein traditioneller Wahlkampf der Parteien aussieht, erleben wir also gerade.
Werner Weidenfeld:
"Wahlkampfkundgebungen, Werbespots im Fernsehen usw. Und dazu müssen sie natürlich sich auf gewisse Themen einigen, Wahlkampfprogramme vorlegen. Wir wissen, dass die Mitbürger sich für diese Wahlkampfprogramme praktisch nicht interessieren, die wissen das auch nicht. Kommt noch hinzu, dass ein ganz hoher Prozentsatz sowieso nicht glaubt, dass die auch realisiert werden. Also das Misstrauen ist ja gewachsen gegenüber den Parteien, und insofern müssten sich die Parteien eigentlich was anderes überlegen, eine andere Strategie entwickeln."
Also alles, wie schon 2009 gehabt? So langweilig wie damals beschrieben mit der Konsequenz einer niedrigen Wahlbeteiligung?
Werner Weidenfeld:
"Die Wahlkampfform ist wie so eine Art machtarchitektonische Oberfläche. Das trägt dann untereinander eine Elite aus, die sich ja untereinander kennt ...und wechselseitig beobachtet."
Warum lohnt es sich für Wahlforscher dennoch, genauer hinzuschauen?
Manuela Glaab:
"Tatsache ist zunächst mal, dass sich Wahlkämpfe in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext entwickeln mit seiner ganz eigenen politischen Kultur."
Durch konsequente und langfristige Beobachtung von Wahlkämpfen werden feine Verschiebungen in der politischen Kultur sichtbar. Manuela Glaab, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Koblenz-Landau und ihr Kollege Professor Thorsten Faas, Wahlforscher an der Universität Mainz erkennen vor allem an der Aufmerksamkeit gegenüber Wahlwerbekampagnen und am strategischen Planungsaufwand des diesjährigen Wahlkampfs erste Weichenstellungen.
Thorsten Faas:
"Die Verbindungen zwischen Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern, die ist ein bisschen brüchiger geworden, die ist etwas nüchterner geworden. Und in der Konsequenz sehen wir dann, dass Parteien darauf reagieren, dass sie ihre Kampagnen professionalisieren, dass Politik damit auch so ein bisschen Markenprodukten ähnelt, und dass sie dann eben auch ähnlich verkauft wird."
Manuela Glaab:
"Mit hohem Ressourcenaufwand, einer hohen Professionalität. Am Ende ist es dann doch aber auch Handwerk, vom Tagesgeschäft getrieben. Man muss flexibel reagieren auf neue Konstellationen, auf aktuelle Entwicklungen und da scheint dann doch auch viel Ausprobieren auch dabei zu sein letztendlich. Und das ist ganz spannend zu beobachten."
Thorsten Faas:
"Also man könnte sagen: Ja, dass wir heute vielleicht mehr denn je über Wahlkampfstrategien sprechen, ist auch ein Reflex darauf, dass die Gesellschaft vielleicht etwas individueller, etwas individualistischer geworden ist, und dass deswegen die Parteien heute mehr kämpfen müssen, sich stärker bemühen müssen, um Wähler zu mobilisieren, um Wähler zu überzeugen."
Beobachten lässt sich im aktuellen Wahlkampf, dass die Parteien - beziehungsweise deren professionelle Werbeagenturen - bei der Ausrichtung ihrer Kampagnen nach den USA schielen.
Manuela Glaab:
"Man ist dort, könnte man sagen "weiter" in bestimmten "Campaigning"-Techniken. Aber das sind ja auch ganz andere Verhältnisse. Wenn wir den Ressourcenaufwand betrachten, der dort betrieben wird, wenn wir uns klar machen, dass das Parteiensystem der USA ganz anders strukturiert ist, ganz anders funktioniert, dann kann ich da zwar natürlich Elemente übernehmen, ausprobieren und dann habe ich auch einen Treiber. Aber das heißt nicht, dass sich das in gleicher Weise in die gleiche Richtung entwickelt."
Aus den USA abgeguckt ist nicht in erster Linie das etwas linkische twittern einiger Ministerinnen und Minister oder der sogenannte "Internet-Wahlkampf" und überhaupt alles technologisch Neue. Es sind eher unspektakuläre Hausbesuche, die ein von den Amerikanern übernommenes Stilelement im Wahlkampf 2013 bilden.
Manuela Glaab:
"Eine interessante Frage ist in dem Zusammenhang, ob das was in den USA als "door to door canvassing" bezeichnet wird, also der Wahlkampf an den Haustüren, mit dem man aktuell insbesondere aufseiten der SPD ja arbeiten will, ob das tatsächlich so funktioniert. In den USA hat das eine Tradition. Und es sind ja dann in der Vielzahl auch freiwillige junge Leute, die das machen. Ich bin sehr gespannt zu sehen wie das hierzulande funktioniert, ob es da nicht doch auch Vorbehalte gibt zu sagen: ja, das ist meine Privatsphäre, wieso klopft man nun hier bei mir an der Haustür? Was wollen die eigentlich von mir? Ich bin sehr, sehr gespannt, ob man das sozusagen implantieren kann in den deutschen Wahlkampf."
Torsten Faas:
"Es ist eine interessante Idee, weil Politik damit auch wieder näher zu den Menschen kommt, auch vielleicht in Stadtteile, Gebiete kommt, die so ein wenig politikverdrossen sind. Und insofern ist zumindest die Hoffnung da, dass mit so einer Strategie die Verdrossenheit, die Distanz zwischen den Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern kleiner wird. Wenn es so ist, dann sollte die Wahlbeteiligung auch steigen."
Wahlkampf auf twitter und Facebook dagegen ist eher ein etablierter Hut - oder sollte es jedenfalls längst sein, sagt Thorsten Faas:
"Neue Medien hat es eigentlich immer schon gegeben. Und dass man jetzt gerade an der Stelle des Internets so sehr im Prinzip das Medium betont, das passt nicht so recht zum Rest der Strategie. Wir würden ja auch nicht über den Radiowahlkampf oder den Zeitungswahlkampf sprechen. Sondern ich glaub, man muss in einer anderen Art und Weise darüber nachdenken, nämlich: Was ist eigentlich das Ziel? Wen möchte ich erreichen? Welche Schichten? Und wenn es über Internet besser geht als über ein anderes klassisches Medium, dadurch sollte sich eigentlich die Logik des Wahlkampfs nicht ändern."
Ein anderes Stilelement aus den US amerikanischen Wahlkampfstrategien heißt "negativ campaigning". Negativ-Wahlkampf gibt es auch in der politischen Kultur Deutschlands: Man macht die Programme des politischen Gegners schlecht und wetzt gegen Ende des Wahlkampfs noch mal die Messer gegen den Konkurrenten. Aber persönliche Diffamierung und veritable Schlammschlachten unter der Gürtellinie - also das, was unter negative-campaigning in den USA verstanden wird -, gibt es hierzulande "noch" nicht. Lässt sich im Wahlkampf 2013 in dieser Hinsicht eine Veränderung erkennen? Manuela Glaab sagt Nein:
Manuela Glaab:
"Es ist kein in der Wahlkampftradition in Deutschland verankertes Element. Das findet zwar statt, aber wenn man das international vergleicht doch in Maßen. Gemäßigtes negative-campaigning, würde ich sagen. Es werden nicht die Eskalationsstufen permanent ausgereizt. Und das würde vom Wähler nach allem, was wir wissen, auch nicht goutiert. Das leistet ja eigentlich auch der Politikdistanz, der Skepsis gegenüber Politik Vorschub. Und insofern halte ich es schon für vernünftig, auch dosiert mit solchen Instrumenten umzugehen."
Thorsten Faas:
"Was man immer wieder hört, ist die Notwendigkeit eines Narrativs, einer Geschichte, einer Erzählung. Was ja auch Peer Steinbrück schon immer wieder formuliert hat: Dass man bezogen auf Europa beispielsweise eine Geschichte braucht, die man den Leuten erzählen kann, um all die Details des politischen Alltags eben in einer solchen größeren Geschichte aufgehen zu lassen. Um also aus diesen bits und pieces, all den Details wieder eine Politik zu machen, die als Ganzes nachvollziehbar bleibt."
"Story telling" heißt das im amerikanischen Wahlkampf - eine Geschichte erzählen wenn möglich ganz nach Hollywoods bewährten Mustern. Und die beste Geschichte gewinnt - fragt sich nur ob den Oscar oder die Wahl. Wahlforscher Thorsten Faas:
"Letztlich kann man sagen ist auch so ein Wahlkampf ein Kampf darum, welche Geschichte eigentlich die richtige ist. Es ist ja nicht so, dass es eine objektiv richtige Situation oder eine Lage in Deutschland gäbe. Die Union als die Partei, die die Regierung stellt, will sagen: Es geht Deutschland gut. Wir sehen schon im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hat Deutschland niedrige Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft wächst, die Schulden sind gesunken. Dagegen setzt die Opposition eine Geschichte, die das ja nicht infrage stellt, die aber sagt: Ja, das stimmt, aber dahinter gibt es große Unterschiede und auch diese Unterschiede sind wichtig. Und in sofern kann man sagen, das sind verschiedene Versuche, die Lage in Deutschland, die Gesellschaft in einen Rahmen zu setzen - die Amerikaner sprechen auch von Framing-Versuchen -, um damit natürlich auch Wählerstimmen zu gewinnen."
Bezogen auf die Wahlwerbung der Parteien hieße das: Wer die Geschichte von der heilen Welt bevorzug – die zum Beispiel mit weich gezeichneten, farblich warmen Bildern deutscher Frühstücksszenen in Szene gesetzt wird - der wählt Angela Merkel? Wer aber die düstere Geschichte passender findet - mit Bildern in Schwarz-weiß und kontrastreich gehalten - wählt die Opposition?
Thorsten Faas:
"Wahlkampf heißt nicht immer nur: Wollen wir jetzt mehr oder weniger Mehrwertsteuer? Oder wollen wir jetzt höhere oder niedrigere Sozialbeiträge? Oder wollen wir rein oder raus aus der Atomenergie? Sondern es ist einfach schon auch so ein größerer Blick auf das Land, auf die Themen, auch darum wird gekämpft. Und es ist mindestens so wichtig wie die Details von politischen Wahlprogrammen."
Für Werner Weidenfeld ist die Erzählung einer großen Geschichte sogar die wichtigste Veränderung, die sich im Wahlkampf etablieren müsste, um neue Bindungen herzustellen. Aber das schaffen die Parteien auch dieses Mal nicht, sagt der Politikwissenschaftler:
Werner Weidenfeld:
"Sie können das tun, indem sie als Partei ein großes Zukunftsbild einer Gesellschaft entwerfen, so wie es beispielsweise im Rahmen der Entspannungspolitik der Fall war oder bei der Frage Westbindung - ja oder nein? Oder NATO-Nachrüstung - ja oder nein? Doppelbeschluss? Alles das können sie in ein großes gesellschaftliches Bild einbauen und dieses Bild dann in Pro und Contra anbieten. Es ist ja nicht so, dass alle dann gleich dafür sind - aber die Gesellschaft wird gebunden in Pro und Contra."
Ein übergeordnetes Gesellschaftsbild und seine Geschichte, strategisch angelegt und stringent erzählt – womit könnte das heute zeichnen? Mit der Energiewende?
Werner Weidenfeld:
"Die Energiewende wird jetzt als eine situative Antwort auf eine Katastrophe angeboten. Das ist ja was anderes, als ein Gesellschaftsbild, aus deren logischer Konsequenz einer von vielen Schritten die Energiewende wäre. Das wäre dann eine andere Form gesellschaftlicher Ausstrahlung."
Soweit ist es noch nicht im Wahlkampf 2013, da sind sich die Wahlforscher einig. Jetzt geht es erst einmal weiter um die kleinen Grabenkämpfe und eine Steigerung der Dramatisierungen gegen Ende der Wahlkampfperiode bis zur letzten Stunde: wenn der Kampf um die unentschlossenen Wähler einsetzt.
Weidenfeld:
Mehr als zehn Prozent der Wähler entscheiden sich über ihre Stimmabgabe erst auf dem Weg von der Wohnung zum Wahllokal am Wahlsonntag. Bei so knappen Verhältnissen, wie wir sie haben, ist das ein entscheidender Zeitraum. Also müssen sie bis zu diesem Zeitpunkt präsent bleiben mit ihren Dramatisierungen."
Dabei kommen noch andere Akteure ins Spiel als die Wahlkampfstrategen.
Carsten Reinemann:
"Medien greifen tatsächlich in Wahlkämpfe ein. Sie sind nicht nur Spiegel von Realität, sondern sie machen eigene Meinung."
Carsten Reinemann, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat die Wahlkampfberichterstattung in den Medien für 2009 untersucht.
Carsten Reinemann:
"Was man sagen kann, ist, dass die Berichterstattung über die Kandidaten aber auch die Berichterstattung über die Koalitionsmöglichkeiten tatsächlich einen Einfluss hat. Also die Frage: Kommt es doch zu einer großen Koalition? Reicht es für Schwarz-gelb? Und die Art, wie das bewertet wurde in den Medien, ob eine große Koalition noch für erstrebenswert gehalten wurde oder nicht, das hat tatsächlich eine Wirkung gehabt: Und zwar hat sie auch der FDP geholfen."
Insbesondere die Spätentscheider und die taktischen Wähler sind beeinflussbar. Sie schauen auf das Duell der Spitzenkandidaten im Fernsehen und auf die medialen Bewertungen im Anschluss, aber auch auf die veröffentlichten Umfragen kurz vor der Wahl. Demoskopie in den Medien nehme nachweisbar Einfluss auf das Wahlverhalten, sagt Carsten Reinemann. Das muss nicht problematisch sein - kann aber.
Carsten Reinemann:
"Wenn ich davon ausgehe, jemand darf taktisch wählen, dann muss eine veröffentlichte Umfrage nicht was Schlechtes sein, sondern dann würde ich eher dafür plädieren, macht die Umfrage möglichst kurz vor der Wahl, damit die Leute ein gutes Bild von der derzeitigen öffentlichen Meinung bekommen. Wo glaube ich Demoskopen noch sehr viel stärker eingreifen im Zusammenhang mit den Medien ist die Art der Fragen, die sie stellen, abseits der Sonntagsfrage. Wenn ich also die Frage stelle: "Was glauben Sie eigentlich, wird sich das Steuerkonzept der Grünen negativ auf die Wahlchancen auswirken?" Dann ist das eine durchaus problematische Frage. Sagt mir das jetzt wirklich irgendwas, wenn 80 Prozent der Leute glauben, dass hätte eine Auswirkung, dieses Steuerkonzept? Da werden Vermutungen über andere Menschen abgefragt, die möglicherweise jeglicher Grundlage entbehren."
Ein solcher möglicherweise wirksamer Eingriff der Medien in das Wahlverhalten ist problematischer als etwa der viel diskutierte Themenklau von Merkels Wahlkampf. Das Fachwort der Wahlkampfstrategen heißt da übrigens: asymmetrische Demobilisierung. Das hat 2009 offenbar schon funktioniert, sagt Thorsten Faas:
"Bewusst hat teilweise auch die Union diese ähnlichen Positionen eingenommen mit dem Ziel, dadurch der SPD einfach auch Hebel zu nehmen, die sie nutzen kann, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. Denn dafür muss ich natürlich inhaltliche Unterschiede deutlich machen. In dem Moment, in dem Angela Merkel und die Union sagt: Ne, wir sehen das eigentlich auch so und wir sehen das auch so und wir sehen das auch so, fehlt genau dieser Hebel. Und dann haben sich offenkundig viele SPD Wähler letztlich dafür entschieden zu Hause zu bleiben."
Werner Weidenfeld:
"Die Wahlkampfstrategien der Parteien sind klassische, traditionelle Materialeinsätze. Ohne große überragende mobilisierende Themen. Sondern das sind Detailthemen und dazu setzen sie Werbematerial ein und damit mobilisieren sie diese Gesellschaft ja nicht."
Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München fällt ein ernüchterndes Urteil.
Werner Weidenfeld:
"Das Unterfutter der Gesellschaft hat sich verändert. Das ist sehr viel ungebundener geworden und deshalb können sie mit dem klassischen alten traditionellen Zugriff nur relativ wenig bewegen."
Das veränderte "Unterfutter" der Gesellschaft heißt, dass sie längst nicht mehr aus politischen Lagern mit festen Stammwählern besteht, die man alle vier Jahre nur mal kurz mit einem bewährten Wahlkampfkonzept zur Wahlurne schicken musste. Werner Weidenfeld sagt, die Parteien hätten sich auch 2013 nicht wirklich auf diese Veränderung eingestellt. Der Wahlkampf fokussiere noch immer auf traditionellen Lagerwahlkampf und die - deutlich geschrumpften - Stammwähler.
Werner Weidenfeld:
"Unsere Mitbürger, die mal in früheren Jahrzehnten beispielsweise über 85 Prozent Stammwähler waren, sind jetzt deutlich unter 15 Prozent. Vertrauen in die Parteien haben noch weniger als zehn Prozent."
Man könne noch gerade so gewinnen, wenn man kleinere Teile der Bevölkerung mit traditionellen Wahlkampfmethoden mobilisiert, meint der Politikwissenschaftler.
Werner Weidenfeld:
"Aber es ist nur ein kleinerer Ausschnitt. Und die kriegen sie nur hin, wenn sie situativ bestimmte Formen dramatisch zuspitzen: die Strahlkraft der Kanzlerin, wenn sie für die CDU Wahlkampf machen wollen. Oder gewissermaßen diese Überalterung der Kanzlerschaft, wenn sie für die SPD Wahlkampf machen wollen."
Wie in Deutschland ein traditioneller Wahlkampf der Parteien aussieht, erleben wir also gerade.
Werner Weidenfeld:
"Wahlkampfkundgebungen, Werbespots im Fernsehen usw. Und dazu müssen sie natürlich sich auf gewisse Themen einigen, Wahlkampfprogramme vorlegen. Wir wissen, dass die Mitbürger sich für diese Wahlkampfprogramme praktisch nicht interessieren, die wissen das auch nicht. Kommt noch hinzu, dass ein ganz hoher Prozentsatz sowieso nicht glaubt, dass die auch realisiert werden. Also das Misstrauen ist ja gewachsen gegenüber den Parteien, und insofern müssten sich die Parteien eigentlich was anderes überlegen, eine andere Strategie entwickeln."
Also alles, wie schon 2009 gehabt? So langweilig wie damals beschrieben mit der Konsequenz einer niedrigen Wahlbeteiligung?
Werner Weidenfeld:
"Die Wahlkampfform ist wie so eine Art machtarchitektonische Oberfläche. Das trägt dann untereinander eine Elite aus, die sich ja untereinander kennt ...und wechselseitig beobachtet."
Warum lohnt es sich für Wahlforscher dennoch, genauer hinzuschauen?
Manuela Glaab:
"Tatsache ist zunächst mal, dass sich Wahlkämpfe in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext entwickeln mit seiner ganz eigenen politischen Kultur."
Durch konsequente und langfristige Beobachtung von Wahlkämpfen werden feine Verschiebungen in der politischen Kultur sichtbar. Manuela Glaab, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Koblenz-Landau und ihr Kollege Professor Thorsten Faas, Wahlforscher an der Universität Mainz erkennen vor allem an der Aufmerksamkeit gegenüber Wahlwerbekampagnen und am strategischen Planungsaufwand des diesjährigen Wahlkampfs erste Weichenstellungen.
Thorsten Faas:
"Die Verbindungen zwischen Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern, die ist ein bisschen brüchiger geworden, die ist etwas nüchterner geworden. Und in der Konsequenz sehen wir dann, dass Parteien darauf reagieren, dass sie ihre Kampagnen professionalisieren, dass Politik damit auch so ein bisschen Markenprodukten ähnelt, und dass sie dann eben auch ähnlich verkauft wird."
Manuela Glaab:
"Mit hohem Ressourcenaufwand, einer hohen Professionalität. Am Ende ist es dann doch aber auch Handwerk, vom Tagesgeschäft getrieben. Man muss flexibel reagieren auf neue Konstellationen, auf aktuelle Entwicklungen und da scheint dann doch auch viel Ausprobieren auch dabei zu sein letztendlich. Und das ist ganz spannend zu beobachten."
Thorsten Faas:
"Also man könnte sagen: Ja, dass wir heute vielleicht mehr denn je über Wahlkampfstrategien sprechen, ist auch ein Reflex darauf, dass die Gesellschaft vielleicht etwas individueller, etwas individualistischer geworden ist, und dass deswegen die Parteien heute mehr kämpfen müssen, sich stärker bemühen müssen, um Wähler zu mobilisieren, um Wähler zu überzeugen."
Beobachten lässt sich im aktuellen Wahlkampf, dass die Parteien - beziehungsweise deren professionelle Werbeagenturen - bei der Ausrichtung ihrer Kampagnen nach den USA schielen.
Manuela Glaab:
"Man ist dort, könnte man sagen "weiter" in bestimmten "Campaigning"-Techniken. Aber das sind ja auch ganz andere Verhältnisse. Wenn wir den Ressourcenaufwand betrachten, der dort betrieben wird, wenn wir uns klar machen, dass das Parteiensystem der USA ganz anders strukturiert ist, ganz anders funktioniert, dann kann ich da zwar natürlich Elemente übernehmen, ausprobieren und dann habe ich auch einen Treiber. Aber das heißt nicht, dass sich das in gleicher Weise in die gleiche Richtung entwickelt."
Aus den USA abgeguckt ist nicht in erster Linie das etwas linkische twittern einiger Ministerinnen und Minister oder der sogenannte "Internet-Wahlkampf" und überhaupt alles technologisch Neue. Es sind eher unspektakuläre Hausbesuche, die ein von den Amerikanern übernommenes Stilelement im Wahlkampf 2013 bilden.
Manuela Glaab:
"Eine interessante Frage ist in dem Zusammenhang, ob das was in den USA als "door to door canvassing" bezeichnet wird, also der Wahlkampf an den Haustüren, mit dem man aktuell insbesondere aufseiten der SPD ja arbeiten will, ob das tatsächlich so funktioniert. In den USA hat das eine Tradition. Und es sind ja dann in der Vielzahl auch freiwillige junge Leute, die das machen. Ich bin sehr gespannt zu sehen wie das hierzulande funktioniert, ob es da nicht doch auch Vorbehalte gibt zu sagen: ja, das ist meine Privatsphäre, wieso klopft man nun hier bei mir an der Haustür? Was wollen die eigentlich von mir? Ich bin sehr, sehr gespannt, ob man das sozusagen implantieren kann in den deutschen Wahlkampf."
Torsten Faas:
"Es ist eine interessante Idee, weil Politik damit auch wieder näher zu den Menschen kommt, auch vielleicht in Stadtteile, Gebiete kommt, die so ein wenig politikverdrossen sind. Und insofern ist zumindest die Hoffnung da, dass mit so einer Strategie die Verdrossenheit, die Distanz zwischen den Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern kleiner wird. Wenn es so ist, dann sollte die Wahlbeteiligung auch steigen."
Wahlkampf auf twitter und Facebook dagegen ist eher ein etablierter Hut - oder sollte es jedenfalls längst sein, sagt Thorsten Faas:
"Neue Medien hat es eigentlich immer schon gegeben. Und dass man jetzt gerade an der Stelle des Internets so sehr im Prinzip das Medium betont, das passt nicht so recht zum Rest der Strategie. Wir würden ja auch nicht über den Radiowahlkampf oder den Zeitungswahlkampf sprechen. Sondern ich glaub, man muss in einer anderen Art und Weise darüber nachdenken, nämlich: Was ist eigentlich das Ziel? Wen möchte ich erreichen? Welche Schichten? Und wenn es über Internet besser geht als über ein anderes klassisches Medium, dadurch sollte sich eigentlich die Logik des Wahlkampfs nicht ändern."
Ein anderes Stilelement aus den US amerikanischen Wahlkampfstrategien heißt "negativ campaigning". Negativ-Wahlkampf gibt es auch in der politischen Kultur Deutschlands: Man macht die Programme des politischen Gegners schlecht und wetzt gegen Ende des Wahlkampfs noch mal die Messer gegen den Konkurrenten. Aber persönliche Diffamierung und veritable Schlammschlachten unter der Gürtellinie - also das, was unter negative-campaigning in den USA verstanden wird -, gibt es hierzulande "noch" nicht. Lässt sich im Wahlkampf 2013 in dieser Hinsicht eine Veränderung erkennen? Manuela Glaab sagt Nein:
Manuela Glaab:
"Es ist kein in der Wahlkampftradition in Deutschland verankertes Element. Das findet zwar statt, aber wenn man das international vergleicht doch in Maßen. Gemäßigtes negative-campaigning, würde ich sagen. Es werden nicht die Eskalationsstufen permanent ausgereizt. Und das würde vom Wähler nach allem, was wir wissen, auch nicht goutiert. Das leistet ja eigentlich auch der Politikdistanz, der Skepsis gegenüber Politik Vorschub. Und insofern halte ich es schon für vernünftig, auch dosiert mit solchen Instrumenten umzugehen."
Thorsten Faas:
"Was man immer wieder hört, ist die Notwendigkeit eines Narrativs, einer Geschichte, einer Erzählung. Was ja auch Peer Steinbrück schon immer wieder formuliert hat: Dass man bezogen auf Europa beispielsweise eine Geschichte braucht, die man den Leuten erzählen kann, um all die Details des politischen Alltags eben in einer solchen größeren Geschichte aufgehen zu lassen. Um also aus diesen bits und pieces, all den Details wieder eine Politik zu machen, die als Ganzes nachvollziehbar bleibt."
"Story telling" heißt das im amerikanischen Wahlkampf - eine Geschichte erzählen wenn möglich ganz nach Hollywoods bewährten Mustern. Und die beste Geschichte gewinnt - fragt sich nur ob den Oscar oder die Wahl. Wahlforscher Thorsten Faas:
"Letztlich kann man sagen ist auch so ein Wahlkampf ein Kampf darum, welche Geschichte eigentlich die richtige ist. Es ist ja nicht so, dass es eine objektiv richtige Situation oder eine Lage in Deutschland gäbe. Die Union als die Partei, die die Regierung stellt, will sagen: Es geht Deutschland gut. Wir sehen schon im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hat Deutschland niedrige Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft wächst, die Schulden sind gesunken. Dagegen setzt die Opposition eine Geschichte, die das ja nicht infrage stellt, die aber sagt: Ja, das stimmt, aber dahinter gibt es große Unterschiede und auch diese Unterschiede sind wichtig. Und in sofern kann man sagen, das sind verschiedene Versuche, die Lage in Deutschland, die Gesellschaft in einen Rahmen zu setzen - die Amerikaner sprechen auch von Framing-Versuchen -, um damit natürlich auch Wählerstimmen zu gewinnen."
Bezogen auf die Wahlwerbung der Parteien hieße das: Wer die Geschichte von der heilen Welt bevorzug – die zum Beispiel mit weich gezeichneten, farblich warmen Bildern deutscher Frühstücksszenen in Szene gesetzt wird - der wählt Angela Merkel? Wer aber die düstere Geschichte passender findet - mit Bildern in Schwarz-weiß und kontrastreich gehalten - wählt die Opposition?
Thorsten Faas:
"Wahlkampf heißt nicht immer nur: Wollen wir jetzt mehr oder weniger Mehrwertsteuer? Oder wollen wir jetzt höhere oder niedrigere Sozialbeiträge? Oder wollen wir rein oder raus aus der Atomenergie? Sondern es ist einfach schon auch so ein größerer Blick auf das Land, auf die Themen, auch darum wird gekämpft. Und es ist mindestens so wichtig wie die Details von politischen Wahlprogrammen."
Für Werner Weidenfeld ist die Erzählung einer großen Geschichte sogar die wichtigste Veränderung, die sich im Wahlkampf etablieren müsste, um neue Bindungen herzustellen. Aber das schaffen die Parteien auch dieses Mal nicht, sagt der Politikwissenschaftler:
Werner Weidenfeld:
"Sie können das tun, indem sie als Partei ein großes Zukunftsbild einer Gesellschaft entwerfen, so wie es beispielsweise im Rahmen der Entspannungspolitik der Fall war oder bei der Frage Westbindung - ja oder nein? Oder NATO-Nachrüstung - ja oder nein? Doppelbeschluss? Alles das können sie in ein großes gesellschaftliches Bild einbauen und dieses Bild dann in Pro und Contra anbieten. Es ist ja nicht so, dass alle dann gleich dafür sind - aber die Gesellschaft wird gebunden in Pro und Contra."
Ein übergeordnetes Gesellschaftsbild und seine Geschichte, strategisch angelegt und stringent erzählt – womit könnte das heute zeichnen? Mit der Energiewende?
Werner Weidenfeld:
"Die Energiewende wird jetzt als eine situative Antwort auf eine Katastrophe angeboten. Das ist ja was anderes, als ein Gesellschaftsbild, aus deren logischer Konsequenz einer von vielen Schritten die Energiewende wäre. Das wäre dann eine andere Form gesellschaftlicher Ausstrahlung."
Soweit ist es noch nicht im Wahlkampf 2013, da sind sich die Wahlforscher einig. Jetzt geht es erst einmal weiter um die kleinen Grabenkämpfe und eine Steigerung der Dramatisierungen gegen Ende der Wahlkampfperiode bis zur letzten Stunde: wenn der Kampf um die unentschlossenen Wähler einsetzt.
Weidenfeld:
Mehr als zehn Prozent der Wähler entscheiden sich über ihre Stimmabgabe erst auf dem Weg von der Wohnung zum Wahllokal am Wahlsonntag. Bei so knappen Verhältnissen, wie wir sie haben, ist das ein entscheidender Zeitraum. Also müssen sie bis zu diesem Zeitpunkt präsent bleiben mit ihren Dramatisierungen."
Dabei kommen noch andere Akteure ins Spiel als die Wahlkampfstrategen.
Carsten Reinemann:
"Medien greifen tatsächlich in Wahlkämpfe ein. Sie sind nicht nur Spiegel von Realität, sondern sie machen eigene Meinung."
Carsten Reinemann, Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat die Wahlkampfberichterstattung in den Medien für 2009 untersucht.
Carsten Reinemann:
"Was man sagen kann, ist, dass die Berichterstattung über die Kandidaten aber auch die Berichterstattung über die Koalitionsmöglichkeiten tatsächlich einen Einfluss hat. Also die Frage: Kommt es doch zu einer großen Koalition? Reicht es für Schwarz-gelb? Und die Art, wie das bewertet wurde in den Medien, ob eine große Koalition noch für erstrebenswert gehalten wurde oder nicht, das hat tatsächlich eine Wirkung gehabt: Und zwar hat sie auch der FDP geholfen."
Insbesondere die Spätentscheider und die taktischen Wähler sind beeinflussbar. Sie schauen auf das Duell der Spitzenkandidaten im Fernsehen und auf die medialen Bewertungen im Anschluss, aber auch auf die veröffentlichten Umfragen kurz vor der Wahl. Demoskopie in den Medien nehme nachweisbar Einfluss auf das Wahlverhalten, sagt Carsten Reinemann. Das muss nicht problematisch sein - kann aber.
Carsten Reinemann:
"Wenn ich davon ausgehe, jemand darf taktisch wählen, dann muss eine veröffentlichte Umfrage nicht was Schlechtes sein, sondern dann würde ich eher dafür plädieren, macht die Umfrage möglichst kurz vor der Wahl, damit die Leute ein gutes Bild von der derzeitigen öffentlichen Meinung bekommen. Wo glaube ich Demoskopen noch sehr viel stärker eingreifen im Zusammenhang mit den Medien ist die Art der Fragen, die sie stellen, abseits der Sonntagsfrage. Wenn ich also die Frage stelle: "Was glauben Sie eigentlich, wird sich das Steuerkonzept der Grünen negativ auf die Wahlchancen auswirken?" Dann ist das eine durchaus problematische Frage. Sagt mir das jetzt wirklich irgendwas, wenn 80 Prozent der Leute glauben, dass hätte eine Auswirkung, dieses Steuerkonzept? Da werden Vermutungen über andere Menschen abgefragt, die möglicherweise jeglicher Grundlage entbehren."
Ein solcher möglicherweise wirksamer Eingriff der Medien in das Wahlverhalten ist problematischer als etwa der viel diskutierte Themenklau von Merkels Wahlkampf. Das Fachwort der Wahlkampfstrategen heißt da übrigens: asymmetrische Demobilisierung. Das hat 2009 offenbar schon funktioniert, sagt Thorsten Faas:
"Bewusst hat teilweise auch die Union diese ähnlichen Positionen eingenommen mit dem Ziel, dadurch der SPD einfach auch Hebel zu nehmen, die sie nutzen kann, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. Denn dafür muss ich natürlich inhaltliche Unterschiede deutlich machen. In dem Moment, in dem Angela Merkel und die Union sagt: Ne, wir sehen das eigentlich auch so und wir sehen das auch so und wir sehen das auch so, fehlt genau dieser Hebel. Und dann haben sich offenkundig viele SPD Wähler letztlich dafür entschieden zu Hause zu bleiben."