Jürgen Liminski: Ist es die Stunde des Scheiterns eines großen Projekts, oder die Geburtsstunde eines neuen Europa? Während die großen Kernstaaten sich kleinlich zeigten, wollten die neuen Mitglieder großzügig auf Zuwendungen verzichten. Es reichte nicht. Vor allem die Briten gelang es nicht zu überzeugen, über ihren insulären Schatten zu springen. Nun steht man vor dem Scherbenhaufen. Wie geht es weiter? Dazu begrüße ich am Telefon den stellvertretenden Vorsitzenden des auswärtigen Ausschusses im Bundestag, den SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose. Guten Morgen Herr Klose.
Hans-Ulrich Klose: Guten Morgen!
Liminski: Herr Klose, man wird der luxemburgischen Ratspräsidentschaft nicht den Vorwurf machen können, sie hätte nicht bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit um ein vorzeigbares Ergebnis gekämpft. Die ersten Kommentare nach dem Scheitern sprechen von Neuanfang, einer neuen Chance. Sicher ist: das Konsensmodell ist am Ende. Ist es tatsächlich die Geburtsstunde eines neuen Kerneuropa, vielleicht das der zwei Geschwindigkeiten? Wie kann, wie wird das künftige Europa Ihrer Meinung nach aussehen?
Klose: Ganz allgemein ausgedrückt finde ich, wir sollten jetzt nicht einen Fehler machen, nämlich den Fehler, unter dem Eindruck des Scheiterns in Panik zu verfallen und erklären, diese EU ist gescheitert und wir brauchen etwas ganz Neues. Es macht manchmal Sinn, ein bisschen zuzuwarten, um falsche Entscheidungen zu vermeiden. Ich glaube, dass die Bildung eines Kerneuropa, so wie es früher einmal von Schäuble und Lamers vorgeschlagen worden ist, jetzt in diesem Augenblick die falsche Antwort wäre, weil es auf eine Spaltung hinausliefe, und ich finde bevor man das tut, soll man gründlich nachdenken.
Liminski: Eine Spaltung zwischen wem?
Klose: Na gut, Kerneuropa hieße doch, dass die sechs ursprünglichen Mitgliedsländer und ein paar andere, die dazustoßen wollten, einen eigenen Weg gehen, möglicherweise auf der Grundlage dieser europäischen Verfassung, die jetzt gescheitert ist, und die anderen bleiben draußen vor.
Liminski: Könnte denn die Rechnung Blairs, weniger für die Landwirtschaft, mehr für Bildung und Forschung, also eine Schwächung Frankreichs, aufgehen, wenn in Berlin eine andere, britischfreundlichere und französischkritischere Regierung amtiert?
Klose: Ich glaube jede deutsche Bundesregierung wird Wert darauf legen, ein enges Arbeitsverhältnis zu Frankreich herzustellen, weil Frankreich, wenn man es schlicht formulieren will, unser westeuropäischer Anker ist, für Deutschland der westeuropäische Anker und den brauchen wir dringend. Richtig ist allerdings, dass wir in der Tat eine Veränderung der europäischen Haushaltspläne, wenn Sie so wollen, brauchen und weggehen müssen von der Finanzierung überkommener Strukturen und in die Zukunft blicken müssen. Insofern hat wie ich finde Blair im Kern eher Recht.
Liminski: Laufen wir auch in die Gefahr einer Renationalisierung Europas?
Klose: Meines Erachtens sind wir mitten drin und das war auch in Wahrheit nicht anders zu erwarten, denn wenn man sich ansieht, was wir nach dem Ende des kalten Krieges in Europa getan haben, dann war es doch dies: Wir haben nicht im Detail, aber doch im Groben die alte europäische Staatenordnung wiederhergestellt und alle diese Staaten entdecken plötzlich, dass sie Nationalstaaten sind mit nationalen Identitäten und Interessen und agieren entsprechend. Das gilt auch für das wiedervereinigte Deutschland, das ja lange Jahrzehnte nicht in nationalen Kategorien gedacht hat, aber inzwischen in solchen handelt. Das hat Konsequenzen. Das hat Konsequenzen, die wir diskutieren müssen, europäisch diskutieren müssen. Dabei denke ich macht es Sinn, sich zurückzuerinnern, warum wir denn mit Europa überhaupt angefangen haben. Das war eine Friedensordnung, also gegen die Renationalisierung gerichtet. Es war der Versuch, ein europäisches Demokratie- und Sozialmodell durchzusetzen, und es ist heutzutage die einzige Chance, um sich mit den Auswüchsen der Globalisierung gestaltend auseinandersetzen zu können. Wenn wir uns auf diese Kerngedanken wieder besinnen denke ich haben wir eine Chance, Europa weiterzuführen.
Liminski: Renationalisierung Europas ist ja nun eine These, die das Herz von Politikern erstarren und das von Historikern höher schlagen lässt. Aber wohin soll das führen? Mitterrand hat in seiner letzten Rede - das war vor dem Europaparlament - gesagt, Nationalismus bedeutet Krieg. Wird Frieden wieder fraglich, oder anders ausgedrückt Krieg sogar wieder denkbar?
Klose: Ich glaube das nicht, aber was wir miterleben ist eine Art von neuer Gleichgewichtspolitik innerhalb der Europäischen Union, also eine Rückkehr zu dem Politikmodell des 19. und 20. Jahrhunderts, mit dem Europa keine guten Erfahrungen gemacht hat. Alles das sind gute Gründe, um jetzt nicht auseinanderzulaufen, sondern einzuhalten, nachzudenken was ist und richtige Konsequenzen zu ziehen. Das Elend ist nur, dass zwei der Kernländer im Augenblick nur begrenzt handlungsfähig sind, nämlich Deutschland und Frankreich.
Liminski: Europa steht, wenn ich Sie recht verstehe, also vor einer historischen Zäsur, vor einer Weichenstellung. Das kann man wohl festhalten. Halten Sie denn einen Bruch oder eine Entfremdung zwischen diesen karolingischen Kernscheiben Frankreich und Deutschland für wahrscheinlich?
Klose: Nein, halte ich nicht für wahrscheinlich, weil beide wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind und sie werden sich auch entsprechend verhalten. Auch wenn es eine andere Regierung in Berlin gibt, wird das so sein, und auch wenn Frankreich einen anderen Präsidenten bekommen sollte. Er wird die Ausschließlichkeit des Verhältnisses auflockern, aber die Zusammenarbeit wird eng bleiben.
Liminski: Gesetz den Fall, Herr Klose, die Europäer berappeln sich und setzen ihre Integrationspolitik fort, wer würde dann mit wem zusammen kommen? Sind zum Beispiel die elf Euro-Staaten vielleicht ein genügend reifer Korpus für ein Kerneuropa?
Klose: Es hat immer in der EU verschiedene Europas gegeben, verschiedene Geschwindigkeiten, verschiedene Phasen der Zusammenarbeit. Das wird auch glaube ich in Zukunft so bleiben und ist ja in dem Verfassungsvertrag, der gescheitert ist, auch geradezu vorgesehen. Langfristig glaube ich wird Europa eine Art Mittelding zwischen einer internationalen Organisation und einem staatlichen Gebilde sein. Das ist vielleicht sogar der Kern unserer Probleme, dass wir in Wahrheit nicht ganz genau wissen, wie das Europa am Ende aussehen soll, und zwar sowohl in der eigenen Organisation wie in der territorialen Ausdehnung.
Liminski: In zwei Wochen übernehmen die Briten nun die Ratspräsidentschaft. Wird da der Bock zum Gärtner? Wird es eine Phase des Misstrauens?
Klose: Es wird jedenfalls eine Phase, in der nicht viel passieren wird, weil die Briten nach meiner Einschätzung ein etwas anderes Europa wollen. Sie wollen in erster Linie ein wirtschaftlich kooperierendes Europa mit ein bisschen Politik obendrauf, aber an eine europäische Finalität jenseits dieses Konstruktes denken die Briten nach meiner Einschätzung nicht.
Liminski: Offensichtlich hapert es an der Übermittlung der europäischen Idee zwischen dem politisch-medialen Establishment und dem Volk.
Klose: Richtig!
Liminski: Ist Europa zu kompliziert geworden, oder haben die Funktionäre in Brüssel, vielleicht auch die Politiker abgehoben?
Klose: Ich glaube man muss zweierlei bedenken. Erstens: Europa hat in den vergangenen, na sagen wir mal 15 Jahren miterlebt, dass der gemeinsame Markt tatsächlich vollzogen worden ist. Alles das, worüber heute geklagt wird, Vorrang von Markt vor dem Sozialen, ist die Konsequenz der einheitlichen europäischen Akte, die _86 unterzeichnet worden ist und _87 in Kraft getreten ist mit den vier Freiheiten für Personen, Kapital, Dienstleistungen und Waren. Das ist der eine Punkt.
Das zweite ist: Wir hätten die Chance gehabt, mit dem europäischen Verfassungsvertrag zu einer Einheit zu werden, in der die Abstimmungsregeln ein hohes Maß an Effektivität hergestellt hätten, auch zur Regelung von solchen Fragen, die mit dem freien Binnenmarkt verbunden sind. Wir hätten nämlich die Regel gehabt, dass alles mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird und das Einstimmigkeitsprinzip wäre eher die Ausnahme geworden. Das müssen wir unbedingt erreichen! Wenn wir das nicht erreichen, dann kann Europa nicht halten.
Liminski: Akut ist die Krise ja wegen der Finanzen im Moment.
Klose: Richtig!
Liminski: Irgendwann in den nächsten Monaten muss diese Blockade ja wohl beendet werden. Oder wie viel Zeit hat Europa denn noch zur Lösung der Krise, sowohl der institutionellen als auch der finanziellen?
Klose: Also ich will es mal so sagen: Wir haben jedenfalls Zeit genug, bis die Bundestagswahlen vorbei sind. Es macht guten Sinn, das abzuwarten, weil ich nicht wirklich glaube, dass das Kernland Deutschland in den nächsten drei Monaten zu politischen Entwürfen in der Lage ist.
Liminski: Also eine Denkpause?
Klose: Ja, dafür plädiere ich entschieden. Bitte nicht Panik und nicht schnelle und möglicherweise falsche Entscheidungen, sondern gründlich nachdenken, gründlich beraten und dann wieder zusammen kommen. Auch der polnische Vorschlag, jetzt schnell einen Sondergipfel zu machen, bringt nichts, ist nur Aktionismus.
Liminski: Kommissar Verheugen, der früher die Erweiterung energisch betrieben hat und auch die Türkei in die EU hineinbugsieren wollte oder will, rät nun zu einer größeren Zurückhaltung bei der EU-Erweiterung. Ist die Lektion, dass die Völker sich durch die Erweiterung überfordert fühlen, bei ihm und vielleicht auch den anderen angekommen?
Klose: Es ist jedenfalls richtig zu erkennen, dass die Menschen inzwischen Angst haben vor weiteren Erweiterungsschritten und entsprechend reagieren, nämlich mit Ablehnung gegenüber Europa. Wenn wir dies vermeiden wollen, müssen wir in der Tat ein bisschen behutsamer vorgehen. Ich gehöre zu denen die glauben, dass der letzte Erweiterungsschritt um zehn in Wahrheit nicht vermeidbar war, aber in Zukunft sollten wir ohne die europäische Perspektive auszuschließen mit der Erweiterung etwas zurückhaltender sein. Als Jurist muss ich allerdings hinzufügen: Verträge, die geschlossen worden sind, müssen gehalten werden.
Liminski: Europa vor einem Neuanfang oder einem Rückfall in das 19. Jahrhundert. Das war der stellvertretende Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses, SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose. Besten Dank für das Gespräch, Herr Klose.
Klose: Nichts zu danken. Auf Wiederhören!
Hans-Ulrich Klose: Guten Morgen!
Liminski: Herr Klose, man wird der luxemburgischen Ratspräsidentschaft nicht den Vorwurf machen können, sie hätte nicht bis an die Grenzen der physischen Belastbarkeit um ein vorzeigbares Ergebnis gekämpft. Die ersten Kommentare nach dem Scheitern sprechen von Neuanfang, einer neuen Chance. Sicher ist: das Konsensmodell ist am Ende. Ist es tatsächlich die Geburtsstunde eines neuen Kerneuropa, vielleicht das der zwei Geschwindigkeiten? Wie kann, wie wird das künftige Europa Ihrer Meinung nach aussehen?
Klose: Ganz allgemein ausgedrückt finde ich, wir sollten jetzt nicht einen Fehler machen, nämlich den Fehler, unter dem Eindruck des Scheiterns in Panik zu verfallen und erklären, diese EU ist gescheitert und wir brauchen etwas ganz Neues. Es macht manchmal Sinn, ein bisschen zuzuwarten, um falsche Entscheidungen zu vermeiden. Ich glaube, dass die Bildung eines Kerneuropa, so wie es früher einmal von Schäuble und Lamers vorgeschlagen worden ist, jetzt in diesem Augenblick die falsche Antwort wäre, weil es auf eine Spaltung hinausliefe, und ich finde bevor man das tut, soll man gründlich nachdenken.
Liminski: Eine Spaltung zwischen wem?
Klose: Na gut, Kerneuropa hieße doch, dass die sechs ursprünglichen Mitgliedsländer und ein paar andere, die dazustoßen wollten, einen eigenen Weg gehen, möglicherweise auf der Grundlage dieser europäischen Verfassung, die jetzt gescheitert ist, und die anderen bleiben draußen vor.
Liminski: Könnte denn die Rechnung Blairs, weniger für die Landwirtschaft, mehr für Bildung und Forschung, also eine Schwächung Frankreichs, aufgehen, wenn in Berlin eine andere, britischfreundlichere und französischkritischere Regierung amtiert?
Klose: Ich glaube jede deutsche Bundesregierung wird Wert darauf legen, ein enges Arbeitsverhältnis zu Frankreich herzustellen, weil Frankreich, wenn man es schlicht formulieren will, unser westeuropäischer Anker ist, für Deutschland der westeuropäische Anker und den brauchen wir dringend. Richtig ist allerdings, dass wir in der Tat eine Veränderung der europäischen Haushaltspläne, wenn Sie so wollen, brauchen und weggehen müssen von der Finanzierung überkommener Strukturen und in die Zukunft blicken müssen. Insofern hat wie ich finde Blair im Kern eher Recht.
Liminski: Laufen wir auch in die Gefahr einer Renationalisierung Europas?
Klose: Meines Erachtens sind wir mitten drin und das war auch in Wahrheit nicht anders zu erwarten, denn wenn man sich ansieht, was wir nach dem Ende des kalten Krieges in Europa getan haben, dann war es doch dies: Wir haben nicht im Detail, aber doch im Groben die alte europäische Staatenordnung wiederhergestellt und alle diese Staaten entdecken plötzlich, dass sie Nationalstaaten sind mit nationalen Identitäten und Interessen und agieren entsprechend. Das gilt auch für das wiedervereinigte Deutschland, das ja lange Jahrzehnte nicht in nationalen Kategorien gedacht hat, aber inzwischen in solchen handelt. Das hat Konsequenzen. Das hat Konsequenzen, die wir diskutieren müssen, europäisch diskutieren müssen. Dabei denke ich macht es Sinn, sich zurückzuerinnern, warum wir denn mit Europa überhaupt angefangen haben. Das war eine Friedensordnung, also gegen die Renationalisierung gerichtet. Es war der Versuch, ein europäisches Demokratie- und Sozialmodell durchzusetzen, und es ist heutzutage die einzige Chance, um sich mit den Auswüchsen der Globalisierung gestaltend auseinandersetzen zu können. Wenn wir uns auf diese Kerngedanken wieder besinnen denke ich haben wir eine Chance, Europa weiterzuführen.
Liminski: Renationalisierung Europas ist ja nun eine These, die das Herz von Politikern erstarren und das von Historikern höher schlagen lässt. Aber wohin soll das führen? Mitterrand hat in seiner letzten Rede - das war vor dem Europaparlament - gesagt, Nationalismus bedeutet Krieg. Wird Frieden wieder fraglich, oder anders ausgedrückt Krieg sogar wieder denkbar?
Klose: Ich glaube das nicht, aber was wir miterleben ist eine Art von neuer Gleichgewichtspolitik innerhalb der Europäischen Union, also eine Rückkehr zu dem Politikmodell des 19. und 20. Jahrhunderts, mit dem Europa keine guten Erfahrungen gemacht hat. Alles das sind gute Gründe, um jetzt nicht auseinanderzulaufen, sondern einzuhalten, nachzudenken was ist und richtige Konsequenzen zu ziehen. Das Elend ist nur, dass zwei der Kernländer im Augenblick nur begrenzt handlungsfähig sind, nämlich Deutschland und Frankreich.
Liminski: Europa steht, wenn ich Sie recht verstehe, also vor einer historischen Zäsur, vor einer Weichenstellung. Das kann man wohl festhalten. Halten Sie denn einen Bruch oder eine Entfremdung zwischen diesen karolingischen Kernscheiben Frankreich und Deutschland für wahrscheinlich?
Klose: Nein, halte ich nicht für wahrscheinlich, weil beide wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind und sie werden sich auch entsprechend verhalten. Auch wenn es eine andere Regierung in Berlin gibt, wird das so sein, und auch wenn Frankreich einen anderen Präsidenten bekommen sollte. Er wird die Ausschließlichkeit des Verhältnisses auflockern, aber die Zusammenarbeit wird eng bleiben.
Liminski: Gesetz den Fall, Herr Klose, die Europäer berappeln sich und setzen ihre Integrationspolitik fort, wer würde dann mit wem zusammen kommen? Sind zum Beispiel die elf Euro-Staaten vielleicht ein genügend reifer Korpus für ein Kerneuropa?
Klose: Es hat immer in der EU verschiedene Europas gegeben, verschiedene Geschwindigkeiten, verschiedene Phasen der Zusammenarbeit. Das wird auch glaube ich in Zukunft so bleiben und ist ja in dem Verfassungsvertrag, der gescheitert ist, auch geradezu vorgesehen. Langfristig glaube ich wird Europa eine Art Mittelding zwischen einer internationalen Organisation und einem staatlichen Gebilde sein. Das ist vielleicht sogar der Kern unserer Probleme, dass wir in Wahrheit nicht ganz genau wissen, wie das Europa am Ende aussehen soll, und zwar sowohl in der eigenen Organisation wie in der territorialen Ausdehnung.
Liminski: In zwei Wochen übernehmen die Briten nun die Ratspräsidentschaft. Wird da der Bock zum Gärtner? Wird es eine Phase des Misstrauens?
Klose: Es wird jedenfalls eine Phase, in der nicht viel passieren wird, weil die Briten nach meiner Einschätzung ein etwas anderes Europa wollen. Sie wollen in erster Linie ein wirtschaftlich kooperierendes Europa mit ein bisschen Politik obendrauf, aber an eine europäische Finalität jenseits dieses Konstruktes denken die Briten nach meiner Einschätzung nicht.
Liminski: Offensichtlich hapert es an der Übermittlung der europäischen Idee zwischen dem politisch-medialen Establishment und dem Volk.
Klose: Richtig!
Liminski: Ist Europa zu kompliziert geworden, oder haben die Funktionäre in Brüssel, vielleicht auch die Politiker abgehoben?
Klose: Ich glaube man muss zweierlei bedenken. Erstens: Europa hat in den vergangenen, na sagen wir mal 15 Jahren miterlebt, dass der gemeinsame Markt tatsächlich vollzogen worden ist. Alles das, worüber heute geklagt wird, Vorrang von Markt vor dem Sozialen, ist die Konsequenz der einheitlichen europäischen Akte, die _86 unterzeichnet worden ist und _87 in Kraft getreten ist mit den vier Freiheiten für Personen, Kapital, Dienstleistungen und Waren. Das ist der eine Punkt.
Das zweite ist: Wir hätten die Chance gehabt, mit dem europäischen Verfassungsvertrag zu einer Einheit zu werden, in der die Abstimmungsregeln ein hohes Maß an Effektivität hergestellt hätten, auch zur Regelung von solchen Fragen, die mit dem freien Binnenmarkt verbunden sind. Wir hätten nämlich die Regel gehabt, dass alles mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird und das Einstimmigkeitsprinzip wäre eher die Ausnahme geworden. Das müssen wir unbedingt erreichen! Wenn wir das nicht erreichen, dann kann Europa nicht halten.
Liminski: Akut ist die Krise ja wegen der Finanzen im Moment.
Klose: Richtig!
Liminski: Irgendwann in den nächsten Monaten muss diese Blockade ja wohl beendet werden. Oder wie viel Zeit hat Europa denn noch zur Lösung der Krise, sowohl der institutionellen als auch der finanziellen?
Klose: Also ich will es mal so sagen: Wir haben jedenfalls Zeit genug, bis die Bundestagswahlen vorbei sind. Es macht guten Sinn, das abzuwarten, weil ich nicht wirklich glaube, dass das Kernland Deutschland in den nächsten drei Monaten zu politischen Entwürfen in der Lage ist.
Liminski: Also eine Denkpause?
Klose: Ja, dafür plädiere ich entschieden. Bitte nicht Panik und nicht schnelle und möglicherweise falsche Entscheidungen, sondern gründlich nachdenken, gründlich beraten und dann wieder zusammen kommen. Auch der polnische Vorschlag, jetzt schnell einen Sondergipfel zu machen, bringt nichts, ist nur Aktionismus.
Liminski: Kommissar Verheugen, der früher die Erweiterung energisch betrieben hat und auch die Türkei in die EU hineinbugsieren wollte oder will, rät nun zu einer größeren Zurückhaltung bei der EU-Erweiterung. Ist die Lektion, dass die Völker sich durch die Erweiterung überfordert fühlen, bei ihm und vielleicht auch den anderen angekommen?
Klose: Es ist jedenfalls richtig zu erkennen, dass die Menschen inzwischen Angst haben vor weiteren Erweiterungsschritten und entsprechend reagieren, nämlich mit Ablehnung gegenüber Europa. Wenn wir dies vermeiden wollen, müssen wir in der Tat ein bisschen behutsamer vorgehen. Ich gehöre zu denen die glauben, dass der letzte Erweiterungsschritt um zehn in Wahrheit nicht vermeidbar war, aber in Zukunft sollten wir ohne die europäische Perspektive auszuschließen mit der Erweiterung etwas zurückhaltender sein. Als Jurist muss ich allerdings hinzufügen: Verträge, die geschlossen worden sind, müssen gehalten werden.
Liminski: Europa vor einem Neuanfang oder einem Rückfall in das 19. Jahrhundert. Das war der stellvertretende Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses, SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose. Besten Dank für das Gespräch, Herr Klose.
Klose: Nichts zu danken. Auf Wiederhören!