Dienstag, 23. April 2024

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Klose: In der Politik ist Prestige die größte Gefährdung

In Breslau geboren, nach der Vertreibung in Bielefeld aufgewachsen, war Hans-Ulrich Klose (SPD) 1954 als Austauschstudent in den USA. Dem Land ist der Jurist auch als Außenpolitiker eng verbunden geblieben. Doch so "kann man unter Verbündeten nicht miteinander umgehen" sagt er über die Abhöraktionen der Amerikaner.

Die Fragen stellte Rainer Burchardt | 31.10.2013
    Den Deutschen Bundestag hat er mit lyrischen Grüßen verlassen: "Jetzt bitte will ich selbst entscheiden, jetzt bin ich alt und frei". Mit diesen Worten verabschiedete sich Hans-Ulrich Klose von der Berliner Bühne.

    1937 in Breslau geboren, trat er 1964 in die SPD ein. Einige Jahre regierte er als Hamburger Bürgermeister und wechselte dann in den Bundestag, wo er sich in den letzten Jahren für die deutsch-amerikanische Freundschaft engagierte. "Es gibt nichts Schöneres, als Parlamentarier zu sein", bekennt Klose rückblickend, gewiss etwas wehmütig, "denn wenn man es richtig macht, erfährt man jeden Tag etwas Neues, lernt Neues", fährt er fort und sagt: "Das werde ich vermissen." Doch der Abschied aus dem Parlament bringt auch mehr Zeit für die schönen Künste mit sich, denn Klose schreibt nicht nur Gedichte, er malt und zeichnet auch. Hans-Ulrich Klose ist verheiratet und hat vier Kinder.


    "Es gab halt Tage, da gab es nichts zu essen."

    Kindheitserinnerungen an Schlesien, karge Schulzeit im Westen
    Rainer Burchardt: Herr Klose, ich habe irgendwo gelesen, Sie wollten ja eigentlich Pastor von Morsum auf Sylt werden. Das haben Sie dann nicht gemacht. Sie haben ein juristisches Studium aufgenommen anstatt eines theologischen. Was war der Grund dafür?

    Klose: Dieser Spruch, der Pastor von Morsum, das war ein kleiner Fluchtspruch, als ich schon politisch tätig war und nicht immer glücklich war in dieser politischen Rolle. Und wir hatten damals eine kleine Wohnung auf Sylt, in Keitum, und die Morsumer Kirche war sozusagen unsere Lieblingskirche, und die Vorstellung, dort ein zurückgezogenes und nicht angefochtenes Leben zu führen, das war der eigentliche Hintergrund.

    Burchardt: Sie haben ein sehr angefochtenes Leben, ich will jetzt nicht sagen, hinter sich, aber einen großen Teil dieses Lebens bereits, und das Leben hat ja angefangen - ich denke, auch in Ihrer eigenen Bewusstwerdung - mit dem Krieg. Sie sind Jahrgang 1937. Wie haben Sie das erlebt? Sie sind in Breslau geboren.

    Klose: Also ich war zwei Jahre, als der Krieg anfing, und ich habe kindgemäße Erinnerungen an, sagen wir mal, das letzte Jahr des Krieges, also kurz bevor Breslau Festung wurde, da haben wir die Stadt verlassen und sind dann an die tschechische Grenze gegangen in einen Ort Bad Landeck, heute heißt er Ladek Zdrój. Ich habe Erinnerungen an Bombennächte, wenn man ein oder zwei Mal nachts raus musste, aber als Kind empfindet man das nicht als wirkliche Gefahr.

    Burchardt: In welchem Elternhaus sind Sie aufgewachsen?

    Klose: Meine Eltern lebten zusammen. Mein Vater war kein Soldat, weil er im Ersten Weltkrieg schwer verwundet war, er hat ein Bein verloren und wurde deshalb nicht eingezogen, und glücklicherweise ist die Familie zusammengeblieben, auch über die Vertreibungszeit hinweg, das war ja der eigentliche Gefährdungspunkt.

    Burchardt: Haben Sie an die Vertreibung noch Erinnerungen?

    Klose: Oh ja, sehr. Das passierte 1946. Da kam das Militär, russisches Militär am Abend vorher und teilte uns mit, nächsten Morgen sechs Uhr am Bahnhof. Gepäck? Ja, was man zum Anziehen braucht, keine Wertgegenstände und so weiter. Und dann wurden wir in Frachtwagen verladen, so ungefähr 40 Personen in einem Wagen mit ein bisschen Stroh unten drin, und dann irgendwann fuhr der los.

    Burchardt: Wussten Sie wohin?

    Klose: Nein, wussten wir natürlich nicht. Aber die Erwachsenen haben dann nachts versucht, durch Ritzen rauszugucken und haben an den Sternen gesehen: Es ging in Richtung Westen. Das war schon mal ein beruhigender Gesichtspunkt. Und ich erinnere mich an Diskussionen, so wenn man erfuhr, die Erwachsenen, wo kommen wir hin, und ein Spruch lautete: Hoffentlich zu den Amerikanern! Da habe ich das erste Mal von Amerika gehört.

    Burchardt: Und das hat Sie ja Ihr Leben lang verfolgt.

    Klose: Es waren dann nicht die Amerikaner, wir kamen aber Gott sei Dank in die britische Zone, es hätte ja auch in der sowjetischen Zone halten können.

    Burchardt: Wenn Sie eben gesagt haben, als Kind haben Sie das eigentlich nicht so bewusst wahrgenommen beziehungsweise nicht furchtbar ernst genommen, …

    Klose: Den Hunger habe ich wahrgenommen.

    Burchardt: … was bedeutete, ja, Hunger ist sicher auch eine wichtige Sache, aber was bedeutete damals für Sie der Begriff Angst? Haben Sie da Angst schon kennengelernt oder vielleicht spätestens bei der Vertreibung?

    Klose: Ich weiß nicht, ob man das Angst nennen kann, aber es war unsicher. Es gab halt Tage, da gab es nichts zu essen. Und wir haben, während dieser einjährigen Besatzungszeit in Bad Landeck haben wir Kinder gelernt, erstens, zu betteln - ich war relativ jung noch, klein, und die Russen, würde ich sagen, waren vergleichsweise freundlich zu Kindern -, aber wir haben auch geklaut wie die Raben, weil irgendwo musste ja was zu essen beschafft werden. Mein Vater als Amputierter konnte das in Wahrheit nicht leisten, also haben die Kinder das gemacht.

    Burchardt: War das für Sie auch so ein Punkt - ich meine, Sie sind dann schließlich ja zur Schule gegangen -, dass Sie schon gemerkt haben, also, jetzt muss ich irgendwie auch mit ran und versuchen auch, dass dieses neue Gebilde, das sich ja ab 49 Bundesrepublik genannt hat, dass da nicht Angst, Hunger und Furcht herrschen?

    Klose: Nein, so früh nicht. Die ersten Jahre im Westen, in der britischen Zone - in Bielefeld, da hielt der Zug dann, kurz vorher an der Grenze wurden wir entlaust und dann in Personenwagen gesetzt -, das war insofern, am Anfang jedenfalls, eine bedrückende Zeit, weil wir waren ja nicht willkommen. Wir kamen aus dem Osten, wir waren für viele Leute die Polacken, und wir wurden zwangsweise in Wohnungen eingewiesen, in denen …

    Burchardt: Da waren Sie sicher sehr willkommen.

    Klose: … ja Leute wohnten, und da waren wir überhaupt nicht willkommen. Es gab ja auch zerstörte Häuser. Das heißt, es war ja auch nicht gut. Ich verstehe das sogar. Aber das war nicht angenehm, und die beiden Winter 46 auf 47, 47 auf 48, die waren bitterkalt, es gab keinen Brennstoff, nichts, es war kalt. Damals haben wir auch Briketts geklaut, Kohle, von langsam fahrenden Zügen, wenn sie in den Bahnhof reinfuhren, raufgeklettert, hochgefährlich.

    Burchardt: Gab es da Konkurrenz?

    Klose: Klar. Da waren am Bahndamm ein Dutzend, alles junge Kerle, alles Kinder, und immer auf der Flucht, wenn die Polizei kam, schnell verschwinden und so - das war schon eine merkwürdige Zeit.

    Burchardt: Wenn man einen ganz großen Sprung in die Gegenwart macht - Hunger, Bettelei, Überlebenskampf, das erleben wir ja auch wieder, nicht wir Deutschen unbedingt, aber in Deutschland erleben wir das von Zugewanderten, von Eingewanderten. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

    Klose: Tja, die Situation ist schlimm. Das sind ja ganz vielfach auch Armutsflüchtlinge, die sich ein besseres Leben erhoffen und die hier insoweit nicht willkommen sind, und in Wahrheit muss man auch sagen: Wir können das Problem nicht lösen, weil wenn Sie sich den afrikanischen Kontinent angucken - wo lebt man denn da gut? Da gibt es ein paar Länder, wo das wohl geht, aber es gibt andere, da ist Bürgerkrieg, da ist Terrorismus und da gibt es nicht genügend zu essen. Also das Elend ist schon groß, und ich finde, was wir tun können, um es ein bisschen zu mildern, sollten wir jedenfalls versuchen.

    Burchardt: In der Zeit wuchsen Sie heran. Wo sind Sie zur Schule gegangen?

    Klose: Also erst mal muss man sagen: Ich habe anderthalb Jahre Grundschule gar nicht gehabt.

    Burchardt: Wieso?

    Klose: Weil es gab keine … 45, rechtzeitig vorher, ich glaube sogar Ende 44, hörte der Schulunterricht auf, der fand nicht mehr statt, und bis zur Vertreibung auch nicht. Und ich kam dann nach Bielefeld und wurde eingeschult in die dritte Klasse.

    Burchardt: Da waren Sie neun Jahre alt oder wie alt waren Sie da?

    Klose: Nein, nein, ich war acht, acht. Und ich habe mühsam nachholen müssen, und habe die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium dann so gerade, gerade, gerade geschafft.

    Burchardt: Und das war dann mehr oder weniger der ordentliche Lebensweg, der dann seinen Anfang nahm?

    Klose: Es wurde überhaupt so … Nach meiner Erinnerung 49 mit der Einführung der D-Mark, Währungsumstellung, wurden die Dinge plötzlich besser. Schlagartig waren auch die Geschäfte voll. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Vorher war da ja nichts drin, Pappe und Blech.

    Burchardt: Und jeder fragte sich, wo kam das her, ja.

    Klose: Und plötzlich gab es Geld und es war voll. Vorher haben wir ja vielfach gelebt von Schulspeisung: Jeden Tag in der Schule kam man mit seinem kleinen Pott und entwickelte nach einer Weile auch eine Technik, wo man stehen musste, um richtig was Gutes zu kriegen - vor allen Dingen, wenn es Erbsensuppe war, da durfte man nicht zu früh und nicht zu spät, sondern so in der mittleren Hälfte musste man dran kommen, dann kriegte man die Kelle gut voll. Das sind Überlebenstechniken, die man dann entwickelt.

    "Das amerikanische Erziehungsideal ist success.""

    Als Austauschschüler in die USA, und: Die Vorzüge eines Jura-Studiums.
    Burchardt: Sie sind dann 54 sozusagen in das, ja, ins damalige Paradies gegangen, als Austauschschüler in die USA, nach Clinton.

    Klose: Das war eine tolle Geschichte.

    Burchardt: Wie ist das entstanden? Ist das schon damals der institutionalisierte Austauschdienst gewesen?

    Klose: Ja.

    Burchardt: Der war so früh schon, ja?

    Klose: Ja, die haben einen ersten Testlauf, glaube ich, gemacht 51 oder 52. Das war ein Austauschprogramm, das die amerikanische Regierung gefördert hat, der American Field Service organisierte das, und es gab einfach einen Aushang in der Schule und ich habe den gesehen und habe gedacht: Hm, man kann sich ja mal bewerben. Und ich habe mich dann beworben und bin zu verschiedenen Testgesprächen gebeten worden - ach, ich konnte die Präsidenten rauf und runter sagen und war damals schon … Ich habe mich richtig vorbereitet. Und eines Tages kriegte ich die Mitteilung, ich sei in der engeren Auswahl, ich müsste jetzt nur noch einen Gesundheitscheck machen, und daraufhin wurde ich mit einer Fahrkarte, Eisenbahnfahrkarte Richtung Hamburg ausgestattet und musste ins amerikanische Generalkonsulat und bin dort ungefähr eine Stunde richtig …

    Burchardt: … gegrillt worden.

    Klose: … gecheckt worden. Und als die Ärzte gesagt haben, ja, der ist gesund, kriegte ich die Mitteilung: Ich bin ausgesucht. Und wir fuhren dann - wir Deutschen von Bremerhaven aus - mit Zwischenstopps in England mit insgesamt etwa 250 europäischen Schülern und Schülerinnen …

    Burchardt: … mit dem Schiff.

    Klose: … mit dem Schiff, Greek Line, fünfeinhalb Tage, New York, dort wurden wir dann noch mal zusammengeholt, so drei Tage Vorbereitung, dann Busticket, Greyhound, von New York nach Chicago, von Chicago nach Clinton, insgesamt so nach meiner Erinnerung gut 30 Stunden. Es war eine sehr glückliche Auswahl, ich hatte eine richtig angenehme amerikanische Familie, die mich behandelt haben wie einen weiteren Sohn der Familie. Und Sie müssen sich das mal vorstellen: Ich komme da hin, da sah es ja in Deutschland noch nicht so aus, wie es heute aussieht, und da war dieses berühmte Weiße Haus, am Hügel, mit Wald dahinter, und natürlich hatten die ein Auto, natürlich hatten die einen Fernseher, natürlich hatten die ein kleines Schiffchen, Boot auf dem Mississippi, liegt am Mississippi, die Schule hatte ein Schwimmbad, da gab es Tennisplätze, Sportplätze - also, das war schon …

    Burchardt: Es war wie die Landung des Mädchens bei Frau Holle auf der Wiese.

    Klose: Es war unglaublich.

    Burchardt: Wie sind Sie … Sie sagen, Sie waren in einer netten Familie. Wie war es insgesamt? Ich meine, das war damals neun Jahre nach Kriegsende. Man kam da als Deutscher sozusagen in das Paradies der Freiheit. Wurde man da nicht auch ein bisschen zumindest skeptisch angeschaut?

    Klose: Nein. Ich habe überhaupt nichts davon erfahren, obwohl ich ein bisschen Angst hatte. Ich war vorbereitet auf so was. Aber es kam überhaupt nichts. Es gab auch mal eine Situation, da haben wir uns unter Schülern unterhalten über Religionen und sagte der eine, ich bin Katholik, der sagte, ich bin Baptist, und ich sagte, ich bin lutheran, und dann sagte einer: Ich bin Jude. Und ich habe in dem Augenblick so ein bisschen gezuckt, weil ich war bis dato bewusst keinem … Aber es war nichts an Vorwurf dann, es war einfach nur eine Feststellung. Und im Übrigen war es 54 schon so, dass die Amerikaner mit ein bisschen Erstaunen, ja, sogar Bewunderung auf Deutschland geguckt haben, weil es war die Zeit des Wirtschaftswunders.

    Burchardt: Da ging es bergauf, ja.

    Klose: Und es war die Zeit, wo Mercedes die Panamericana gewann, und es war kurz nach der Weltmeisterschaft, und nichts bewundern Amerikaner mehr als Erfolg. Das amerikanische Erziehungsideal ist success.

    Burchardt: Wobei es ja ausgerechnet die Amerikaner waren, die mit ERP und Marshallplan uns eigentlich auf die Beine geholfen haben.

    Klose: Sie haben jedenfalls mitgeholfen.

    Burchardt: Und es gibt nicht Wenige, die auch sagen, also die haben uns hier Demokratie gebracht.

    Klose: Ja, sie haben uns jedenfalls geholfen. Sie haben das auch im eigenen Interesse getan natürlich, weil sie Partner brauchten in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen Ost und West. Aber sie waren hilfreich, und in meinem persönlichen Leben haben sie jedenfalls eine durchweg gute Rolle gespielt.

    Burchardt: Herr Klose, reden wir über Ihr Studium. Sie haben nach dem Abitur dann den Weg des Juristen eingeschlagen. Warum gerade Jura? Wollten Sie den breiten Fächer möglichst ausnutzen, den ja ein Jurastudium bietet?

    Klose: Ehrlich gesagt: Ich wusste nicht ganz genau, was ich studieren sollte. Ich hatte eine Vorliebe für Germanistik und Englisch. Mein Vater war Lehrer. Und der hat mir nicht unbedingt zugeraten, in die Richtung Studienrat zu gehen.

    Burchardt: Aus eigener Erfahrung.

    Klose: Er hat mir dann irgendwann ein Buch gegeben von, ich erinnere es noch genau, Engisch, "Einführung in das juristische Denken", Urban-Wissenschaftsreihe. Ich weiß gar nicht, ob es die noch gibt. Und ich habe das damals gelesen und das hat mich fasziniert, weil es war eine völlig andere Art zu denken, eine völlig andere Logik als die, die ich kannte. Und dann habe ich gesagt, okay, ich probiere das, habe am Anfang noch - ich war im ersten Semester in Freiburg im Breisgau -, habe ein bisschen Germanistik nebenbei gehört, bin auch mal zu Heidegger gegangen, der da lehrte, habe aber, zugegeben, nicht viel verstanden davon, musste eine Fleißprüfung machen auf Geheiß meines Vaters nach dem ersten Semester, weil der traute mir nicht so recht. Freiburg war weit weg von Bielefeld. Und das hat mir dann gefallen, ich habe es dann weitergemacht, gern gemacht.

    Burchardt: Wobei, mit Verlaub gesagt: Sie sind ja ein lockerer Typ. Man würde ja nicht sagen: Das ist ja der typische Jurist, der da jetzt ankommt. Haben Sie das trennen können von Ihrer persönlichen Entwicklung oder von Ihrer Mentalität? Wie geht das eigentlich?

    Klose: Das geht sehr gut. Ich erinnere bei solchen Fragen immer daran, dass Goethe auch Jura studiert hat. Das geht offenbar. Und es gibt auch ein paar andere, die in die Richtung gegangen sind. Das juristische Denken ist etwas, was mir später sehr viel geholfen hat, weil eigentlich lernt man, wenn man Jura studiert, eines, nämlich: zu entscheiden. Wann immer Sie einen Fall lösen müssen, lautet am Ende immer: Wer hat recht? A kauft irgendwas bei B, es gibt Probleme, es gibt eine Auseinandersetzung. Entscheide: Wer hat recht?

    Burchardt: Die Unausweichlichkeit einer Entscheidungsfindung?

    Klose: Entscheidung. Und das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, plus der Satz, dass man, bevor man entscheidet, auch die andere Seite hören muss, "audiatur et altera pars".

    Burchardt: Da hätten Sie auch Journalist werden können vielleicht.

    Klose: Ich glaube ja. Ich halte das für möglich. Aber es ist jedenfalls ein wichtiger Punkt, Argumente anzuhören, was ja im Bereich der Politik unverzichtbar ist, weil es ja in der Politik auch keine berechenbare richtige Entscheidung gibt, sondern nur eine, für die mehr oder weniger gute Argumente sprechen.

    SPD-Eintritt, Erinnerungen an die erste große Koalition und die 68er

    Burchardt: Herr Klose, reden wir über Ihre politische Karriere. Warum die SPD und wann?

    Klose: Warum die SPD? Ich habe am Anfang etwas gezögert. Ich war ein bisschen hin- und hergerissen zwischen Sozialdemokratie und Liberalen, weil ich glaubte, dass Deutschland ein bisschen Liberalität auch ganz gut gebrauchen könnte, wenn man sich die Geschichte, unsere deutsche Geschichte ansieht. Es war dann irgendwann mein Vater, der Mitglied der SPD war, und ein Buch, ich weiß es nicht, vielleicht Anatole France? Da stand ein Satz drin: "Die Majestät des Gesetzes verbietet sowohl Armen wie Reichen, unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen", aber es machte eben einen Unterschied, weil der Reiche muss ja nicht, aber der Arme muss so geschützt werden, dass er es nicht nötig hat, unter der Brücke zu schlafen.

    Burchardt: Hochaktuell.

    Klose: Und dieser Satz, ich habe ihn nicht mehr genau drauf, der hat mich stark beeindruckt, und ich habe gesagt: Es geht eben nicht nur darum, eine liberale Verfassung zu haben, sondern es muss auch so was geben wie eine soziale Grundfederung von Freiheit. Und dann bin ich der SPD über drei …

    Burchardt: Wann war das?

    Klose: 1964, bin ins Kurt-Schumacher-Haus in Hamburg gegangen, habe gesagt, ich wollte Mitglied werden - da waren die aber gar nicht so begeistert, die haben gesagt, ja, lesen Sie erst mal das Programm und lesen Sie die Satzung, dann kommen Sie in einer Woche noch mal wieder. Ja, und dann bin ich nach einer Woche noch mal wieder hingegangen und dann haben sie mich auch aufgenommen.

    Burchardt: 64 sind Sie eingetreten, 66 ging die damalige SPD, insbesondere angetrieben von Herbert Wehner, in die erste große Koalition unter Kiesinger. War das für Sie eigentlich ein Schock oder haben Sie gesagt, jetzt sind wir endlich auch mal mit dran?

    Klose: Nein, es war damals überhaupt kein Schock, sondern es war, wenn Sie so wollen, die Erfüllung eines strategischen Weges. Die SPD war ja am Anfang nur stark auf kommunaler Ebene, sie hat dann nach und nach die Länderebene erobert, wenn man das so sagen darf, aber sie war vom Bund, der Bundespolitik ferngehalten. Irgendwie steckte da in den Argumenten der Gegner immer noch was von den nicht ganz Zuverlässigen.

    Burchardt: Vaterlandslose Gesellen?

    Klose: Ja, richtig. Das war aber immer noch ein bisschen so. Und plötzlich waren wir eben in der Regierung, und ich glaube schon, dass das richtig war. Und nach meiner Erinnerung war es im Wesentlichen Herbert Wehner, der diese Strategie bestimmt hat und der sie auch vorbereitet hat im Gespräch mit einem Großonkel, Baron zu Guttenberg. Die beiden kannten sich, der Baron und der ehemalige Kommunist. Die trafen sich am Abend.

    Burchardt: Das war der alte Guttenberg, der auch im Parlament nachher war für die CSU?

    Klose: Richtig, richtig. Die beiden erinnere ich. Und Wehner hatte damals die Strategie, wir müssen Teil der Bundespolitik werden, um auch selber die Verantwortung führend zu übernehmen, und das war damals richtig und das war eher eine Befreiung.

    Burchardt: Obwohl: Er war … Drei Jahre später war er gegen die Sozialliberalen, also das musste ja Willy Brandt gegen den Willen von Wehner durchsetzen.

    Klose: Ja, wahrscheinlich spielte bei Wehner auch ein bisschen eine Rolle, dass er inzwischen ein Vertrauensverhältnis zur Union aufgebaut hatte, ich weiß es nicht genau, ich habe ihn nie fragen können, aber möglicherweise seine Art von Loyalität.

    Burchardt: 1968 gab es ja nun - das kam ja auch von Hamburg aus, aus der Universität, "Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren". Waren Sie mit dabei?

    Klose: Nein, ich war schon draußen.

    Burchardt: Nein, nicht, dass Sie jetzt dabei waren örtlich, aber mental, geistig? Würde man sagen, Klose war auch ein 68er?

    Klose: Nein, kann man nicht sagen. Ich war damals ja schon Mitglied der SPD, und die Studentenrevolte, in Anführungszeichen, spielte eine Rolle. Ich war ein bisschen aktiv bei den Jungsozialisten, und wenn ich mich recht erinnere suchte damals die Parteiführung in Hamburg junge Mitglieder, die mit den Studenten reden konnten. Und der Finger blieb zufällig auch bei mir hängen. Und ich habe dann mit denen geredet. Ich kenne ja auch die Namen noch… Jens Litten, … die später ja andere Wege gegangen sind.

    Burchardt: Und Albers, der in Bremen dann war …

    Klose: Richtig. Und ich habe mit denen gesprochen über Universitätspolitik und neues Universitätsgesetz. Das ist dann auch später tatsächlich in der Bürgerschaft verabschiedet worden. Und das war, wenn Sie so wollen, das war mein Einstieg in die Politik. Das war nicht geplant, sondern ich war plötzlich, weil ich in dieser Situation Gesprächspartner war, war ich ein Teil der Politik geworden.

    Burchardt: Lebten Sie damals schon in Hamburg?

    Klose: Ja, ich war damals schon in Hamburg, ich bin ja nach dem schon zweiten Semester nach Hamburg gegangen. Ich wollte endlich mal eine große Stadt. Bielefeld war es nicht wirklich, und Freiburg war sehr schön, aber auch sehr klein.

    Burchardt: Ich meine, dieser Status hat Sie ja später mal eingeholt, als Sie dann aus Statusgründen, weil man als Hanseat keine Orden annimmt, dass Sie das Große Bundesverdienstkreuz nicht angenommen haben. Bedauern Sie das eigentlich?

    Klose: Nein, das ist mir auch nicht angeboten worden, weil …

    Burchardt: Also das habe ich woanders gelesen, dass das so sei.

    Klose: Nein, nein, nein.

    Burchardt: Nein?

    Klose: Nein, nein. Es ist mir … Ich bin … Könnte sein, dass ich mal gefragt worden bin, aber ich erinnere das nicht mehr wirklich. Ich erinnere mich nur: Ich habe mal einen Orden, eine Anfrage negativ beschieden, nämlich von Frankreich. Als Chirac mal nach Berlin kam, viel später, da war ich schon Vorgesetzter des Auswärtigen Ausschusses, kam die Anfrage, ob ich einen Orden annehmen würde. Und dann habe ich aus Hamburger Tradition gesagt: Nein, ich könnte das nicht. Und daraufhin kriegte ich ihn.

    Burchardt: Zur Strafe?

    Klose: Richtig, ich kriegte ihn, und habe damals, weiß ich noch, mit dem Ortwin Runde, damals Bürgermeister, telefoniert und habe gesagt, hör mal, was mache ich denn nun? Und da hat der gesagt, ach, weißt du, vielleicht sind die deutsch-französischen Beziehungen noch wichtiger als Hamburger Tradition - behalte den.

    Burchardt: Pragmatisch, ja. Das heißt, Sie würden heute auch ein Bundesverdienstkreuz annehmen?

    Klose: Müsste ich mir überlegen, müsste ich nachdenken.

    Burchardt: Interessant.

    Klose: Aber da ist ein bisschen, ja, Schmidt ein Vorbild.

    ""Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst.""

    Persönliche Vorbilder, die zweite Heimat USA und Gefahren in der Politik.
    Burchardt: Wie war Ihr Verhältnis zu Schmidt? Sie sind ja beide Hamburger und vom Typus her vielleicht auch ein bisschen ähnlich.

    Klose: Das war zeitweilig schwierig.

    Burchardt: Warum?

    Klose: Na ja, ich war ihm eigentlich zu jung als Bürgermeister, damit hatte er im Übrigen recht.

    Burchardt: Ja, Sie waren 37 damals.

    Klose: Ich war zu jung. Und wir hatten damals eine Auseinandersetzung zum Stichwort Extremistenerlass, und die war bitter, aber trotzdem muss ich sagen: Ich habe ihn, jedenfalls in einer bestimmten Phase, nicht nur verstanden, sondern bewundert, und das war die Geschichte Schleyer-Entführung und Ermordung und dieses Flugzeug, was dann entführt wurde. Und ich war als Bürgermeister, weil wir auch einen Strafgefangenen hatten, Teil des Krisenstabes, und ich werde diese Nacht von Mogadischu nie vergessen. Da saßen wir dann alle, und Ben Wisch, Wischnewski war da hingefahren, um sozusagen politisch vor Ort zu sein, und man merkte Schmidt die Anspannung an, das war schon unglaublich. Und er hat dann später ja auch gesagt: Wenn es schiefgegangen wäre, wäre er natürlich sofort zurückgetreten. Ich erinnere mich deshalb, weil irgendwann - es muss so um elf Uhr nachts gewesen sein - holte er plötzlich sein kleines Schachspiel, er hatte so ein kleines, abgewetztes Schachspiel, das hat er als Soldat gehabt. Und dann haben wir Schach gespielt. Und ich wusste genau: Der macht das nur, um sich zu kontrollieren.

    Burchardt: … abzulenken.

    Klose: Nein, zu kontrollieren, unter Kontrolle zu halten. Und wie er das hingekriegt hat - und es war unglaublicher Druck, auch später, Sie wissen, die Auseinandersetzung um Schleyer, soll man nachgeben oder nicht nachgeben, Familie spielt eine große Rolle dabei -, da habe ich Schmidt kennengelernt, und ich glaube insgesamt, er war ein sehr guter Kanzler.

    Burchardt: Es war natürlich auch eine Frage: private Ansprüche und Staatsräson. Solche Situationen hat es auch bei der Lorenz-Entführung gegeben, das muss man auch sagen.

    Klose: Ja.

    Burchardt: Kommen wir zu Ihrer Amerika-Affinität, denn das hat Sie ja eigentlich ein gesamtes politisches Leben begleitet. Wann ist es - abgesehen jetzt von Ihrer ersten Impulsfahrt nach Amerika 1954 -, wann ist für Sie so Amerika, ja, das Beispiel für die freie Welt gewesen, an dem wir uns orientieren können und an dem wir auch unsere politischen Impulse ausrichten sollten?

    Klose: Es war ganz zweifellos Kennedy, der ja eine Strahlkraft hatte, die ganz anders war und lang andauernd prägend als der gegenwärtige Präsident, der ja auch ein hohes Maß an Charisma einsetzt. Aber Kennedys Auftreten und die Art und Weise, wie er redete, war schon ein Vorbild. Und der sagte halt solche Sachen, die Deutsche gar nicht sagen konnten: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst. Ein Amerikaner kann das sagen. Und das klang schon ziemlich überzeugend damals. Der hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich Politik nicht als schmutziges Geschäft gesehen habe, sondern als etwas, was es wert ist, dass man sich dafür einsetzt.

    Burchardt: Aber Sie haben damals vielleicht auch nicht so viel gewusst wie das, was später herauskam, …

    Klose: Nein, nein.

    Burchardt: … zum Beispiel die Involvierung in den Vietnamkrieg und dergleichen Dinge mehr.

    Klose: Natürlich, natürlich.

    Burchardt: Es ist ja alles relativ.

    Klose: Das ist alles relativ, aber ich wollte nur erklären, dass Kennedy damals eine große Rolle gespielt hat. Und dazu kam, dass die Amerikaner ja eben auch eine kluge Politik betrieben haben. Ich bin dann ja später noch mal eingeladen worden von ihnen. Als ich gerade Abgeordneter der Bürgerschaft war, galt ich ja aus deren Sicht als ein Young Leader.

    Burchardt: Da waren Sie Young Fellow, damals.

    Klose: Ja. Und dann haben die mich noch mal eingeladen, ich sollte da hinfahren, ich konnte mir aussuchen, wohin, ich konnte sprechen, mit wem ich wollte – einen Monat lang.

    Burchardt: Toll.

    Klose: Und dann bin ich da einen Monat lang rumgefahren. Sie wollten, dass ich alles kennenlerne.

    Burchardt: Herr Klose, wenn ich Ihnen jetzt so zuhöre, dann denke ich: Kennedy, ich war selber auch ein Fan von Kennedy, wir sind ja diese Generation, und ich erlebe jetzt Obama. Kennedy 2, Fragezeichen? Das Fragezeichen wird immer größer, und wir sitzen hier gerade an einem Tag hier in Berlin jetzt zusammen für dieses Interview, wo die Schlagzeilen sich überhäufen, dass bis hin zum Handy der Kanzlerin die NSA unter amerikanischer Direktion abgehört worden ist und abgehört worden sind, und man weiß nicht, was noch sonst alles kommt. Was bewegt Sie da eigentlich, wenn Sie das hören? Ist das noch das Amerika, das Sie kennen und schätzen?

    Klose: Nein, ich finde das schlicht unerträglich, und ich sage meinen amerikanischen Gesprächspartnern, wo immer ich die Möglichkeit habe, das müssen sie dringend vom Tisch bringen, das muss aufhören. So kann man unter Verbündeten nicht miteinander umgehen. Wenn es um Terrorismusabwehr geht - aber das hat ja damit überhaupt nichts zu tun, das ist eine völlig andere Ebene -, dann habe ich für die amerikanischen Präferenzen für Sicherheit ein gewisses Verständnis nach 9/11, nach den Anschlägen. Aber das, was wir im Augenblick erleben, ist nicht akzeptabel, und ich sehe auch, dass die Kanzlerin das so sieht, weil die ist ja keine, die leicht aus der Haut fährt, aber wenn sie mal und dann unmittelbar anruft, dann muss es sie schwer getroffen haben, und da kann man sie nur unterstützen, muss ich sagen.

    Burchardt: Es gibt Leute, die sagen, das ist nach Guillaume der schlimmste Fall von Spionage, mit dem wir es zu tun haben im Augenblick.

    Klose: Es ist jedenfalls, um das Adjektiv zu benutzen, hässlich.

    Burchardt: The Ugly American.

    Klose: Ich wollte es nicht sagen, aber es ist so.

    Burchardt: Ja, es gibt ja diese Formulierung. Noch mal zurück zu Ihrer Hamburger Zeit, Herr Klose: Als Bürgermeister der freien und Hansestadt Hamburg, primus inter pares, waren Sie trotz alledem jemand, der sagen konnte, wo es langgeht. Sie waren, als Sie Bürgermeister wurden, 37 Jahre alt, Sie haben selber mal gesagt, auch wenn Sie sich jetzt auf Helmut Schmidt berufen: Ich war eigentlich zu jung. Warum eigentlich?

    Klose: Ja, weil die größte Gefährdung in der Politik ist nicht, wie immer vermutet wird, Geld, sondern die größte Gefährdung ist Prestige. Sie gelten plötzlich als jemand, der wichtig ist, und Sie entwickeln selber das Gefühl, dass es nichts Wichtigeres gibt als Politik und dass man selber so wichtig ist wie das Amt, das man wahrnimmt. Und das ist falsch. Es braucht einen gewissen Abstand, um dieser Versuchung nicht zu unterliegen.

    Burchardt: Aber gibt es nicht Rituale im politischen Leben? Ich meine, wenn ich jetzt mal an die Präsidentschaft in Deutschland denke, ich will jetzt gar nicht detailliert über Wulff sprechen, aber die Frage eben: Hebt man dann irgendwann auch vielleicht ab? Wie hoch ist der Faktor Eitelkeit in dem Zusammenhang, auch Selbstüberschätzung?

    Klose: Spielt beides eine Rolle, Eitelkeit und Selbstüberschätzung, und am Ende ein Bedürfnis, sich abzuschotten. Sie werden misstrauisch.

    Burchardt: Man wird einsam.

    Klose: Ja, misstrauisch, und auch, ja, eine gewisse Einsamkeit auch. Und ich glaube, dass ich zehn Jahre später einfach besser war.

    Burchardt: Hätten Sie dann was anderes gemacht? Zum Beispiel gehörten Sie ja zu den wenigen Spitzenpolitikern, die gegen Brokdorf gewesen sind, gegen das Kernkraftwerk damals. Es gab eine sehr differenzierte Stamokap-Diskussion damals, staatsmonopolistischer Kapitalismus, wo Sie eigentlich auch eine wichtige Stimme waren und gesagt, also Freunde, lasst uns da mal ein bisschen alle Seiten sehen, audiatur et altera pars. Was ist es genau, wenn man in so einer Situation dann ist und plötzlich merkt, Mensch, das, was ich sage, das wird ja hier auf eine Goldwaage gelegt, das ist ja unglaublich?

    Klose: Also meine Bemerkung zu Stamokap war eher eine Unbedachtsamkeit, weil ich …

    Burchardt: Hat Ihnen aber viele Sympathien eingebracht.

    Klose: Ja, hat mir aber auch eine Menge auch Opposition eingetragen. Ich war nie ein Anhänger der Stamokap-Theorie, ich habe nur gesagt: Natürlich gibt es Erscheinungsformen in modernen Volkswirtschaften, wo man über Grenzen nachdenken muss, nicht in dem Sinne, dass die Wirtschaft nun sozusagen den Staat sich hält, das war ja sozusagen der Kern von Stamokap, …

    Burchardt: Reperaturbetrieb des Kapitalismus, ja.

    Klose: Ja. Das war nicht meine Auffassung. Aber ich war plötzlich auf diese Art und Weise in einer linken Ecke, obwohl ich eigentlich vom Temperament aus nicht wirklich links bin.

    Burchardt: Was sind Sie denn?

    Klose: Dann kam noch die Debatte um den Extremistenbeschluss dazu, den ich ja am Anfang gutgeheißen habe, der uns aber ständig belastet hat, weil wir keine Senatssitzung hatten ohne irgendeinen Fall, wo wir über einen Menschen entscheiden mussten, darf der nun Beamter werden, ja oder nein?

    Burchardt: Ja, man muss dazu sagen, vielleicht für unsere jüngeren Hörer, das ist von 1972 unter Willy Brandt auch abgezeichnet worden, von den Länderministern gebracht worden, dass Leute, die in sozusagen verfassungsfeindlichen Organisationen waren, nicht in den öffentlichen Dienst übernommen werden durften.

    Klose: Richtig, das war der Kern der Geschichte, das war der Situation geschuldet, aber es war halt einfach belastend, weil man entschied so ganz konkret über ein einzelnes Schicksal. Und diese Debatte war so quälend, dass ich irgendwann gesagt habe: Wir müssen davon wegkommen, das muss aufhören. Und dies beides schob mich sozusagen in die linke Ecke. Und dann kam Brokdorf noch oben drauf, und bei Brokdorf muss ich Ihnen sagen: Es war gar nicht so, dass ich Sorgen hatte wegen der Sicherheit der Kernkraftwerke. Das war damals nicht die Diskussion. Nein, ich war auf ein Problem gestoßen, das uns heute noch beschäftigt, nämlich das Problem: Was machen wir eigentlich mit dem atomaren Abfall? Wohin damit? Und inzwischen haben wir vier Kanzler gehabt und keiner hat das Problem gelöst, und ob wir es in absehbarer Zeit lösen werden - ich weiß es nicht.

    Burchardt: In England werden jetzt neue Kernkraftwerke …

    Klose: … gebaut, und das einzige Land, das ein Endlager gebaut hat und im Augenblick betreibt, ist Finnland, kein anderes Land hat es. Und ich wollte nicht dieses Problem vergrößern dadurch, dass ich ein viertes Kernkraftwerk rund um Hamburg baute. Und das war dann am Ende der Grund, warum ich …

    Burchardt: Sie sind dann zurückgetreten.

    Klose: Ja, ich hatte keine Mehrheit.

    ""Also ich glaube, dass bei der Einführung des Euro, bei der Einführung Fehler gemacht worden sind."

    Wiedervereinigung, Europafragen und die aktuelle Regierungsbildung
    Burchardt: 89 deutsche Einheit, der Mauerfall, Herr Klose - kommen wir auch nicht dran vorbei, natürlich nicht. Was war das für Sie als USA-affiner Mensch, weil ja die Interpretationen sehr unterschiedlich sind? Es gibt Leute, die sagen, das ist das Volk gewesen, wir sind das Volk, aus der DDR damals, das die Mauer zum Einsturz gebracht hat, andere sagen, ohne Gorbatschow wäre das nicht möglich gewesen, und wiederum andere sagen - ich glaube, da habe ich bei Ihnen auch irgendwas gefunden –, na ja, ohne die Amis wäre das eh nicht gelaufen.

    Klose: Na ja, es wäre ohne die Amerikaner nicht gegangen, weil es ja nicht so war, dass alle unsere europäischen Nachbarn pro Einheit gewesen wären.

    Burchardt: England und Frankreich.

    Klose: Es gab da eine britische Politikerin, die damals gesagt hat, sie liebe Deutschland so sehr, dass sie gerne zwei haben möchte. Wir erinnern uns auch noch an die Rolle, die Mitterrand damals gespielt hat. Es war am Ende der amerikanische Präsident Bush senior, der Vater, der, wenn ich das recht erinnere, gesagt hat: Es ist eine Chance der Freiheit, und diese Chance muss man ergreifen. Und der hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Europäer, unsere Nachbarn, zugestimmt haben.

    Burchardt: Vor diesem Hintergrund - die augenblickliche Europapolitik ist ein wenig aus dem Ruder gelaufen, nicht nur wegen des Euro, sondern insgesamt. Ich glaube, in Amerika weiß man auch nicht mehr so ganz genau, mit wem man es zu tun hat. Kissinger hat mal gesagt: Ich brauche eine Telefonnummer in Europa, ich habe hier keine. Jetzt hat er eine, mit Frau Ashton, nur: Die Politik, die dort betrieben wird, die Außenpolitik - das ist ja nun auch Ihr Metier -, ist ja schwer einschätzbar. Was läuft da falsch?

    Klose: Also ich glaube, dass bei der Einführung des Euro, bei der Einführung Fehler gemacht worden sind, weil ohne eine gewisse Harmonisierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik eine Währung, gemeinsame Währung zu haben - das konnte eigentlich nicht gutgehen. Es wäre aber jetzt, wie ich finde, völlig falsch, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen: Wir müssen den Euro wieder loswerden. Er ist nun mal das Symbol für Europa und steht dafür. Und ich glaube auch, dass wir in Wahrheit die Eurokrise im Griff haben, weil wir haben genügend Instrumente, um das zu beherrschen. Was bei der Gelegenheit deutlich geworden ist: Die Dämonen der Geschichte sind alle noch da, und sie zielen natürlich immer auch auf den angeblich Stärksten, von dem man Führung erwartet, aber wenn er führt, vermutet man, er wolle wieder dominieren, und das …

    Burchardt: Werden die Deutschen ungerecht behandelt?

    Klose: Nein, ich … Ja, ich finde, wir werden zu einem guten Teil ungerecht behandelt, weil wir ja in der Tat der größte Finanzierer der Europäischen Union sind, und man kann schlechterdings von uns nicht erwarten, dass wir sozusagen für die Schulden aller Anderen geradestehen. Das überfordert uns ganz zweifellos. Was wir vielleicht versäumt haben, ist, unseren Partnern in Europa nicht nur mit Strenge zu begegnen, sondern auch mit einem gewissen Maß an Empathie, weil es ist ja schrecklich, was sich da abspielt in einzelnen Ländern, wenn sie eine Jugendarbeitslosigkeit haben von bis zu 50 Prozent und darüber. Das geht nicht, und da hätten früher Gesten einsetzen müssen, die es ja inzwischen in Ansätzen gibt, dass wir versuchen, unser Berufsausbildungssystem zu öffnen, es nach Spanien zum Beispiel zu transferieren und Spanier einladen, hierherzukommen, um danach zurückzugehen. Solche Gesten hätten früher da sein müssen, und manche Redewendung, die es im Zusammenhang mit der Krise gegeben hat, hat nicht eben dazu beigetragen, dass das deutsche Renommee gewachsen ist.

    Burchardt: Sie gehören ja seit fast 50 Jahren einer Partei an, die Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf ihre Fahnen geheftet hat seit 150 Jahren. Der Begriff "Solidarität" wird im Moment sehr strapaziert in Europa nach dem Motto, wieso sollen wir jetzt für die Schulden der Anderen aufkommen? Es wird auch gesagt, vielleicht wäre es nicht schlecht, einen Marshallplan für Europa aufzulegen. Was halten Sie von solchen Ideen? Sie waren nun wirklich außenpolitischer Ausschussvorsitzender, Sie waren im transatlantischen Dialog eine führende Figur. Was kann man da machen?

    Klose: Ich glaube, das Wichtigste, was wir unterstützen sollten, wäre eine Strategie der Reindustrialisierung in einzelnen Ländern. Wir sind ja immer noch ein sehr stark produktiv ausgelegtes Land, industrielle Produktion trägt zu 30 Prozent zu unserem GDP bei, in anderen Ländern ist das deutlich, deutlich weniger. Das beste, was Deutschland tun könnte, wäre, eigene Unternehmen ermuntern, in anderen europäischen Ländern zu investieren, was wir ja auch getan haben. Wenn Sie mal nach …

    Burchardt: Ja, die gehen aber nach Osteuropa in die Billiglohnländer.

    Klose: Nein, auch nach Spanien. Wenn Sie mal von der französischen Grenze bis nach Sevilla runterfahren - links und rechts der Schnellstraße stehen viele Produktionsstätten, davon sind viele deutsche Investitionen. Das ist gut und richtig. Und ja, es gibt ja solidarische Programme bei der EU schon heute, der sogenannte Kohäsionsfonds ist ja ein Instrument der Solidarität. Das größte Empfängerland übrigens dieser europäischen Gelder war Griechenland. Sie haben es nur nicht produktiv angelegt, sondern sie haben es konsumiert im besten Fall. Es ist eine schwierige Gemeinschaft, und ich glaube, wir müssen durch diese Krise durch, und wir werden am Ende in Ansätzen auch so etwas bekommen wie den deutschen Länderfinanzausgleich, nicht in der Perfektion, aber ein bisschen was beitragen, dass sich andere europäische Länder auch entwickeln - wozu die natürlich in erster Linie beitragen müssen - das gehört zu Europa. Und ich finde, wir Deutschen sollten in dieser Frage hilfreich sein, aber nicht unbedingt dominant.

    Burchardt: Zum Schluss die Frage: Bedauern Sie eigentlich, dass Sie jetzt aus dem Parlament ausscheiden? Es flimmern jetzt die Bilder des neuen Parlaments und vor allen Dingen auch der Koalitionsgespräche. Ist es richtig, dass die SPD jetzt versucht, in eine große Koalition reinzugehen?

    Klose: Ich bin da etwas zögerlich, zugegeben, weil es gibt eine, wie soll ich sagen, Unwucht im demokratischen System. Es gäbe dann 80 Prozent Regierungsabgeordnete und 20 Prozent Opposition. Das ist, finde ich, problematisch. Auf der anderen Seite: Ich weiß auch keine andere Lösung. Neuwahlen wären eine Lösung nicht, weil ich bin sicher, die Neuwahl würde die Sache nicht klären.

    Burchardt: Möglicherweise der Union die absolute Mehrheit bringen …?

    Klose: Nein, das glaube ich eher nicht, weil die Vermutung, dass die Alternative für Deutschland dann reinkäme, ist relativ groß, und das wäre nun der letzte Partner, den die CDU sich wählen könnte. Also mal abwarten, wie die Ergebnisse sind.

    Burchardt: Sie werden als Mitglied befragt. Wissen Sie schon, wie Sie entscheiden?

    Klose: Ich werde mir das angucken und werde dann abstimmen. Ich werde auch darauf hören, was die Führungsriege dazu zu sagen hat. Es muss immer beides bedacht werden, sowohl die Situation der eigenen Partei wie auch die Situation des Landes, und Deutschland, gerade in der gegenwärtigen Situation, braucht eine verlässliche Regierung.


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