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Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit

"Über das Unglück, ein Grieche zu sein" von dem griechischen Philosophen Nikos Dimou ist ein Gemeinschaft stiftendes Buch für sein Land in dauerhafter Krise. Erstmals ist es 1975 erschienen. Unglück ist für Dimou die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Von Alkyone Karamanolis |
    Ein Nestbeschmutzer, sagt Nikos Dimou, sei er nicht, seine Aphorismen beruhten auf Tatsachen. Ganz falsch kann er nicht liegen, immerhin wird sein Buch "Über das Unglück ein Grieche zu sein", in Griechenland seit Mitte der 70er-Jahre immer wieder neu aufgelegt. Irgendwann, in ferner Zukunft, hofft Dimou, werde es nur noch historischen Wert besitzen, bislang sei es unvermindert aktuell.

    "Es ist interessant, dass ich Leute auf der Straße treffe, die sagen: Ah, ich habe eben Ihr letztes Buch gelesen. Ich frage, welches, sie sagen: Über das Unglück. Sie haben es eben jetzt gekauft und gelesen und gefunden, dass es aktuell ist. Warum ist es aktuell? Aus einem sehr einfachen Grund. Weil die Problematik des Buches nichts mit der damaligen und auch nichts mit der heutigen Aktualität zu tun hat, sondern mit der Problematik, sagen wir, der griechischen Seele oder des griechischen Seins, und das ändert sich nicht in 20 oder 30 oder 40 Jahren."

    In Griechenland ist der kleine Band ein Klassiker. 193 Aphorismen auf knapp 70 Seiten. Und doch ist das Buch keine Aphorismen-Sammlung, eher ein elegantes Traktat. Ein philosophisches Buch. Ausgehend von dem Axiom, dass ein Grieche alles tut, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vergrößern, unternimmt Dimou eine hellsichtige Innenschau und entwickelt in sechs Kapiteln die Parameter des griechischen Unglücks. Ein Unglück, welches zentral damit zu tun hat, dass die Griechen, genauer: die Neugriechen, ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden zu haben scheinen:

    "Wir sind ein Volk ohne Gesicht. Ohne Identität. Nicht, weil wir kein Gesicht hätten. Sondern weil wir es nicht wagen, uns im Spiegel zu betrachten. Weil man uns dazu gebracht hat, uns für unser wahres Gesicht zu schämen. So sehr, dass wir uns davor fürchten, uns selbst zu erkennen. Und so kam es, dass wir lernten, verschiedene Rollen zu spielen: mal den 'Antiken', mal den 'Europäer'."

    Beide Identitäten sind aufgesetzt, hält Dimou fest. Zum einen das winckelmannsche Ideal des antiken Nachfahren.

    "Jedes Volk, das von den alten Griechen abzustammen meint, wäre automatisch unglücklich. Es sei denn, es könnte sie vergessen oder übertreffen."

    Doch auch das europäische Gesicht sei nur aufgesetzt. Denn mit der Befreiung von der Türkenherrschaft Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Griechenland über Nacht in die Moderne katapultiert. Auf einem Shortcut; ohne den Umweg über Renaissance, Aufklärung, Reformation oder bürgerliche Revolution. Bis heute seien die Griechen gespalten zwischen West und Ost, sagt der Autor. Dass ihm selbst der Blick von außen gelungen ist, mag mit seiner Biografie zu tun haben. Nikos Dimou wurde in Griechenland in einem westeuropäischen Umfeld erzogen. Dreisprachig: auf Griechisch, Englisch und Französisch; später studierte er in Deutschland Anglistik und Philosophie. Dennoch sei sein Buch keine Abrechnung. Im Gegenteil, es sei aus Liebe entstanden und aus Sorge um sein Vaterland. Damals, während der Jahre der Militärdiktatur, als nationalistische Symbole die Freiheit ersetzt hatten und eine sterile Verherrlichung von Antike und Mythologie an die Stelle der Demokratie getreten war. Eine eklatante Schieflage, die Nikos Dimou herausforderte. Zunächst ohne die Absicht, sie zu veröffentlichen, notierte er Betrachtungen und lose Gedanken zur Seinsweise seiner Landsleute.

    "Tief in uns glauben wir, dass wir es nicht wert sind, in einem so schönen Land zu leben. So versuchen wir, es 'auf unseren Standard' zu bringen. Auf unser Niveau. Deshalb verbauen wir es mit Zement und Müll."

    Die Zettel wuchsen zu einem Packen an, der Packen wurde zum Buch. Zu einem Buch, das sich ihm aufgedrängt habe, wie Dimou heute sagt. Veröffentlichen konnte er es freilich erst nach dem Fall der Militärdiktatur, die Zensur der Generäle hätte es niemals passiert. Seither hat Dimous Publikumsbeschimpfung in Griechenland über 100.000 Exemplare verkauft. Auf dem schnelllebigen und kleinen griechischen Buchmarkt und angesichts seiner unbequemen Wahrheiten eine kleine Sensation – oder aber schlicht ein Missverständnis, wie der Autor sinniert:

    "Es wird als Humor verstanden. Dieses Buch ist nicht Humor. Das ist kein Buch zum Schmunzeln oder zum Lachen. Es ist ein Buch von Satire, und Satire macht die Leute nicht glücklich. Satire ist etwas Bitteres."

    Nun, 37 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, kommt dem Büchlein eine neue Rolle zu, nämlich die des Botschafters. Nikos Dimou wünscht sich, es möge den Lesern außerhalb Griechenlands helfen, die griechische Mentalität in ihrer ganzen Zerrissenheit zu verstehen. Und am Ende den Blick zu erweitern und vielleicht sogar Europa neu zu denken:

    "Man sollte, anstatt alle Leute ähnlich zu machen wie Roboter - also zu sagen: der gute Europäer ist der Deutsche, also sollen alle Europäer wie die Deutschen werden. Nein, man soll Europa so modellieren, dass es das Beste aus den verschiedenen Völkern holt."

    Kurz nachdem Dimous Buch in Griechenland auf den Markt kam, erschien übrigens eine Antwort darauf. Der Titel: "Über das Glück, ein Grieche zu sein". Das Buch hat nicht einmal seine erste Auflage verkauft.

    Nikos Dimou: "Über das Unglück, ein Grieche zu sein", Kunstmann Verlag, 71 Seiten, 7,95 Euro, ISBN: 978-3-888-97765-7