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Knochen am Strand

Archäologie. - Barrow ist eine verschlafene Siedlung an der Nordküste Alaskas. Jedes Jahr kommen einige Touristen aus dem Süden der Vereinigten Staaten hierher, um einmal im Leben am nördlichsten Punkt der USA gestanden zu haben. Der liegt auf einer Landzunge noch ein Stückchen nördlich von Barrow und ist seit zehn Jahren Schauplatz eines archäologischen Großprojekts.

Von Monika Seynsche | 08.02.2008
    Es war ein Anruf der Polizei, der Anne Jensen nach Nuvuk brachte. Menschenknochen seien hier am Strand aufgetaucht, hieß es. Die Archäologin packte ihre Sachen zusammen und fuhr hinaus auf die schmale Kiesdüne, die nördlich von Barrow einige Kilometer in den arktischen Ozean ragt. Die Knochen stellten sich tatsächlich als alt heraus – dennoch war Anne Jensen am Anfang nur milde interessiert.

    "”Wir dachten, das ist ein einzelnes Grab, wir sammeln die Knochen einfach ein und begraben sie woanders wieder. Aber dann tauchten immer neue Knochen auf und nach ein paar Jahren wurde uns klar, dass an der Sache ein bisschen mehr dran sein musste. Also fingen wir an, die Gegend systematisch zu untersuchen, und erkannten, dass wir auf einen großen Friedhof gestoßen waren.""

    Ein großer Friedhof auf einer Landzunge auf der – so die offizielle Lehrmeinung – in den vergangen Jahrhunderten nie mehr als einige Familien gelebt hatten? Das machte die Archäologin von der Ukpeagvik Iñupiat Corporation in Barrow stutzig. Seit dem ersten Knochenfund verbringen Anne Jensen und ihre Kollegen jeden kurzen Sommer in Nuvuk. Graue Wellen schwappen gegen den dunkelgrauen Kiesstrand. Es ist neblig und kalt. Einige Meter vom Strand entfernt stehen zwei Geländefahrzeuge. Ein kleiner Generator versorgt das Notebook mit Strom. Einige Meter entfernt ist eine Mulde im Kies zu erkennen, in der drei Forscher mit Schaufeln und Handbesen hantieren. Jensen:

    "Da drüben arbeitet eine Gruppe an einigen Walknochen und Holzstücken, die auf dem Boden liegen. Darunter ist mit ziemlicher Sicherheit ein Grab.”"

    Das vierzigste, das die Archäologen in den vergangenen zehn Jahren ausgegraben haben. Versteckt unter Walknochen und Treibholz liegen hier kleine archäologische Sensationen. Jensen:

    "" Als wir das erste Grab geöffnet hatten, fanden wir Grabbeigaben und schätzten es zuerst auf einige hundert Jahre. Aber diese Grabbeigaben sahen viel älter aus, wie Dinge aus der Thule-Kultur. Wir untersuchten eine der Harpunen-Spitzen im Labor auf ihr genaues Alter. Das Ergebnis war: sie ist zwischen 875 und 1005 nach Christus entstanden. Das ist sehr früh.”"

    Archäologen gehen davon aus, dass sich die Thule-Kultur um das Jahr 1000 herum in der Arktis entwickelt hat. Sie verdrängte ältere Kulturen, weil sie mit lederbespannten Booten und neuartigen Jagdtechniken viel erfolgreicher war. Zum ersten Mal erlegten die Menschen in der Arktis Wale – und verschafften sich damit Zugang zu wertvoller, VitaminC-reicher Nahrung und vielen Rohstoffen wie Knochen, Häuten und Walöl. Alle heute lebenden Inuit in der Arktis sind Nachfahren der Thule. Aber bis heute ist unklar, wo genau sich die Thule-Kultur entwickelt hat. Anne Jensens Daten deuten daraufhin, dass die Geburtsstätte der Thule auf der einsamen Landspitze nördlich von Barrow liegen könnte.

    "” Ich denke dass wir sehr frühe Thule hier haben und dann ziehen sich die Gräber durch die Jahrhunderte, wahrscheinlich bis hin zu denen einiger Großeltern der heutigen Einwohner von Barrow"

    Endgültige Klarheit über die Bedeutung des Friedhofs von Nuvuk wird es erst geben, wenn alle Gräber untersucht sind. Aber dafür müssen die Archäologen sich beeilen. Die Strömungen vor der Nordküste Alaskas haben sich verändert und gerade im Herbst fegen immer häufiger heftige Stürme über die Landzunge. Beides sind möglicherweise Folgen des Klimawandels, und beides führt dazu dass jedes Jahr etwa zehn Meter Küste im Meer verschwinden. Es gilt, die Knochen zu bergen, bevor sie in den Ozean rutschen und ihre Geheimnisse mit sich nehmen.