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Knöpfe und Vögel - Lesebuch für Angeklagte

Zunächst geht es um Bücher aus dem Bereich der Rechtsprechung. Dann werden wir uns einem besonderen Kapitel der deutschen Wissenschaftsgeschichte, nämlich den sog. Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, zuwenden. Und zum Schluss betrachten wir die Entwicklung einer eher zeitgenössischen Variante der Geisteswissenschaften, vor allem in den USA praktiziert, den sog. Cultural Studies.

Horst Meier |
    Nie, niemals brächte ein deutscher Anwalt den inneren Mut auf, über das Reichsgericht zu urteilen, wie jener über den Obersten Gerichtshof... Rode bröselt das Paragraphengewebe von innen auf; er sagt, 'wie's ist': Er kennt die Faulheit der Richter, ihre ungeheuerliche Unbildung und ihre völlige Herzlosigkeit. Nehmt euch ein Beispiel an diesem Österreicher hier.

    Kurt Tucholsky, selbst Jurist mit einschlägiger Erfahrung mit der Weimarer Justiz, hat dieses Lob 1929 dem österreichischen Strafverteidiger Walther Rode ausgestellt. Rode, 1876 als Sohn jüdischer Eltern geboren, war in Wien Strafverteidiger, der bald auch publizistische Ambitionen entwickelte. Er galt als brillanter Stilist, als begabter Polemiker und ebenso kluger, wie radikaler Kritiker des österreichischen Rechtswesens. Seine innige Fehde mit dem Obersten Gerichtshof brachte ihn schließlich selbst auf die Anklagebank, wegen "Aufreizung zu Hass und Verachtung". Dieses Verfahren machte ihn in den 20-er Jahren weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Bei uns wurde ein Band mit Walther Rodes publizistischen Volten und Attacken jetzt wieder aufgelegt. Horst Meier hat ihn gelesen:

    Der vorliegende Band bietet, anders als die früheren Bücher Walther Rodes, keine Sammlung von Gerichtsreden, Pamphleten und Artikeln, sondern ein originelles, sorgfältig zusammengestelltes Lesebuch: In über siebzig funkelnd geschliffenen Skizzen zeigt Rode, wie es um die gebrechliche Einrichtung namens Justiz und ihre so schwindsüchtige Gerechtigkeit bestellt ist: Er skandalisiert die so übel zugerichtete "Strafsache Mensch", in der ein ganzes Leben binnen weniger Stunden auf die "Vorgeschichte der Tat" zusammenschnurrt.

    Mich beschäftigen die Fragen: Wer bekommt es mit den Gerichten zu tun? Warum bekommt man mit den Gerichten zu tun? Mit wem bekommt man zu tun, wenn man mit den Gerichten zu tun bekommt? Wie wird man freigesprochen, wie stellt man sich hin vor Gericht, mit welchem Verteidiger hat man sich zu bewaffnen?

    Die kurzen Texte, Miniaturen einer seltenen Mischung aus Analyse und Detailbeobachtung, tragen Überschriften wie "Revolverhelden", "Funktionäre des Verhängnisses", "Kriegführung der Behörden", "Monstreprozesse", "Pornographen und Sexualattentäter" oder "Interessierte Zeugen". Sie porträtieren Angeklagte als "Missliebige" oder "Politische Verbrecher", Richter als "Kontrebanditen" oder "Sitzer", Verteidiger als "Retter" oder Wichtigtuer. In dieser facettenreichen Typologie werden vordemokratische Strukturen und autoritäre Persönlichkeiten sichtbar, die, wenn sie auch den Justizbetrieb nicht mehr beherrschen, bis heute anzutreffen sind.

    Das sagt sich so leicht: ein Doktor, ein Landgerichtsrat. Das ist mühsam auf seine heutige Höhe gekrochen. Ein Landgerichtsrat, das ist die Frucht überwundener Leidenschaften... Es sind verzwickte Käuze, die von Jugend an nach den öden Klippen der Magistratur unterwegs sind.

    Eine Kostprobe aus dem titelgebenden Text "Knöpfe und Vögel".

    Er ist brav auf der Schulbank gesessen, hat sich zehntausend Vokabeln in den Kopf geschlagen, hat die Pandekten interessant gefunden, sein Gehirn durch das Studium massenhafter Rechte verwüstet. Er hat einen Beruf erlernt, sich eine Pension zu erringen gesucht, hat gedarbt, gedarbt, gedarbt. Sein jüngerer Bruder ist auf die Hutweide gerannt, als Latein unterrichtet wurde, hat Vorstrafen erlitten..., hat schon als Knabe das an den Rändern der Zivilisation herrschende Indianerleben kennengelernt. Der Tugendbold, der Zimmerhocker urteilt über den Gassenjungen, den Jäger. Der disziplinierte Spartaner über den titanisch-barbarischen Delinquenten. Es sitzen die Knöpfe zu Gericht über die Vögel.

    Dass seine scharfe Beobachtungsgabe, sein sezierender Blick auch die eigenen Berufskollegen trifft, zeigen die zwölf Verteidigerporträts. Da finden sich neben dem "geistreichen Verteidiger", der mit Eleganz den Verlierer gibt, neben dem Aktenbrüter und dem Überredungskünstler auch die "Zellenmolche":

    Bei jedem Gerichtshof existiert eine Gruppe von deklassierten Advokaten, die den Tagesdienst der Verteidigung versehen, die Rolle des Verteidigers in letzter Besetzung darstellen... Vom schwarzen Punkt des Elends erscheinen diese Gestalten dem Gefangenen als die Brücke zum Tag, als die Bringer des Lichts, als die Verbindungsoffiziere mit der herrlichen Freiheit von gestern und von morgen... Der Fall des Gefangenen wäre auch meistens nicht verloren, wenngleich er in den Händen des Gewohnheitsverteidigers, des Zellenmolchs, in der Praxis verloren geht. Diese Lemurengesichter, die bei den Strafgerichten herumlungern, die letzte Hoffnung des Gestrauchelten, sind in Wirklichkeit seine Totengräber. Würden diese Kerle die Geschicklichkeit und Findigkeit, die sie auf die Akquisition des Gefangenen als Kunden verwenden, in dessen Verteidigung investieren, die Angeklagten hätten ausgesorgt, der Triumph der Unschuld wäre gesichert.

    1928 gibt Rode seine Anwaltskanzlei auf - gesundheitlich geschwächt, zermürbt von Anfeindungen, die sich in den amtlichen Boykott seiner Kanzlei steigerten, wohl auch enttäuscht von der Trägheit des Justizelends, das er zwei Jahrzehnte geißelte. Ihn zieht es in die Schweiz. Dort lebt er als freier Autor und Schriftsteller. Ein neuer Band mit Verteidigungsreden und Fragmenten erscheint, ein anderer mit Texten über den Völkerbund. Seine Artikel werden im Prager Tagblatt und der Weltbühne gedruckt, ab 1933 in verschiedenen Exilzeitschriften. 1934 bringt er ein Abrechnungsbuch mit dem Nationalsozialismus heraus. Es wird sein letztes.

    An einem schönen Sommerabend gaben (die Rosenbaums) ein Fest in ihrem Tessiner Haus "La Barca". Musik wurde gespielt, man tanzte, Freunde waren gekommen, Nachbarn aus dem Dorf. Die Tänzer - Rode hatte ein junges, hübsches Mädchen in Tessiner Tracht aufgefordert - bemühten sich, ihre Partnerinnen so heftig herumzuwirbeln, dass sie ihre flachen Holzschuhe, Zoccoli genannt, verloren. Immer schneller wurde der Tanz, immer rascher die Drehungen. Die Zoccoli von Rodes Partnerin flogen davon. "Finalmente", rief Rode und sank zu Boden. Entsetzt mussten die Feiernden feststellen, dass er tot war.

    Walther Rode starb am 12. August 1934 an einem Herzschlag, gerade 58 Jahre alt. Leben und Werk des heute Unbekannten skizziert der Wiener Jurist Gerd Baumgartner in seinem ausführlichen Nachwort - eine spannende Ergänzung der Neuausgabe. Obgleich Rodes "Anleitungen für jedermann, der in der Greifweite der Behörden lebt", durchaus noch nützlich sind: "Knöpfe und Vögel" ist kein aktuelles Lesebuch für Angeklagte oder solche, die es werden wollen. Es ist das Trost- und Klagebuch eines Wissenden, der sich die Verachtung der Justiz, wie er sie erlebte, von der Seele schrieb: wortmächtig, gedankenreich, traurig und zuweilen hochkomisch. Hier ist kein Zyniker am Werk, sondern ein aufgebrachter Humanist, ein rasender Aufklärer. Einer, der gewiss nichts gegen die Verbesserung der Justiz einzuwenden hat - und der doch auf etwas Besseres aus ist als Justiz. Walther Rodes Buch, 1933 von den Nazis verbrannt, 1937 in Österreich als "staatsgefährdend" verboten, ist eine wunderschöne Flaschenpost, angespült fast siebzig Jahre nach der Berliner Erstausgabe.

    Das sagt sich so leicht: ein Doktor, ein Landgerichtsrat. Das ist mühsam auf seine heutige Höhe gekrochen. Ein Landgerichtsrat, das ist die Frucht überwundener Leidenschaften... Es sind verzwickte Käuze, die von Jugend an nach den öden Klippen der Magistratur unterwegs sind.

    Eine Kostprobe aus dem titelgebenden Text "Knöpfe und Vögel".

    Früh krümmt sich und verbiegt sich, was ein Landgerichtsdirektor werden will. Er ist brav auf der Schulbank gesessen, hat sich zehntausend Vokabeln in den Kopf geschlagen, hat die Pandekten interessant gefunden, sein Gehirn durch das Studium massenhafter Rechte verwüstet. Er hat einen Beruf erlernt, sich eine Pension zu erringen gesucht, hat gedarbt, gedarbt, gedarbt. Sein jüngerer Bruder ist auf die Hutweide gerannt, als Latein unterrichtet wurde, hat Vorstrafen erlitten..., hat schon als Knabe das an den Rändern der Zivilisation herrschende Indianerleben kennengelernt. Der Tugendbold, der Zimmerhocker urteilt über den Gassenjungen, den Jäger. Der disziplinierte Spartaner über den titanisch-barbarischen Delinquenten. Es sitzen die Knöpfe zu Gericht über die Vögel. Der ausgehungerte Dorfschullehrer, der sich vor dem außerehelichen Geschlechtsverkehr, vor den Komplikationen des Lebens fürchtet, über den sinnenfreudigen Jüngling. Der Gehemmte, dessen Lebenszweck Auskommen heißt, der brave Landgerichtsrat, der seine fünfhundert Mark monatlich einteilt und auszirkelt für sich und seine Familie, über den Hemmungslosen, den Verschwender, der das Geld seiner Frau, die noch nicht angefallene Erbschaft seiner Tante verschleudert."

    "Walther Rode: Knöpfe und Vögel. Lesebuch für Angeklagte", herausgegeben von Thomas Schumann in der Edition Memoria hat 364 Seiten und kostet 58,-- DM.