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Knorrig, eigensinnig, wunderbar

Annegret Helds Dorf- und Heimatroman ist eine Zeitreise. Besichtigt wird fast ein ganzes Jahrhundert, verknüpft werden die Lebenswege von zahlreichen Familienmitgliedern und Dorfbewohnern. Und im Mittelpunkt die resolute Apollonia, 1902 geboren, 1977 gestorben, zu der die Enkelin Marie ein besonderes Verhältnis pflegte.

Von Angela Gutzeit | 16.11.2012
    Auf dem Friedhof von Scholmerbach im Westerwald liegt die ganze Sippe, diese "krumme und fingerlose und bucklige Verwandtschaft" der Ich-Erzählerin Marie. In der siebten Reihe am Kieselweg zwischen Müllerkolls Rosa und Schamps Eggenseppel ruht die Großmutter Apollonia - gegen ihren Willen in einem Grab mit ihrem Mann, dem versoffenen Kerl, dem "Sägemehlprinzen" von der Schneidemühle, den sie so manches Mal verdroschen hat.

    "Das konnte nicht gutgehen. Ich muss ein wenig für sie beten.- Lieber Gott, bitte nimm meine ruhelose Großmutter zu dir in den Himmel. Sie kann nicht hierbleiben, sie findet keinen Frieden und treibt sich womöglich noch hier herum. Ich glaube, Apollonia 'Nein' sagen zu hören. Meine Großmutter sagte als Erstes immer 'Nein', und als Zweites sagte sie, wir sollen ihr alle den Buckel runterrutschen, und als Drittes sagte sie, sie möchte auf gar keinen Fall mit Klemens unter demselben Grabstein begraben werden."

    Marie steht nach vielen Jahren wieder einmal am eingefallenen Grab der Großeltern. Versunkene Bilder drängen sich in ihr Bewusstsein. Die Gegenwart verflüchtigt sich.

    "Was früher war, sehe ich deutlicher als das, was heute ist, und es scheint auch bunter. Selbst meine Sprache fällt zurück, sobald ich hier durch die Straßen gehe, ich rede von Müllerkolls und Blutwurst und Himmelfahrt, obwohl hier niemand mehr von Blutwurst und Himmelfahrt redet."

    Und damit beginnt in Annegret Helds Dorf- und Heimatroman "Apollonia" eine Zeitreise. Besichtigt wird fast ein ganzes Jahrhundert, verknüpft werden die Lebenswege von zahlreichen Familienmitgliedern und Dorfbewohnern. Und im Mittelpunkt die resolute Apollonia - 1902 geboren, 1977 gestorben - zu der die Enkelin Marie ein besonderes Verhältnis pflegte. Unschwer zu erkennen, dass die Autorin selbst sich hinter dieser Ich-Erzählerin verbirgt und dass sie mit "Apollonia" ihrer Großmutter ein Denkmal gesetzt hat.

    "Mich hat fasziniert, dass sie so zornig war oder so stur oder so unangepasst war und dass sie ihr Leben einen Scheißdreck fand ... und dass man in der Familie immer sagte, sie waren drei Schwestern und sie waren so schön, dass sie solange ihre Freier wählen konnten. Aber dass sie später jemand zum Mann wählte, der der größte Lump vom ganzen Dorf war. Und wie konnte das geschehen?"

    Um dieser Frage nachzugehen, hat Annegret Held mehrere Erinnerungsstränge miteinander verknüpft: Die erwachsene Marie denkt zurück an einen Sommer in Scholmerbach, als sie Teenager war und sich in den jungen amerikanischen Besatzungssoldaten Jim verliebte, derweil die Großmutter in zunehmend kränkelnder Verfassung ihre letzten Lebenswochen verbrachte. Als 16-Jährige beschloss sie, Apollonia nach ihren Erinnerungen zu befragen und die Geschichten ihres Lebens in einem Heft zu notieren. Dieser Erinnerungsspeicher dient ihr nun dazu, den brausenden Liebessommer ihrer Jugend mit dem entbehrungsreichen Lebensweg Apollonias vom Ersten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre zu verschachteln und zwischen diesen unterschiedlichen Zeitebenen hin- und herzuspringen.

    "Ich bin dabei fast gestorben! Und habe dabei Jahre meines Lebens an genau diesen Ebenen, die Ebenen zu komponieren, daran gearbeitet. Und habe tausendmal gewechselt, Perspektiven ausprobiert, einfach weil ich Zeiten zusammenbringen wollte und Sichtweisen zusammenbringen wollte."

    Es bleibt allerdings ein Rätsel, wie Marie der wortkargen Großmutter, die ihr ganzes Leben "einen Scheißdreck" findet, diese lebensprallen Geschichten noch entlocken konnte. Aber der Leser befindet sich mit den Figuren dieses Romans ja schließlich im urtümlichen Westerwald, in der Gesellschaft knorriger und eigensinniger, wunderbarer wie wunderlicher Charaktere. Da gehört eine gewisse seherische Gabe offensichtlich zur Grundausstattung.
    Entscheidend für den Lesegenuss sind die großartigen Bilder und Szenen, mit denen Annegret Held von dieser untergegangenen dörflichen Welt erzählt, einer Dorfgemeinschaft, der sie sich spürbar verbunden fühlt. Die Menschen lebten vom Holz des Waldes, sie heirateten ins Nachbardorf, sie feierten und stritten - im Guten wie im Schlechten unauflöslich miteinander verbunden. Eine Schicksalsgemeinschaft, in der sich die Männer regelmäßig um den Verstand soffen, sich die Finger absägten beim Holzschneiden. Oder unter die Räder kamen wie Großvater Klemens, der Schnapsbrenner und Lebenskünstler, den das Glück auf der Dorfstraße verließ, als er die Spur nicht halten konnte und vom Auto überfahren wurde.

    Bis in den Dialekt hinein spürt Annegret Held diesen Menschen nach und verfolgt ihre Lebenswege durch das 20. Jahrhundert, durch Notzeiten und den zweiten der großen Kriege, als es die Scholmerbacher hin- und herwarf zwischen ihrer Heimat und der großen, weiten Welt. Und so erfahren wir, dass Anfang der 30er-Jahre Apollonia, ihr Mann Klemens und weitere Scholmerbacher zum Arbeiten nach Frankreich zogen, weil es in der Heimat kaum noch etwas zu beißen gab. Für Apollonia die einzige Zeit des Glücks in ihrem Leben, das mit der Rückkehr nach Scholmerbach endete. Danach trieben Hitler und der Krieg einen tiefen Keil in die Dorfgemeinschaft. Aus kleinen Lichtern wurden plötzlich großmäulige Parteigänger. Die Männer verschwanden an die Front oder in Lagern, weil sie wie der Pfarrer von Hellersbach das Falsche predigten oder wie der Kneipenwirt Kurt Siebert lieber den Feindsender hörten, als die Nazipropaganda.

    Annegret Helds Erzählkunst liegt in den Dialogen. Sie reden ja nicht viel, diese Dörfler mit ihrem Westerwälder Platt. Aber wenn etwas gesagt werden muss, dann sitzen die Worte und entwickeln ein Potenzial von fast biblischer Wucht, zum Beispiel in einer der beeindruckendsten Szenen dieses Romans, als der alte Josef, der Vater von Klemens, sich seine Schuhe schnürt und noch spätabends zum Heinrich und seinem Vater Jakob geht. Heinrich ist als Einziger aus Scholmerbach bei der SS und Josef hat gehört, er brüste sich mit grauenhaften Geschichten.

    "- Ei Josef, wott willst dou dann bei mir? Hasd dou dich verlaufen?
    - Nein, ich wollt emal mit deinem Heinrich schwetzen.
    Der alte Jakob konnte gar nicht ahnen, was denn der Josef von seinem Jungen wollte, er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.
    Aber da kam Heinrich schon selbst an die Tür und fragte, was er denn will, und Josef wurde das Herz schwer, denn er war selbst Vater.
    - Heinrich, sagte er. Ich han was gehört, datt läst mer kein Ruh.
    - So, Was is das denn??
    - Dou warst in Polen, hat mer mir verzählt.
    - Jaja, sagte Heinrich misstrauisch. Und?
    - Sey mol, dou bist doch aus Scholmerbach, da weiß mer doch, wie man sich benehmen muss, den Mensche gegenüber, das weiß dou doch, oder?
    Der alte Jakob verstand nichts mehr.
    - Heinrich, ich kenn dich schon von klaa auf. Du hasst mer aach schon geholfe auffem Zimmerplatz. Du warst immer en ehrliche Kerl. Wenn dou jetz nausgehtst in die Welt, und da kommt irgend en Drecksack, und der sacht dir, du sollst einfach so die Mensche sinnlos totschieße, dann machst du das? Heinrich, hast dou dann unsern Herrgott vergesse?
    Heinrich wurde kreidebleich.
    (...)
    - Josef, ich han en hoch Meinung von dir, schon immer gehatt, deshalb sach ich jetz nix, aber watt da war in Polen, un die da umgekommen sind, dat waren Feinde, verstehste? - FEINDE! Und mir hamse erledigt, dat war unser Pflicht ..."
    (...)
    - Wenn dou das so siehst, sagte Josef, dann will ich dich off dem Zimmerplatz nicht mehr sehn, dou kemmst mir nicht mehr in det Haus enein, so lang wie ich lebe, das ist mein letztes Wort. Aber ich werd fier deych beten an jedem Dag, den Gott werden lässt."


    Mit dem Ende des Krieges kommen die amerikanischen Soldaten und bleiben als Besatzer viele Jahre. Irgendwann gehören sie einfach dazu. Und so verliebt sich Marie in Jim, mit dem sie radebrechend Englisch spricht und - wie es die Scholmbacher Jugend zu allen Zeiten getan hat - die "Sommernooscht" und den "Bloiteduft" mit reichlich Alkohol begießt.

    Dieser zweite Erzählstrang führt in die 70er-Jahre. In den Kneipen kann man Groschen in die Musikbox werfen und dann dreht der Jim auf und spielt wie ein Verrückter Luftgitarre, wenn aus dem Lautsprecher "Smoke on the Water" von Deep Purple dröhnt.

    Hier nun verschmelzen die Fäden in Annegret Helds Roman. Für Marie ist die mittlerweile bettlägerige Apollonia nicht nur die allwissende Hüterin der Dorfgeschichte und die unerschöpfliche Erzählquelle für ihre Aufzeichnungen, sondern auch die Vertraute in Liebesdingen, die es in ihrer Jugend in Scholmerbach offensichtlich auch nicht viel anders getrieben hat.

    "Wir wir jung waren ... das waren annern Zeiten ... schlechte Zeiten ... nur Schafferei ... Armetei ...
    - Aber da habt ihr euch doch auch mal Spaß gemacht ...
    - Naja, Spaß, da wurde nicht gefragt, ob mer Spaß hat ... gut, der Onkel Dagobert ...
    - Was war mit dem Onkel Dagobert?
    - Naja ... der ... der war lustig, mit dem seyn wir alsmal ... da seyn wir dann halt klammheimlich in die Weidenhecken .. da war dann was los ... da wurde sich dann getroffen ... bis der Pfarrer Heidenfeller kam ... dann gab's Aska."


    Der Roman "Apollonia" ist der Auftakt zu einer Trilogie über die eigene Familiengeschichte im Westerwälder Dorfmilieu. Annegret Held will in den kommenden Büchern jeweils ein Jahrhundert zurückgehen und immer soll eine starke Frauenfigur den Mittelpunkt bilden. Im Heimatroman - frei von Kitsch und Überhöhung - sieht Annegret Held das Feld, das sie in den nächsten Jahren mit Lust beackern will.

    "Ich finde das ein klasse Genre! Ich finde, das ist sowohl saftig - und ich habe auch das Gefühl, das ist meins, das liegt mir zu Füßen. Der ganze Westerwald, den kann ich beackern! Erst einmal wimmelt es vor Geschichten und Mythen und das sich das überhaupt alles schreiben darf, das erscheint mir ein Glück zu sein. So eine Fülle, ja, das ist so `ne Freude!"