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Kochen in der Krise

Kann Kochen Kunst sein? Der spanische Spitzenkoch Ferran Adrià ist jedenfalls der erste Vertreter seines Berufsstandes, der zur Documenta in Kassel eingeladen wurde. Seine Erfindung ist die Molekularküche, bei der er das Kochen mit chemischen Verfahren kombiniert hat. Sein Restaurant liegt in der Nähe der Stadt Girona. Und dort haben sich nun die Spitzenköche der Welt versammelt, um sich über die neuesten Strömungen in der Kochkunst auszutauschen.

Von Jochanan Shelliem |
    In einem Reagenzkolben schwappt im Wasserbad ein brauner Sud bei 34 Grad im Vakuum, der, auf 56 Grad Celsius erhitzt, gasförmig in Glasspiralen aufsteigt und sich als klare Lösung niederschlägt. Auf der Bühne ist eine Küche aufgebaut, und die drei Gebrüder Roca sind, neben Ferran Adriá, die Matadoren der Region.
    Zum zehnjährigen Jubiläum des Forum Gastronomic in Girona zaubern sie Strandlandschaften auf den Tisch. Der Gast fühlt sich als Riese, greift einen Felsen, der ihm auf der Zunge explodiert. Heraus schießt Aguardiente – Zuckerrohrschnaps. Auch die Essenz des Strandes an der Costa Brava wird aufgeschäumt, der Sud aus dem Destilliergerät schmeckt nach der Bucht von Portaval. Es geht um Landschaften, und die Textur des Essens deutet selten auf das, was sich darin verbirgt.

    Der jüngste der Gebrüder, Jordi Roca, der Patissier, arbeitet mit Glasbläsertechniken und bläst aus einem per Bunsenbrenner erhitzten Zuckerbonbon ein Radieschen, dessen Hohlraum er mit Radieschencreme auffüllt. Nichts ist das, als was es erscheint. Alles ist wie gehabt beim zehnten Forum der Gastronomen in Girona. Von Krise keine Spur, jedenfalls auf der Bühne nicht, da schwebt zum Schluss die Zuckerwatte aus dem Blechnapf wie von Zauberhand geführt nach oben, bis der Koch die weiße Wolke schnappt und schnabuliert.
    Kochkunst in Girona und kein offizielles Wort über die Wirtschaftskrise, viele Vorträge aber über das Vexierspiel mit der Textur. Dabei sind sich die Spitzenköche der Bedrohung wohl bewusst, auch wenn die Anzahl der anreisenden Gäste in diesem Segment der Spitzengastronomie bisher noch nicht eingebrochen ist. Joseph, der älteste der Gebrüder Roca, gibt sich diplomatisch.

    "Uns geht es gut, wir haben genug Arbeit, aber wir sind uns auch bewusst, dass wir uns in einer Luftblase befinden und dass unsere Situation nicht die reale Lage der Kollegen widerspiegelt."

    Auf dieser Insel der Seeligen arbeitet auch Ferran Adriá, dessen Restaurant El Bulli an der Costa Brava auf Jahre ausgebucht sein könnte, wenn er die Plätze nicht verlosen würde.

    "Auch wenn die Krise in Einzelfällen zu einer Panik geführt hat, die Krise trifft vor allem die Hotels. Dazu kommt, dass sich die Haute Cuisine auf einzelne Individuen stützt. Mein Restaurant, das El Bulli, entstand, so wie es heute ist, in der Wirtschaftskrise von 1992. 1994 hatten wir unsere ersten neuen Ideen, wir waren wenige und wir haben gekämpft. Damals hat das angefangen, was heute als die Revolution der Haute Cuisine betrachtet wird."

    Der Koch als Musketier, das Reagenzglas ist sein Degen und die Revolution der Sinne trägt er auf seinem Wappenschild. Die offensive Blauäugigkeit der Köche setzte sich auch auf dem Podium fort, wenn Ferran Adriá zwischen dem unkontrollierten Chemieeinsatz in seinem Kochlabor und der Arbeitsweise nachhaltig kochender Kollegen keinen Widerspruch sieht. Billige Massenware nimmt der Starkoch kaum wahr. Und in Girona werden Köche, die sich regionaler Nahrungsmittel bedienen, wie die Propheten neuer Erkenntnisse vorgestellt. Als wären die Fischfarmen für den Großmarkt und die fabrikmäßig gezüchteten Pilze auf dem Teller der kleinen Leute verblüffend fremde Nachrichten aus einer anderen Welt.

    Es ist, als kämen die Kochrevolutionäre in die Jahre. Da spielt man lieber DVDs mit den Erfolgen der vergangenen Dekade ab und zaubert auf der Bühne Zuckerwatte durch die Luft. Dass Spitzenköche ihren Hauptverdienst in küchenfernen Tätigkeiten wie Bücher schreiben, mit den Lizenzen neuer Techniken, kleinen Bistros und Werbung für Fertignahrung einstreichen, darüber spricht man hier nicht. Man hofft auf Umsatz und schielt auf den Nachbarn. Und wenn man dann doch einmal von der Schließung mancher Restaurants liest, dann schweigt man vornehm. Angst macht auch in Girona stumm.