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Können statt müssen

Medizintechnik. - Inkontinenz ist ein Tabuthema, dabei leiden schätzungsweise ein bis zwei Prozent in der Bevölkerung darunter. Zum Beispiel hat jeder Querschnittgelähmte Ausfallerscheinungen an Darm und Blase. Ein Forscherteam aus Süddeutschland hat jetzt ein Schließmuskel-Implantat entwickelt, das die Betroffenen über eine Fernbedienung steuern können.

Von Marieke Degen |
    Manche Patienten hatten Glück. Sie haben sich von ihrer Rückenmarksverletzung erholt. Nach monatelangem Training können sie sich wieder bewegen, sogar wieder laufen. Und trotzdem ist einen normalen Alltag kaum zu denken. Ein kleiner Muskel mag ihrem Willen einfach nicht gehorchen: Der Schließmuskel.

    "Inkontinenz ist ein Riesenproblem, und es empfinden die Patienten oftmals als größere Behinderung als die Behinderung, die sie an den motorischen Funktionen haben. Das heißt jegliche Hilfe, die es letztendlich gibt, ist eine echte Hilfe für das Alltagsleben dieser Patienten, damit auch eine gesellschaftliche Teilhabe wieder möglich wird."

    Der Ingenieur Rüdiger Rupp arbeitet mit Querschnittgelähmten an der Uniklinik in Heidelberg, und Hilfe bei Inkontinenz, sagt er, gibt es kaum. Bei einigen Patienten können die Nerven im Rückenmark stimuliert werden, so dass sie den Schließmuskel wieder anspannen können. Es gibt auch Prothesen, etwa für inkontinente Blasen. Doch für die Operation müssen intakte Nervenstränge im Unterleib durchtrennt werden. Jetzt soll es eine Alternative geben: Ein künstlicher Schließmuskel aus Silikon, der um den Darm oder an den Blasenausgang gelegt wird. Das besondere: Die Patienten können den künstlichen Muskel mit einer Fernbedienung steuern – via Bluetooth. Stefan Schwarzbach ist Informatiker am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Weßling. Er hat das Implantat zusammen mit Ärzten von der Uniklinik Freiburg entwickelt.

    "Man hat letztendlich eine primitive Fernsteuerung mit zwei Tasten und einer kleinen Informationsanzeige, und der Patient sollte eigentlich nur die Möglichkeit haben, diesen Ring zu öffnen und zu schließen. Er hat also zwei Knöpfe, auf und zu, und kann diese betätigen, so dass er sein Geschäft erledigen kann und dann auch wieder sicher ist, Kontinenz zu haben."

    Das ganze System besteht aus dem Silikonring und einem Kontrollimplantat, das unter die Bauchdecke gelegt wird. Beide sind durch einen Schlauch miteinander verbunden. Im Kontrollimplantat steckt eine Menge Elektronik. Außerdem eine Batterie, eine Pumpe, und ein Flüssigkeitsreservoir. Denn der künstliche Muskel am Darmausgang wird mit Flüssigkeit gesteuert. Das Kontrollmodul pumpt die Flüssigkeit zum Ring, dieser füllt sich und zieht sich um den Darm zusammen. Möchte der Patient auf Toilette, zieht das Kontrollmodul die Flüssigkeit wieder zurück, und der Ring öffnet sich. Stefan Schwarzbach:

    "Das Implantat ist ein Vollimplantat, das heißt, man hat keine Verbindung nach außen, es gibt keine Kabel mehr nach außen zur Energieübertragung oder ähnlichem, es reduziert damit natürlich auch das Infektionsrisiko."

    Selbst die Batterien können von außen aufgeladen werden. Alle sieben bis zehn Tage, haben die Forscher berechnet, damit die Pumpe zuverlässig funktioniert. Im Labor hat sich der Silikonring 330 Millionen Mal öffnen und schließen lassen. Das entspricht einer Lebenszeit von zehn Jahren. Aber – was tun, wenn die Fernbedienung verloren geht? Schwarzbach:

    "Das System würde ja einen extremen Überdruck auch erkennen und würde dann Warntöne abgeben, so dass der Patient merkt, da stimmt was nicht, und würde dann im Extremfall, also wenn ein gewisser Wert überschritten ist, das Ding trotzdem öffnen. Damit keine physiologischen Schäden entstehen."

    Im April soll der ferngesteuerte Schließmuskel an Schweinen getestet werden. In drei Jahren könnte das System dann auch bei Menschen zum Einsatz kommen. Bis dahin wollen die Wissenschaftler das Kontrollimplantat noch verkleinern. Zur Zeit ist es nämlich noch so groß wie zwei übereinandergestapelte Zigarettenschachteln. Auch der Heidelberger Rüdiger Rupp ist zuversichtlich.

    "Sicherlich ein sehr guter Ansatz, zweifelsohne, wenn es sich tatsächlich zeigen sollte, dass es von der Biokompatibilität her, von der Langzeitstabilität her, dass es da stabil ist, geeignet ist, dann glaube ich, dass es für viele Patienten und nicht nur Querschnittpatienten, das ist nämlich auch das entscheidende, dass das eine gute Alternative ist."

    60.000 Patienten allein in Deutschland könnte das Schließmuskel-Implantat dann ein Stück Normalität zurückgeben.