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Köpferollen im russischen Sport

Der russische Sport ist in Aufruhr nach den Winterspielen von Vancouver mit nur drei Olympiasiegen und Platz elf in der Nationenwertung. Jetzt macht Staatspräsident Dmitri Medwedew den Sport zur Chefsache.

Von Jens Weinreich | 07.03.2010
    Eigentlich wollte Präsident Medwedew am letzten Wochenende nach Kanada fliegen. Mitarbeiter der Protokollabteilung waren bereits im russischen Haus in Vancouver eingetroffen und planten den Kurzbesuch. Dieser wurde nach der historischen Pleite im Eishockey, dem 3:7 im Viertelfinale gegen Kanada, kurzerhand gestrichen. Statt der erwarteten 30 wurden es nur 15 Medaillen. Zudem ist der russische Wintersport von Dopingskandalen erschüttert, was zwar in Russland traditionell weniger interessiert als im Ausland - doch Medwedew und Premier Wladimir Putin haben dem IOC versprochen, das Dopingproblem anzugehen.

    Am Montag nach den Spielen empfing Medwedew im Kreml einige Führungskräfte der Staatspartei "Einiges Russland”, darunter Boris Gryslow, den Vorsitzenden der Duma. Medwedews Rede wurde ein Tribunal. Die absurden Bilder eines resolut argumentierenden Präsidenten und der nach Anweisungen lechzenden und stets nickenden Gäste kann man auf Youtube betrachten. Zunächst ging es darum, Schuldige am Desaster auszumachen.

    Medwedew nannte zwar keine Namen, doch jeder wusste, dass er NOK-Präsident Leonid Tjagatschow und Sportminister Witali Mutko meinte:

    ""Ich stimme absolut mit Ihnen überein, dass diejenigen Verantwortung übernehmen müssen, die für die Vorbereitung des Olympiateams verantwortlich waren. Das ist ganz klar. Ich denke, wenigstens einige derjenigen sollten so viel Charakter zeigen, ihre Papiere einzureichen und zurückzutreten. Wenn sie nicht von selber gehen, helfen wir gern nach.”"

    Zwei Tage später traf sich Medwedew mit Tjagatschow und Mutko. Kurz darauf, nach einigen verwirrenden Meldungen, reichte Tjagatschow putzmunter seinen Rücktritt ein - tags zuvor hieß es noch, er leide an einer schweren Lungenentzündung.

    Mutko bleibt vorerst im Amt, nachdem sich Premier Wladimir Putin eingeschaltet hatte. Denn die vermeintlichen Aufräumarbeiten im Sport und die Vorbereitungen auf die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi sind natürlich auch ein Privatduell zwischen Medwedew und Putin, die sehr wahrscheinlich 2012 gegeneinander den Präsidenten-Wahlkampf bestreiten.

    Der russische Sport ist total politisiert. Tjagatschow war selbst einmal Sportminister und Putins Skilehrer, er hielt sich nur mit Putins Unterstützung im Amt. Tjagatschow ist eigentlich in Österreich in einem märchenhaften Anwesen zu Hause. In Vancouver fiel er erneut mehr durch Alkoholkonsum und dadurch auf, dass er beim Patriarchen Kyrill, dem Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, telefonisch um Beistand bat.

    Mutko kommt aus Putins St. Petersburger Clique. Er wurde kürzlich von Medwedew schon als Präsident des russischen Fußballverbandes rasiert, bleibt aber Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees. Mutko sagte in dieser Woche, mit seinem Rücktritt als Minister wäre dem russischen Sport nicht geholfen.

    Die Frage lautet: Womit ist dem russischen Sport überhaupt zu helfen? Auch einige derjenigen, die jetzt als Tjagatschows Nachfolger gehandelt werden, haben in etlichen Funktionen zum Desaster beigetragen: Etwa Wjatscheslaw Fetisow, der Eishockey-Olympiasieger und gewesene NHL-Profi. Auch er war mal Sportminister, dann Chef des inzwischen wieder aufgelösten staatlichen Sportkomitees. Er ist Tjagatschows Intimfeind und trotzte sogar Putin.

    Andere Figuren, wie die russischen IOC-Mitglieder Vitali Smirnow und Schamil Tarpischtschew, stehlen sich wieder einmal aus der Verantwortung. Sie haben nicht nur Verbindungen zur organisierten Kriminalität, sie sind auch für das Verschwinden von Milliarden US-Dollar verantwortlich, die eigentlich dem Sport zukommen sollten - ob nun über den so genannten Wodka-Fonds oder diverse Olympia-Lotterien.

    Trotz dieser in den neunziger Jahren verschwundenen Milliarden war Geld nie wirklich das Problem - sondern die Funktionärs-Nomenklatura, die sämtliche Innovationen verhinderte und sich die Taschen vollstopfte. Präsident Medwedew:

    ""Das ist nicht allein eine Frage des Geldes. Geld ist wichtig, kann aber nicht alle Probleme lösen. Wir müssen das gesamte System überdenken. Es muss sich alles um die Sportler drehen, nicht um die Verbände, die einem manchmal wie voll gefressene Kater vorkommen, und auch nicht die Funktionäre. Die Sportler müssen im Zentrum aller Aufmerksamkeit stehen.”"

    Das Problem ist allerdings: Jede Funktion ist politisiert. Junge, unverbrauchte Kräfte mit frischen Ideen kommen nicht an die Macht. Allenfalls Milliardäre wie Michail Prochorow, der als Mitfavorit auf den NOK-Chefposten gilt.

    Es gibt sie, diese jungen Kräfte. Einige davon organisieren die Winterspiele in Sotschi, etwa Dmitri Tschernytschenko, der Organisationschef, seine Stellvertreterin Tatjana Dobrochalowa oder Marketingchef Igor Stoljanow.

    Doch selbst sie müssen im autokratischen Russland stets einen großen Teil ihrer Energie darauf verschwenden, nicht in Ungnade zu fallen und - mir nichts, dir nichts - abgesägt zu werden.