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Koeppen zum 100.

So viel Koeppen war nie. Neben dem Briefwechsel mit Verleger Unseld gibt es eine ganze Reihe neuer Titel zum Jubiläum. Zwei biografische Versuche und ein Band mit Texten über Venedig liegen vor, eine Auswahl von Liebesgeschichten und der Beginn einer kommentierten Werkausgabe folgen.

Von Matthias Kußmann |
    Am wichtigsten sind sicher die biografischen Näherungen von Hiltrud und Günter Häntzschel. Freilich wurde da ein Thema auf gute alte Suhrkamp-Art gleich doppelt verwertet. In der Reihe "Suhrkamp Basis Biographie" erschien ein 150-seitiges Bändchen zu Leben, Werk und Wirkung des Autors. Und die gleichen Informationen findet man in dem großformatigen Buch "Ich wurde eine Romanfigur" - ein schön gemachter Bild-Text-Band mit reichlich Material aus Koeppens Nachlass. Fragwürdig nur, dass die beiden Zeittafeln verschiedene Daten aufweisen. Einmal verliebt sich Koeppen 1927 in die Schauspielerin Sybille Schloß, einmal 1928/29. Einmal schreibt er ab 1931 für den "Berliner Börsen-Courier", dann erst ein Jahr später: Fehler, die dem Lektorat entgangen sind.

    Doch damit genug gemeckert. Denn die Autoren wissen eine Menge Neues über Koeppens Leben - vor allem aus seinem umfangreichen Nachlass. Hiltrud Häntzschel:

    "Koeppen konnte aber auch gar nichts wegwerfen. Es liegen die Arztrezepte seiner Mutter stoßweise im Nachlass, Briefumschläge, in denen gar nichts mehr ist, die nicht mal eine Aufschrift haben, Fensterumschläge in Massen. Es liegt alles, alles da, jeder Federhalter, jeder. Es ist, ja, mühsahm, aber natürlich auch hochinteressant."

    Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren, als uneheliches Kind einer Schneiderin. Schon früh liest ihm seine Mutter Märchen vor - sie prägen ihn tief. Fast ein Leben später, mit 73 Jahren, schreibt er:

    "Ich hatte früh erkannt, daß mein Leben ein Märchen ist. Ich habe meinem Märchen vertraut und so auch dem Bösen, das mir widerfahren konnte und geschah. Ich kam zu einem Beruf, der ein nie erreichbares Ideal will und kein Beruf ist. Ich fühle mich gleich dem König, gleich dem Bettler und gleich dem Frosch ewiger Wandlung ausgesetzt. Jeder Roman ist ein Märchen. Jeder der schreibt, webt weiter am großen Märchenteppich der Welt."

    Die schwarzen Hefte des Expressionismus und die Romane der Zeit lernt Koeppen bei einem Onkel in Masuren kennen, wo er Teile seiner Jugend verbringt - und in Greifswald, als Laufbursche einer Buchhandlung. Er hat nur ein Ziel: Schriftsteller zu werden. 1927 geht er nach Berlin, schreibt für kleine Zeitungen und hungert sich durch. In einem Radio-Gespräch erinnert er sich:

    "Ich hatte es nicht leicht und machte es mir schwer. Ich war arm und außerordentlich widerborstig. Mir fehlte jede Fähigkeit, mich dem normalen, dem bürgerlichen, dem Erwerbsleben anzupassen. Ich schwamm gegen den Strom und hatte Mühe, nicht unterzugehen. Ich studierte, ich beobachtete, ich vagabundierte. Ich begegnete sehr armen und sehr reichen Leuten. Ich aß manchmal im Hotel Adlon zu Abend und dann die Woche über trockenes Brot oder gar nichts."

    Die letzte Äußerung dürfte eine von Koeppens typischen Stilisierungen sein. Im Lauf der Jahre hat er sich einen abenteuerlichen und teilweise heroischen Lebenslauf zusammenfabuliert, von dem vieles schlicht falsch ist - aber von der Presse, die es nicht besser wissen konnte, weitergetragen wurde. Erst vor fünf Jahren kam Licht ins Dunkel - zumindest für die Jahre 1933 bis '48, durch eine hervorragende Studie von Jörg Döring. Darauf stützen sich die Häntzschels, und ergänzen Fakten zur übrigen Zeit.

    1932 wird Koeppen Feuilleton-Redakteur beim "Berliner Börsen-Courier". Er hat es geschafft: Das literarische Berlin steht ihm offen. Aber nur ein halbes Jahr lang. Als die Nazis an die Macht kommen, geht der liberale "Börsen-Courier" in der rechten "Börsen-Zeitung" auf, Koeppen wird entlassen. Ihm sind die Nazis zuwider. Doch da er im Land bleiben will, bis der Spuk vorbei ist, kriti-siert er sie nicht. Und er schreibt seinen ersten Roman "Eine unglückliche Liebe", in dem er die Begegnung mit Sybille Schloß verarbeitet. Schon dieses Buch über-schattet jene tiefe Melancholie, die sein ganzes Werk bestimmen wird: Wirkliche Liebe gibt es nicht, der Mensch ist einsam in der Welt.

    Koeppen hat seine Stelle verloren, aber trotzdem Glück - übrigens nicht das letzte Mal in seinem Leben. In finanzieller Not gelingt es ihm immer wieder, Menschen zu finden, die ihm helfen. 1934 ist es die jüdische Familie Michaelis, in deren Grunewald-Villa er wohnen und arbeiten kann. Vier Jahre später verlässt die Familie Deutschland - und Koeppen geht mit.

    Häntzschel: "Da sind die ins Exil gegangen, nach Holland, und haben in diesem frühen Emigrationsstadium ihr Vermögen mitnehmen können - und haben sofort wieder das Dachzimmer Wolfgang Koeppen zum Schreiben angeboten. Und er hat die ganze Emigrationszeit bei denen und von denen gelebt."

    Über diese Zeit hat er später viele Märchen erzählt: Er hätte in Den Haag unter elenden materiellen Bedin-gun-gen gelebt; ein Nazi-Kritiker hätte ihn nach seinem Roman-debüt ins "Arbeitslager" gewünscht; sein zweiter Roman "Die Mauer schwankt" sei in Deutsch-land totgeschwiegen worden, den späteren nazikonfor-en Titel "Die Pflicht" habe man gegen seinen Willen gewählt; und er sei nie in der Reichs-chrifttumskammer gewesen. All das, wissen wir jetzt, stimmt nicht. Aber eigentlich kann man ihm diese Märchen nicht übel nehmen - er nannte sich ja selbst oft genug einen "Eulenspiegel":

    "Ich bin ein gewandter Lügner. Das fordert der Beruf."

    1938 fliehen die Michaelis vor dem drohen-den Krieg in die USA. Koeppen kehrt kurz nach der so ge-nannten "Reichskristallnacht" nach Deutschland zurück. Für einen regimekritischen Autor, als den er sich später stilisiert, wäre das zu diesem Zeitpunkt Wahnsinn gewesen. Dass er damals eher ein Mitläufer war, sich durch die Hitlerzeit durchmogelte - dafür hat er sich später wohl so geschämt, dass er eine große Leidenszeit unter Hitler erfand.

    Koeppen sieht für sich keine Chance im Exil. Er bleibt in Deutschland und schreibt - bestens bezahlt - Drehbücher für die DEFA:

    "Ich habe mich eine Zeitlang beim Film untergestellt. Ich kannte sehr viele Schauspieler, die brachten mich mit Filmkreisen zusammen, und ich wurde beauftragt, Dreh-bücher zu schreiben. Wieder eine schizophrene Situation: Ich wollte nicht, dass diese Drehbücher verfilmt werden, denn es waren nicht die Filme, die ich hätte machen wollen. Ich hätte ganz gern einmal einen guten Film gemacht, aber das war nicht möglich, damals. Ich schrieb die Drehbücher so, dass sie technisch gut waren, dass man sagte, das Drehbuch ist gut, wir können es leider nicht verfilmen, es kommt beim Propagandaministerium nicht durch. Aber wir geben Koeppen einen neuen Auftrag und stellen ihn vor dem Militär sicher."

    1943 wird Berlin von den Alliierten bombardiert. Wieder hat Koeppen Glück. Drehbuchaufträge der Bavaria führen ihn nach München und an den Starnberger See, fern der bedrohten Großstadt. Koeppen lernt dort seine spätere Frau Marion kennen - und lebt mit ihr in Saus und Braus. Eine groteske Vor-stellung, wenn man bedenkt, dass es die letzten Kriegsmonate sind und Hunderttausende hungern oder in Lagern sterben.

    Aus Scham darüber hat Koeppen später sein gewagtestes Märchen erfunden. Er sei in Berlin auf der Flucht vor Hitler "in den Untergrund" gegangen und habe dann in Feldafing - wenigstens der Ort stimmt - das Kriegsende erlebt. Dort sei er "halb verhungert" aus einem Keller gekrochen, wo er sich versteckt und nur von rohen Kartoffeln ernährt habe.

    Häntzschel: "Er hat ja immer erzählt: '43, in Berlin, da ist er ausgebombt worden und in den Untergrund gegangen. Der Untergrund ist sehr komfortabel! Es ist eine wunderbare Villa am Starnberger See, in Feldafing, mit Seeblick. Und was ein Keller ist, ist ein schickes Souterrain, weil es eben Hanglage ist. Aus dieser Zeit gibt es erstaunlich viele Dokumente, nämlich in der 'Marion-Mappe'. Marion ist ein 16-jähriges Mädchen, das in diesem Haus verkehrte und dann lebte, in die hat er sich sehr verliebt. Die gehörte zu der, man kann fast sagen, 'Schickeria' in diesem Hotel - es war ein Tennishotel, diese Villa in Feldafing. Sie sind nach München gefahren, haben in der 'Regina'-Bar in Appartements gelebt, mit Champagner, haben gegessen - fantastisch. Er schreibt, 'das würde sich der Bavaria-Chef nicht leisten', so ungefähr."

    Nach dem Krieg lebt Koeppen als freier Autor in München - und schreibt sich mit einer Roman-Trilogie in die deutsche Literatur: "Tauben im Gras", "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom". Kritik und Publikum reagieren gespalten - heute gelten die Romane als moderne Klassiker. Während konservative Autoren auf mythologische Themen ausweichen, und Böll oder Schnurre von Kriegsheimkehrern erzählen, blickt Koeppen auf die Gegenwart: ein restauratives Deutschland im Rausch des beginnenden "Wirt-chaftswunders", das seine Vergangenheit verdrängt und alte Nazis mit neuen Stellen versorgt. Und während die einflussreiche "Gruppe 47" auf nüchterne "Kahlschlag-Prosa" setzt, nutzt Koeppen moderne Mittel - die Kaleidoskop-, Montage- und Assoziationstechnik von Döblin, Faulkner und Joyce:

    "Ich bin überzeugt, dass man heute auch ohne die Weg-marke Joyce in seine Richtung gehen müsste. Dieser Stil entspricht unserem Empfinden, unserem Bewusstsein, unserer bitteren Erfahrung. Bei uns tut man gern so, als ob mit jedem Debütanten die Literatur neu beginnen müsse. Es gibt eine Tradition! Aber sie ist anders, als unsere Traditionalisten sie sich vorstellen. Die neue Tradition ist international."

    Ende der 50er Jahre wendet sich Koeppen von politischen Themen ab. Er geht für den Rundfunk auf Reisen, berichtet aus Europa, Russland und Amerika - und macht erfolgreiche Bücher daraus: Der politisch nun zurückhaltende Autor erhält fast alle wichtigen Literaturpreise. Eigentlich will er wieder Romane schreiben - doch das gelingt ihm bis zu seinem Tod im März 1996 nicht mehr. Er arbeitet an verschiedenen Projekten, vor allem an einem autobiografischen Roman. Sein Verleger Siegfried Unseld unterstützt ihn 40 Jahre lang mit Vorschüssen - aber kein Projekt kommt über Fragmente hinaus. Koeppen wird zu einem Mythos der deutschen Nachkriegsliteratur.

    Die Feuilletons sprechen vom "großen Verstummten" - was darin gipfelt, sein "Schweigen" zum "wichtigsten Teil" seines Werks zu erklären: Triumph der Diskurse, verkehrte Welt. Nur: Koeppen schreibt weiter, und seine späten Fragmente sind der Höhepunkt seines Werks. Im Zentrum steht der schmale Band "Jugend" von 1976: eine assoziative, hochpoetische Prosa, reich an individueller Erfahrung - aber kaum tauglich, die lange Strecke eines Romans zu meistern. Auch dies mag ein Grund sein, warum der Autor alle späten Roman-Versuche nach spätestens 30, 40 Seiten abgebrochen hat.

    Häntzschel: "Dieser unausgesetzte Kampf um die Deckung von Spra-che und Wahrnehmung, von Sprache und Erinnerung: Er konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem Stoff und seiner Person, auch nicht mehr zwischen dem Leben und seiner Person: 'Ich lebe literarisch', sagte er immer wieder, und: 'Ich wurde eine Romanfigur.' Er geriet so sehr ins Gespinst seines Textes, seiner Fiktion. Letztlich ist ja ein Schreiben eines Buches auch wieder eine Objek-tivierung, ein Von-sich-weg-Schreiben. Das hat er nicht mehr geschafft. Er springt von einem Thema zum nächsten, es ist unglaublich. In dem "Tasso"-Projekt, in dem ganz späten: von Kalypso auf die Wahlverwandschaften auf München auf Überlegungen zur Mondfinsternis. Der rote Faden ist nicht mehr wahrnehmbar. Und er ist jedes Mal in dem Moment ganz präsent bei der Sache, es sind wunderbare Sätze, die er schreibt! Sie haben so eine Strahlkraft! Aber sie verzischen wieder, wie ein Komet. Die späten Fragmente sind ganz beeindruckend!"

    Solche Fragmente gibt es auch unter Koeppens Venedig-Texten. Immer wieder hat es ihn an die Lagune gezogen. Das Insel-Taschenbuch "Übers Jahr vielleicht wieder in Venedig" versammelt Texte und Fragmente aus sechs Jahrzehnten, zum Teil aus dem Nachlass. Darin ist noch einmal Koeppens unverwechselbare Sprache lebendig:

    "Dort die Kirchen, in die sie sich flüchteten vor dem Tag, vor der Nacht, vor den Geschäften und vor ihren Lüsten, vor der Liebe, die quälte, vor der Untreue, die nicht befreite, vor dem Tod, der allein feststand in so viel Unsicherheit, ob nun der Priester sie getröstet hatte oder verdammt. Die Sonne, der Mond und die Sterne gehen auf und unter in diesem schillernden tiefen Spiegel des Wasserlebens."