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Körper im Kopf

"Embodiment", die Verkörperung, ist der zentrale Begriff einer neuen Denkrichtung in der Wissenschaft. Hirnforscher entdecken, dass das Gehirn in einem lebendigen Organismus steckt und sich der Geist nur von diesem her richtig begreifen lässt.

Von Martin Hubert | 20.01.2008
    Kognitionswissenschaftler verstehen Wahrnehmung und Bewusstsein als ein Zusammenspiel zwischen Körper und Umwelt. Robotiker hören auf, ihren künstlichen Wesen nur Programme für geistige Leistungen einzubauen. Stattdessen verleihen sie ihnen einen Körper, der seine Umgebung selbstständig erkundet.

    Wo wird das enden? Verabschiedet sich die Naturwissenschaft endgültig von der strikten Trennung zwischen Geist und Körper? Oder ist die Idee vom verkörperten Geist nur eine modische Theorie, die mehr verspricht als sie halten kann?

    Zuerst war der Urknall. Danach dehnte sich der körperlose Raum aus, nur beseelt von Strahlung. Dann begann im Kosmos die Materie zu dominieren. Atome fügten sich zu Molekülen zusammen, Moleküle bildeten Zellen, aus Zellen entstanden Organismen: lebendige Körper. Schließlich geschah die wundersame Verwandlung: aus den Zellen dieser Körper bildeten sich Gehirne. Und mit ihnen kam der Geist in die Welt.

    Seitdem beschäftigt den Träger dieses Geistes, den Menschen, ein schwer zu lösendes Problem. Der Geist als höchste Stufe der Evolution scheint eine eigene Welt zu bilden, die nur aus sich heraus zu verstehen ist. Warum aber ist er dann auf den Körper angewiesen – und was bedeutet das?

    Seit der Wende zum 21. Jahrhundert findet ein neuer Ansatz, sich diesem Problem zu nähern, immer mehr Zuspruch. Seine Vertreter sprechen von "Embodiment", vom "verkörperten" oder "leibhaftigen" Geist. Alles Geistige ist ihrer Meinung nach nur zu verstehen, wenn man es als Produkt einer Wechselbeziehung zwischen Körper und Umwelt sieht. Shaun Galagher, Philosoph an der University of Central Florida und einer der Vordenker der Embodiment-Idee, begründet das so:

    "Die Gestalt unseres Körpers determiniert die Erfahrungen, die wir mit ihm überhaupt machen können. Wenn Sie einen anderen Körper hätten, würden Sie die Welt auch ganz anders wahrnehmen. Machen Sie doch einmal folgendes Gedankenexperiment: was würde passieren, wenn man die so genannte "menschliche Seele" aus dem menschlichen Körper herausnehmen und einem Frosch einpflanzen würde? Hätten Sie dann wohl noch die gleiche Sicht der Welt? Ich würde sagen: natürlich nicht! Denn das Auge oder das Gehirn des Frosches sind so anders gebaut und so spezifisch an die Umwelt dieses Tieres angepasst, dass sich die Welt des Frosches und des Menschen gravierend voneinander unterscheiden."

    Intelligenz, Bewusstsein und Denken leiten sich aus dem Handeln des Menschen in seiner Umwelt ab. Einem Handeln, das eben grundlegend auf körperlichen Wechselbeziehungen mit dieser Umwelt beruht. Wie weit kommt man mit diesem Ansatz? Wie stark kann man ihn experimentell untermauern?

    Vibrationen, die um die Hüfte herum laufen. Erzeugt werden sie von winzigen Motoren, die auf der Innenseite eines Gürtels angebracht sind. Mit diesem Gürtel gehen Forscher an der Universität Osnabrück einer verblüffenden Frage nach: Kann der Mensch den Himmel spüren? Gelingt es dem Menschen, eine neue Form sinnlicher Wahrnehmung zu entwickeln, wenn sein Körper in besonderer Weise mit der Umwelt interagiert? Um das zu untersuchen, schnallte ein Team um den Osnabrücker Kognitionswissenschaftler Peter König den vibrierenden Gürtel fünf Versuchspersonen um. Ein eingebauter elektrischer Kompass eichte den Gürtel auf den magnetischen Nordpol.

    "Es sind 13 Vibratoren ringsherum angeordnet und es ist immer genau einer davon aktiv. Und zwar der, der am meisten nach Norden zeigt - und dadurch können sie Norden fühlen!"

    Bisher weiß man nur von einigen Tierarten wie Tauben, Seeschildkröten oder Haifischen, dass sie magnetische Informationen zur Orientierung nutzen. Die Frage, ob auch Menschen für magnetische Umweltinformationen empfänglich werden können, war für Peter König ein wichtiger Test für das Konzept Embodiment. "Bewegt Euch!" empfahl er den Versuchspersonen während einer mehrwöchigen Trainingsphase. "Erkundet mit dem Gürtel aktiv die Umwelt, fahrt Fahrrad, wandert durch die Felder oder besucht neue Städte!" Nachdem die Probanden sich aktiv an den Gürtel gewöhnt hatten, wurden sie verschiedenen Tests unterzogen. In einem davon fragten die Osnabrücker Forscher zunächst ganz elementar: Hilft ihnen das neue Körpergefühl, sich besser in der Umwelt zu orientieren?

    "Wir haben den Versuchspersonen eine Art Augenklappe aufgesetzt, dass sie nichts sehen konnten und sie mussten ein bestimmtes Labyrinth gehen, auf eine Art Schulhof – und dann zurückfinden. Dabei hilft der Gürtel bei praktisch allen Versuchspersonen, er hat einen ganz klaren Effekt!"

    Die Versuchspersonen fanden tatsächlich im Durchschnitt schneller aus dem Labyrinth heraus als Kontrollpersonen ohne den Gürtel. Allerdings interessierte die Osnabrücker Forscher vor allem, wie tief sich die magnetische Orientierung in den Körper der Versuchspersonen eingegraben hat. Reagieren die Versuchpersonen eher bewusst auf die neuen Vibrationssignale, oder erzielen diese auch "leibhaftige", also unbewusste Effekte?

    Um das zu testen, setzten die Wissenschaftler ihre Versuchspersonen auf einen Drehstuhl. Normalerweise bleiben die Augen bei einer Drehung des Körpers noch kurz am gerade angeschauten Objekt hängen. Erst dann vollziehen sie ruckartig die Drehbewegung nach. Anschließend fixieren sie erneut ein Objekt, um dann wieder der Drehbewegung des Körpers zu folgen. Diese rhythmische Augenfolgebewegung wird automatisch vom so genannten vestibulären Apparat im Innenohr gesteuert.

    "Nun ist der so gebaut, dass der er nach einer Minute oder zwei das Gefühl für die Drehung verliert. Das kennen sie vielleicht vom Rummelplatz, wenn sie sich lange genug auf dem Drehstuhl drehen mit geschlossenen Augen, dann vergessen sie irgendwann, dass sie sich drehen und auch die Augen vergessen, dass sie sich drehen. Das heißt die machen diese rhythmischen Bewegungen nicht mehr. Der Gürtel von uns vergisst aber nicht, dass sie sich drehen. Der sagt ihnen mit der Vibration dauernd: sie drehen sich, sie drehen sich, sie drehen sich! Und wenn sie das wirklich verinnerlichen als Gefühl, haben wir spekuliert, dann sollten die Augenbewegungen länger anhalten, weil ihr Körper "weiß" als Reflex, dass sie sich drehen, und das haben wir gemessen. Also bei den Versuchspersonen, die eine Wahrnehmungsänderung berichten, ist auch genau dieser Effekt auf die rhythmischen Augenbewegungen aufgetreten."

    Die Augen dieser Testpersonen hörten tatsächlich nicht auf, sich ständig rhythmisch mit dem Körper mitzudrehen. Die Vibrationssignale des Gürtels, so Peter König, übten offensichtlich einen tiefen und unbewussten Effekt auf das Körpergefühl aus – sie wurden zu einer inneren leiblichen Erfahrung. Jedenfalls bei vier der fünf Versuchspersonen, nur eine reagierte nicht auf die Vibrationen. Die vier sensibilisierten Probanden berichteten außerdem, dass sich ihr subjektives Erleben verändert habe. Zum Beispiel erzählten sie den Wissenschaftlern, dass sie ihre Umwelt mit dem Gürtel geordneter und klarer als bisher wahrnehmen.

    "Also wenn wir jetzt zum Beispiel die Tür aufmachen, habe ich im Moment so ein Gefühl, okay, der Gang geht nach rechts und nach links, dann gibt’s diese T-Kreuzung, dann kann ich ein Stück geradeaus gehen und ich habe so ein Gefühl dafür, wie die Räume hier ringsum angeordnet sind, Und wenn sie mit dem Gürtel herumlaufen, ist dieser Bereich zehn mal so groß. Sie haben ein ganz anderes Verständnis für die räumliche Anordnung in ihrer Umgebung. Sie erlaufen sich eine Stadt auch mehr. Weil wenn Sie um einige Ecken gehen, behalten Sie die Orientierung, das heißt, Sie haben ein Gefühl für die räumliche Relation, wo ich wohne, wo meine Arbeitsstelle ist, wo der Bahnhof ist, wo die Einkaufspassage ist – wie aus der Vogelperspektive sind die räumlichen Beziehungen ganz klar."

    Das körperliche Vibrationssignal "Hier ist Norden" veränderte also auch einschneidend das subjektive geistige Erleben dieser Testpersonen. Das alles ist ein schöner Beleg für die Fruchtbarkeit des Embodiment-Konzepts. Allerdings verloren die Probanden ihre neuen Fähigkeiten rasch, nachdem sie den Gürtel wieder abgeschnallt hatten. Der neue "Vibrationssinn" muss offenbar ständig gereizt werden, damit er Wirkung zeigt. Für Peter König ist das allerdings nicht verwunderlich, denn dieser Sinn ist ja durch die Evolution nicht fest im menschlichen Gehirn verdrahtet worden. Der Osnabrücker Kognitionswissenschaftler bringt das bisherige Ergebnis seines Versuchs, den menschlichen Geist mit einem neuen Körpersinn anzureichern, so auf den Punkt:

    "Wir wissen im Endeffekt nicht, warum die einen Versuchspersonen es berichten und die anderen nicht. Ich kann ihnen nur sagen: es kann klappen!"

    Um seine Ergebnisse zu untermauern, will Peter König künftig noch weitere Versuchspersonen mit dem Vibrationsgürtel durch die Welt schicken. Dann wird er auch untersuchen, welche Effekte dieser zusätzliche Sinn in ihrem Gehirn auslöst.

    Zu den rätselhaftesten geistigen Erscheinungen, die sich in der Evolution entwickelt haben, gehört die Erfahrung des Menschen, ein identisches Ich zu besitzen. Rätselhaft deshalb, weil im menschlichen Geist eigentlich ein ständiger Wechsel stattfindet: ein Wechsel der Wahrnehmungen, der Gefühle und der Gedanken. Für den Embodiment-Vordenker Shaun Galagher kann die Wurzel der Ich-Identität daher nicht im Geist selbst, sondern nur im Körper gefunden werden.

    "Es gibt etwas, das unser Selbst von einer Situation zur anderen zusammenhält, sonst würden wir ja unsere Identität verlieren. Die Frage, was das ist, lässt sich nicht beantworten, indem man eine bestimmte Hirnregion für dieses Ich sucht. Man muss über das Gehirn hinausgehen. Wir müssen uns auf eine Kontinuität beziehen, die in unserem Körper insgesamt angelegt ist. Dieser verändert sich ja nur sehr langsam und es gibt ein paar körperliche Eigenschaften, die immer gleich bleiben und die unsere Welterfahrung determinieren. Es gibt deshalb eine gewisse Kontinuität in meiner Selbsterfahrung, weil mein Körper eine solche Kontinuität besitzt und diese Kontinuität wird im Gehirn repräsentiert."

    Wobei diese körperlichen Grundlagen, auf denen das Ich aufbaut, in sich selbst zu differenzieren sind.

    "Ich unterscheide auf der einen Seite ein "Körper-Image", ein meist bewusst wahrgenommenes Bild meines eigenen Körpers. Es besteht aus einer Reihe von Überzeugungen, die ich über meinen Körper habe – ist er schön, dick oder schlank - oder aus Gefühlen über meinen Körper - fühle ich mich wohl oder nicht? Hier ist der Körper immer ein Gegenstand, über den ich nachdenke, den ich wahrnehme und den ich fühle. Im Unterschied dazu ist das von mir so bezeichnete "Körper-Schema" ein hauptsächlich unbewusst arbeitender Mechanismus. Es ist verantwortlich dafür, dass ich mich in der Welt adäquat bewegen kann, er organisiert meine körperlichen Bewegungen. Ich meine, es ist äußerst wichtig, diese Dinge zu unterscheiden."

    Wenn bestimmte Gehirnstörungen auftreten, können Körperimage und Körperschema in Widerspruch zu einander treten. Zum Beispiel beim so genannten Neglect. Dieser Hirndefekt macht es den Betroffenen unmöglich, etwa die Seite rechts von ihrer Körpermitte wahr zu nehmen. Die Patienten behaupten dann zum Beispiel, dass sie keine rechte Hand mehr besitzen, weil sie sie nicht mehr sehen. Sie benutzen aber die rechte Hand noch, um zum Beispiel eine Tür zu öffnen. Ihr bewusstes Körperimage hat die rechte Hand verloren, ihr unbewusstes Körperschema jedoch arbeitet noch mit dieser Hand. Das Körperbewusstsein und der unbewusst handelnde Körper können auseinander treten - und zwar umso stärker, je verwirrter der Geist ist.

    "Das ist, wie wenn etwas kippt und dann ist man weg. Es war alles zuviel, es war wie wenn die Filterung nicht mehr funktioniert, wenn einfach alle Eindrücke, alles, alles kommt nur noch rein und man ist wie ausgeliefert. Man kann keine Prioritäten setzen, auch gedanklich, was ist wichtig, was ist nicht so wichtig - ist wirklich "scheißegal"."

    Sophie S. möchte anonym bleiben. Denn sie erlitt einen psychotischen Zusammenbruch und musste sich in psychiatrische Behandlung begeben.

    "Also: völliger - ja so wie ein Zusammenbruch, so wie ein Kollaps eben: Zuviel Eindrücke, zu viele Gefühle, zuviel Chaos, zuviel - es war einfach alles zuviel!"

    Sophie S. erlebte ihre Psychose als einen Einbruch der Außenwelt in ihre Innenwelt. Die Grenze zwischen Geist, Körper und Außenwelt veränderte sich und zerfiel plötzlich. Unter anderem solche Beschreibungen haben den Magdeburger Psychiatrieprofessor Georg Northoff angeregt, das Embodiment-Konzept auf psychiatrische Erkrankungen anzuwenden. Er versucht, zu begreifen, wie psychische Leiden mit einer gestörten Beziehung zwischen Körper und Umwelt zusammen hängen könnten. Zum Beispiel, wenn es um depressive Patienten geht.

    "Da ist eine abnorme Traurigkeit und vor allem: die sind nicht mehr in der Lage, irgendetwas Schönes und Glückliches zu erleben. Daneben weisen diese Patienten auch ganz starke kognitive Symptome auf, also dass sie immer wieder zirkulierende Gedanken haben, sie machen sich selber Vorwürfe, Schuldgefühle und häufig zirkulieren dann diese eigenen Gedanken immer nur um das eigene Ich - "ich habe Schuld", "ich bin an allem Schuld", "ich kann die Dinge nicht zahlen" - und einen verstärkten Ich-Fokus. Und darüber hinaus weisen diese Patienten dann auch starke körperliche Veränderungen auf, also unspezifische Schmerzsymptome oder Herzdruck oder Unwohlsein und keinen Appetit und natürlich, jeder depressive Patient kennt das, auch die starke Schlaflosigkeit."

    Wie können die um das eigene Ich kreisenden Gedanken der Patienten mit ihren körperlichen Problemen zusammenhängen? Georg Northoff geht in seinem Modell zunächst von der Beobachtung aus, dass das Fühlen und Denken von Depressiven nicht mehr wie üblich funktioniert. Normalerweise existiert im Gehirn ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den Hirnarealen fürs Denken und Fühlen. Bei starken Gefühlen verbrauchen Gebiete in der Mitte des Stirnhirns mehr Energie, während seitliche Areale im Stirnhirn ihre Aktivität zurück schrauben. Bei starken kognitiven Anstrengungen hingegen ist es umgekehrt. Gedanken und Gefühle teilen sich offenbar brüderlich die begrenzte Menge an Energie, die im Gehirn zur Verfügung steht. Bei Depressiven jedoch, fand Georg Northoff, arbeiten die emotionalen Regionen generell zu stark und die kognitiven zu schwach.

    "Das heißt, die Patienten können möglicherweise nicht mehr so flexibel die verschiedenen Aktivierungsmuster aktivieren, sondern sind quasi blockiert in einem bestimmten Aktivierungsmuster und können das Verhältnis zwischen Kognition und Emotionen nicht mehr so feinsinnig, so elegant modulieren wie wir das im gesunden Zustand können."

    Das Gehirn von Depressiven verstärkt also die Emotionen so stark, dass sie mit ihrem rationalen Denken nur noch schwer dagegen ankommen. Das, so glaubt Georg Northoff, führt dazu, dass sie nicht mehr frei und ungezwungen über ihre Beziehungen zur Umwelt nachdenken können. Der Horizont ihres Denkens wird stark auf unmittelbare Gefühle eingeschränkt – unmittelbare Gefühle aber drücken vor allem die Befindlichkeit des eigenen Körpers aus. Dadurch wird der Körper von Depressiven sozusagen zum Gefängnis ihrer Psyche.

    "Er wird hier quasi zu einer Blockade und die ganze Aufmerksamkeit richtet sich nur noch auf den eigenen Körper und nicht mehr auf die Umwelt, und daher haben sie dann auch diese körperlichen Symptome, die möglicherweise durch diese verstärkte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper und der verringerten Aufmerksamkeit auf die Umwelt zustande kommt, das ist die Hypothese."

    Eine Hypothese, die momentan noch sehr spekulativ ist. Georg Northoff meint aber, mit ihr zumindest erklären zu können, warum Depressive so oft vom körperlichen Gefühl der inneren Lähmung übermannt werden und für rationale Argumente kaum mehr zugänglich sind. Ob und wie Depressionen aus gestörten Körper-Umwelt-Beziehungen entstehen, ist bis jetzt aber noch nicht wirklich geklärt. Georg Northoff will in diese Richtung weiter forschen.

    Geist und Psyche, ob krank oder gesund, sind eng ins Wechselspiel zwischen Körper und Umwelt eingebunden. Das ist sozusagen die Minimalaussage des Embodiment-Konzepts. Dessen Vordenker Shaun Galagher geht jedoch noch einen großen Schritt weiter: Für ihn entsteht der Geist gewissermaßen aus den Bewegungen des Körpers in der Umwelt.

    "Für mich ist der Geist keine Substanz, die man an einem bestimmten Ort festmachen könnte. Der Geist ist vielmehr so etwas wie die Summe der Erfahrungen meiner Körperbewegungen. Er entwickelt seine Gestalt aus meinen Bewegungen in der Welt heraus."

    Vom Zusammenhang zwischen Geist und Bewegung sind nahezu alle Vertreter des Embodiment-Konzepts fasziniert. Manche halten ihn sogar für den Schlüssel, um den Geist künstlich nachbauen zu können.

    Ein Hund hoppelt aufgeregt über den Fußboden, weicht Hindernissen aus, läuft mal langsamer, mal schneller. Der Hund besteht aus Metallstangen, an denen Gewichte und ein Motor befestigt sind. Auf seinen metallenen Pfoten befinden sich Drucksensoren, die messen, wie stark er die Beine auf den Boden setzt. Wir befinden uns im Labor für Künstliche Intelligenz der Universität Zürich.

    Dieses Geräusch kommt von einem Gebilde, das einem Comic entsprungen sein könnte: eigentlich ist es unbeschreiblich, es ähnelt weder Tier noch Mensch. Sein Kern besteht aus einem länglichen, elastisch federnden Metallteil, das auf sensorbehafteten Metallfüßen steht. Auf diesen gleitet oder hüpft es über den Boden. Genau so wie der Roboterhund besitzt diese Spielzeugfigur keine zentrale Steuereinheit, die ihre Bewegungen reguliert. Allein die Drucksensoren, der Motor, die Körpergewichte und die elastischen Schwingungen der Konstruktion sorgen dafür, dass sich die Gestalt in rhythmische Gehbewegungen einschwingt und über den Boden hüpft. Dabei steuert der Motor nicht direkt die Beine, sondern er setzt nur die Teile der Konstruktion gegeneinander in Bewegung. Die der jeweiligen Geschwindigkeit angemessene Gehbewegung findet die Konstruktion dann ganz von selbst. Erstaunlicherweise ist sie in der Lage, zwanzig verschiedene Gangarten ausführen, die jeweils von der Motoreinstellung abhängig sind. Durch das Züricher Labor für Künstliche Intelligenz hoppeln, wippen, laufen oder schwimmen noch viele andere solcher merkwürdiger Gestalten.

    Rolf Pfeifer, der Leiter des Züricher Labors, hat früher versucht, in klassischer Weise künstliche Intelligenz zu erschaffen. Er schrieb Software-Programme, um Robotern oder Expertensystemen Intelligenz einzuhauchen. Da er damit aber nicht allzu weit kam, wurde er zu einem der Vordenker der Embodied Artificial Intelligence, einem neueren Zweig der Künstlichen-Intelligenz-Forschung, in dem man davon ausgeht, dass Intelligenz zunächst einmal verkörperte Intelligenz ist.

    "Das ist die Grundhypothese und deshalb untersuchen wir jetzt Fortbewegung. Da ist es eben so - Intelligenz, überhaupt intelligentes Verhalten - dass wir verstehen müssen, wie diese Fortbewegung überhaupt zustande kommt, wenn wir letztlich verstehen wollen, wie daraus Intelligenz entstanden ist. Und ich denke, wir müssen eine solche Entwicklungsperspektive einnehmen, nicht, also das Baby entwickelt sich ja auch so, und ich denke für das Verständnis bringt das viel mehr als wenn ich schon das allerkomplexeste System nehme und da versuche, das zu reproduzieren, weil dann werde ich viel zu viel von meinen eigenen Vorstellungen da hineinproduzieren."

    Fange bei einfachen Problemen an und versuche, sie so einfach wie möglich zu lösen. Das ist der Leitsatz von Rolf Pfeifer. Intelligenz liegt zunächst in der Morphologie, in der Gestalt des Körpers selbst, sagt Rolf Pfeifer - oder in der Konstruktion einzelner Körperteile.

    "Wenn ich einen Arm nehme, der da schwingt, so lose schwingt. Der macht eine komplizierte Bewegung. Aber die neuronale Steuerung für diesen Arm, die ist extrem einfach, weil einerseits die Schwerkraft die Arbeit übernimmt und andererseits die entsprechende Morphologie und die Materialeigenschaften des Körpers – also wir würden dann vielleicht Anatomie und Gewebeeigenschaften sagen beim Menschen - die übernehmen gewissermaßen diese Tätigkeit. Das heißt das neuronale System "weiß" in Anführungszeichen, dass es fast nichts tun muss, weil diese Funktion vom Körper übernommen wird."

    Das informationsverarbeitende Gehirn muss oft nur grob die Bahn der Gelenke oder die Elastizität der Muskeln steuern, alles andere macht die körpereigene Intelligenz von selbst, wenn wir gehen oder etwas greifen. Dieses arbeitsteilige Zusammenspiel zwischen der Intelligenz des Gehirns und der Intelligenz des Körpers möchten die Züricher Forscher mit ihren diversen Roboterprojekten immer besser verstehen und nachbauen. Dazu analysieren sie die Eigenschaften natürlicher Materialien – auch über den Menschen hinaus.

    So ungefähr nimmt eine Ratte mit ihren Barthaaren ihre Umwelt wahr. Die Züricher Robotiker haben ein Rattenhaar einfach auf ein Mikrofon geklebt, es über unterschiedlichste Materialien bewegt und dabei seine Schwingungen gemessen. Das überraschende Ergebnis: Es reagierte subtiler als jedes vergleichbare künstliche Material. Rolf Pfeifer fordert daher, man müsse für intelligente Roboter gegebenenfalls auch natürliche Materialien verwenden, um der Intelligenz des Körpers nahe zu kommen. Etwa bei dem Europäisches Robotergroßprojekt "ICUB", bei dem sich die Forscher bis zum Jahr 2008 der körperliche Intelligenz eines zweieinhalbjährigen Kindes annähern wollen. Die Muskeln dieses Roboters, der zunächst einmal lernen soll, gezielt zu krabbeln und zu greifen, müssten daher eigentlich aus menschenähnlichem Muskelmaterial sein.

    "Das haben wir eigentlich von Anfang an ins Auge gefasst und ich bin da gewissermaßen etwas das morphologische Gewissen in diesem Projekt. Dann hat man aber entschieden, das kennt man weniger gut. Muskeln, das sind hochgradig nichtlineare Gebilde, da weiß man nicht so richtig, wie man die steuern soll und das weiß man halt bei klassischen Elektromotoren sehr viel besser. Und da hat man gesagt, damit man jetzt einfach mal anfangen kann und wirklich etwas mal zu Stande bringt, das funktioniert, geht man eher klassisch vor, ist sich aber bewusst, dass eigentlich die nächste Generation anders aussehen müsste."

    Ist das die Zukunft der künstlichen Intelligenz: Roboter aus menschenähnlichem Material zu bauen? Die Frage ist: Wie weit kommt man letztlich mit diesem Konzept einer verkörperten Roboterintelligenz, auch wenn man künftig natürliche Sehnen, Muskeln oder andere Naturmaterialien einsetzen kann? Lässt sich nur das nachbauen, was an Intelligenz direkt in der Körpermorphologie und in deren Umweltinteraktion steckt - oder kann man von da aus auch abstrakte Fähigkeiten des Geistes wie Sprechen oder Denken entwickeln? Rolf Pfeifer ist zuversichtlich.

    "Nehmen wir ein mathematisches Konzept - also viel abstrakter als mathematisch können sie ja nicht werden - nehmen wir das Konzept der Transitivität. Transitivität heißt, dass wenn A größer ist als B und B größer ist als C, dann ist A auch größer als C. Das ist ein abstraktes mathematisches Konzept. Jetzt hat Linda Smith, eine Entwicklungspsychologin, mit Kindern Experimente gemacht. Da hat sie gesagt, das ist ja gar nicht so wahnsinnig schwierig, dieses abstrakte Konzept: ich habe hier einen Behälter oder einen Sack und dann habe ich da einen kleineren Behälter, da kann ich den da rein tun, und dann kann ich den anderen, noch einen kleineren, den kann ich da auch rein tun. Und da sehen die Kinder sofort: aha, der kleinste ist ja auch im größten drin. Dann haben sie bereits so wirklich "fully embodied" dieses abstrakte Konzept der Transitivität an diesem einfachen Beispiel erfahren. Also so ein riesiger Schritt ist gar nicht von diesem Embodiment bis zu diesen abstrakten Konzepten, man tut immer so, wie wenn das so wäre, aber ich habe das Gefühl, da ist eine viel direktere Relation da."

    Kinder, die ganz spontan mit verschieden großen Behältern spielen und sie ineinander schachteln, erwerben so rein körperlich die Grundlagen, um das mathematische Prinzip der Transitivität zu verstehen. Dementsprechend hat Rolf Pfeifer einen Traum: Er hofft, dass Roboter ähnlich wie Kinder durch körperlichen Interaktionen mit der Umwelt - quasi von selbst - höhere geistige Eigenschaften entwickeln - als immer abstrakter werdende Muster von zunächst oft nur reflexartigen Verhaltensweisen. Eine Roboterutopie, die heute schon gemischte Reaktionen hervorruft.

    "Ich denke schon, dass diese Erkenntnisse, die sich aus diesem Embodiment ergeben, eigentlich unser Menschenbild und vielleicht auch unser Weltbild verändern werden. Und für die einen ist das schrecklich und für die anderen ist das eigentlich eine gute Sache. Wenn das reflexartig funktioniert, kann ich sagen: das ist ja bestens, da brauche ich mich nicht drum zu kümmern. Und die anderen finden das schrecklich, weil sie denken, das habe ich ja nicht mehr unter Kontrolle."

    Wobei es natürlich genügend KI-Forscher gibt, die das Embodiment-Konzept grundsätzlich bezweifeln und solche Menschenbilddiskussionen für überflüssig halten. Aber auch unter den Verfechtern des Embodiment gibt es unterschiedliche Positionen darüber, wie weit man mit dem Konzept gehen sollte: Ist der Geist tatsächlich nur das Folgeprodukt von Reflexen, die sich in der Beziehung zwischen Körper und Umwelt eingespielt und bewährt haben? Der Embodiment-Vordenker Shaun Galagher spricht zwar nicht von "Reflexen", aber er glaubt, dass alles Geistige letztlich verkörpert ist.

    "Für mich gibt es nichts, was nicht verkörpert ist, noch nicht einmal Theorien schließe ich aus. Erzählungen werden natürlich sprachlich verfasst. Aber wenn Sie mich fragen: was ist Sprache? In einem gewissen Sinne ist Sprache eine motorische Vervollkommnung des Körpers. Es gibt Lautsprache, Signale mit den Händen, Gesten, das sind zunächst Körperbewegungen. Die voll entwickelte Sprache hebt das zwar auf ein höheres Niveau, aber die sprachlichen Äußerungen, die daraus entstehen, haben ihre Wurzeln in den körperlichen Erfahrungen und ich bin davon überzeugt, dass man sich nie völlig davon löst."

    Der Bochumer Philosoph Albert Newen jedoch, der ebenfalls mit dem Embodiment-Konzept sympathisiert, sieht die Sache etwas anders.

    "Embodiment sollte jene Phänomene umfassen, die in einer unabdingbaren Weise verkörperlicht sind. Und das sollte man unterscheiden von einer trivialen Verkörperung, Unser Gesichtsausdruck ist zum Beispiel eine ganz wesentliche Form der Verkörperung, dadurch nämlich, dass das, was ein Gesichtsausdruck zum Ausdruck bringt in dieser Fülle und Differenziertheit nur durch den Gesichtsausdruck und nicht durch eine Beschreibung übermittelt werden kann. Wenn wir Sprache verwenden, gehen wir über ein wesentliches Embodiment hinaus, wir entwickeln dann Repräsentationen, die wir vollständig unabhängig von einem Wahrnehmungsinput verwenden können und zwar - idealerweise können wir uns aufs Sofa legen und reflektieren, was wir morgen tun wollen, einen Plan machen und dieser Plan kann dann auch am nächsten Tag handlungsleitend sein. Alles dies ist nur möglich, weil wir kontext- und situationsunabhängige Repräsentationen zur Verfügung haben. Das zeichnet uns Menschen ganz wesentlich aus und scheint auch unsere enormen Handlungsmöglichkeiten erst bereit zu stellen."

    Ob der verkörperte Geist im strikten Sinne nur einen Teilbereich des menschlichen Geistes ausmacht, oder ob Geist sich insgesamt aus den Wurzeln des Körper-Umwelt rekonstruieren lässt, muss beim jetzigen Stand der Dinge offen bleiben. Dass aus dem Forschungsprogramm des Embodiment wichtige Anregungen über die Natur und die Wurzeln des Geistes kommen, scheint jedoch heute schon sicher zu sein.