Das erste Kapitel von "Körperzeit" ist eine kleine Feier der Morgenstunde in poetischer Prosa. Sie ist poetisch dadurch, daß sie sich ohne das treibende Vehikel einer Handlung ganz der Vergegenwärtigung widmet, ganz dem auratischen Aufblitzen der Details, der Gesten und Momente. Und der Klang dieser Sprache läßt daran denken, wie DeLillo, der Diagnostiker des großen Ganzen, einmal seine Arbeit an den einzelnen Wörtern und Sätzen beschrieben hat:
Ich arbeite musikalisch, absolut, ich höre einen Rhythmus, eine Kadenz. [...] Ich benutze eine Schreibmaschine mit ziemlich großer Schrift, weil ich gerne die Form der Buchstaben sehe wenn ich die Tasten anschlage und der Hebel auf das Papier schnellt. Das ist plastisch und ein Genuß für mich.
Gleich auf der ersten Seite wird klar, mit welchem Nachdruck der Autor das Herausarbeiten minimalster Einzelheiten geradezu zelebriert. Das Flattern der Vögel draußen, der schäumende Saft im Glas, die zerstreut-zielstrebigen Bewegungen zweier Menschen in einer Küche - all das Alltägliche erscheint dadurch fast als etwas Wundersames. Und man liest das gebannt, umso mehr weil die Intensität der Schilderung einen Sog entwickelt, der zudem völlig offen läßt, wo es hin gehen soll.
'Wolltest du mir nicht etwas sagen?'
Er sagte: ‚Was?'
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schlüpfte vorbei, auf ihre Seite des Tisches. Die Vögel rauschten vom Futtertrichter auf, mit einem Flügelwirbel aus lauter B's und R's, dem Buchstaben B folgte ein Reihe Vibrato-R's. Aber das war es überhaupt nicht. Nicht im Entferntesten.
‚Du hast etwas gesagt. Ich weiß nicht. Das Haus.'
‚Belanglos. Vergiss es.' [...]
Sie saß da, trank ihren Tee aus und dachte, was sie dachte, an Erinnerungsspuren und aufflackernde Bilder und eine Freundin, die sie vermisste, all das schattenfleckige Zeug eines unteilbaren Augenblicks, wenn an einem normalen Alltagsmorgen der übliche menschliche Wahnsinn herrscht, dass man auf schier gar nichts mehr achtet, außer auf das Ajax, das gekauft werden muß, und die Vögel hinter ihr, die am Metallgestell des Futtertrichters rütteln.
Lauren Hartke, 36 Jahre alt, ist Performancekünstlerin und Rey Robles, 64 Jahre, ist Filmemacher. Ort der Handlung: Ein altes Haus an der Ostküste, nahe New York, das die beiden erst seit ihrer Hochzeit vor vier Monaten bewohnen. Doch bald tritt die Katastrophe ein, die der idyllischen Exposition so oft auf dem Fuße folgt. Davon berichtet ein nach dem sonnigen Einleitungskapitel unvermittelt eingeschobener Nachruf. Rey Robles habe sich in Manhattan in der Wohnung einer früheren Ehefrau erschossen. Zwei Filme aus den späten siebziger Jahren machten ihn für kurze Zeit weltbekannt. Eine wechselvolle Laufbahn brachte später Alkoholismus, Depressionen und Mißerfolge mit sich.
Die überdeutliche Detailzeichnung der Frühstücksszene, so zeigt sich nun, gilt zugleich dem Protokoll eines letzten Beisammenseins. Nach dieser tödlichen Wendung bricht über Lauren ein umfassendes Gefühl der Leere und Abwesenheit herein. Das bezieht sich nicht nur auf Rey. Die ganze Fassung ihres Lebens ist zersprungen. Auch dafür, wie anfangs für die erwachende Welt, formuliert DeLillo ein raumgreifendes Bild in luzider Prosa. Es zeigt Lauren auf dem Rückweg in ihr leeres Haus.
Der Tag ist dunstigweiß, und der Highway führt in einen ausgelaugten Himmel. Vier Spuren Richtung Norden, und du fährst in der dritten, Autos vor und hinter dir und links und rechts, doch nicht zu viele, nicht zu nah. Als du die Höhe erreichst, geschieht etwas, mit einem Mal bewegen sich die Autos ohne Hast voran, scheinen selbstgetrieben und geschmeidig über die glatte Bahn zu rollen. Alles ist langsam, dunstig und entleert, und alles geschieht rund um das Wort scheinen. Alle Autos, auch deins, scheinen in unverbundener Bewegung zu strömen, erwecken den Eindruck, den Anschein, und über den Highway läuft ein weißes Brausen.
Lauren ist allein. Man könnte ihren Zustand auch existentielle Einsamkeit nennen, so losgelöst, wie sie sich von allem fühlt. Doch evoziert dieser Begriff schon viel zu sehr ein philosophisches Konzept. DeLillo geht es nicht um eine conditio humana und auch Laurens Trauer ist eher der Ausgangspunkt als das Ziel der Darstellung. Viel mehr interessieren ihn so schwer faßbare Phänomene wie die psychisch gleitenden Übergänge zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Imagination und Wirklichkeit, Zeit und Stillstand, Schmerz und Gleichmut, körperlichem und geistigem Empfinden und die Frage: Wie bewegt sich ein Mensch, dem seine Fixpunkte abhanden gekommen sind? "Die Welt war in ihr verloren gegangen", heißt es einmal.
Panische Anwandlungen hält Lauren sich vom Leib, indem sie sich an konkreten, einfachen, greifbaren Tätigkeiten entlang hangelt. Und an ihrer Körperarbeit als Performancekünstlerin:
Erst einatmen, dann hecheln, dann keuchen. Davon wurde sie straff und glotzäugig, und im Nacken schwollen die Arterien. Dieses stundenlange Atmen war so drängend und absurd, dass sie am anderen Ende in einem unverdorbenen Licht wieder herauskam und spürte, was Lebendigsein heißt.
Des nachts betrachtet sie stundenlang die von einer Webcam ins Internet gelieferten Bilder von einer Straße nahe der finnischen Stadt Kotka. Fahrende Autos, bedeutungslose Bewegung. Im medialen Bild spiegelt sich die Geistesverfassung der Figur. Solche Analogien finden sich bei DeLillo allenthalben.
Dann geschieht plötzlich erneut etwas Unerwartetes. Lauren geht einem auffälligen Geräusch nach, das sie schon zu Reys Lebzeiten irritiert hatte, und trifft in einem unbenutzten Zimmer auf einen unbekannten Mann. Ein Mann, klein und zartgliedrig sitzt er im Unterhemd auf der Bettkante. Trotzdem läuft sie nicht zum Telefon, um die Polizei zu rufen. Stattdessen beginnt sie - Künstlerin, die sie ist - mit dem kleinen, geistesverwirrten und verirrten Mann zu arbeiten. Sie nennt ihn nach einem tolpatschigen Lehrer, den sie hatte, Mr. Tuttle. Sie spricht mit ihm, gibt ihm zu essen, wäscht ihn und versucht, dahinter zu kommen, wie es um ihn bestellt ist. Doch Mr. Tuttle ist als Gesprächspartner so ergiebig wie ein Papagei. Er wiederholt, was ihm vorgesagt wird, und imitiert sogar die Stimme. Verblüffenderweise imitiert er jedoch nicht nur seine Gesprächspartnerin.
Was sie hörte war allerdings Reys Stimme. Die Imitation war ziemlich genau, der Akzent, die schleppenden Vokale, die intimen Eigenheiten [...] Dies war keine Kommunikation mit einem Toten. Es war der lebendige Rey während eines Gesprächs, das er mit ihr geführt hatte, in diesem Zimmer, nicht lange, nachdem sie hergekommen waren. [...]
‚Hast du jemals? Schau mich an. Hast du jemals mit Rey geredet? So wie wir reden jetzt?'
‚Wir reden jetzt.'
‚Ja. Sagst du ja? Sag ja. Wann hast du ihn gekannt?' ‚Ihn gekannt, wo er war.' [...]
Er ließ seinen Körper kurz von links nach rechts kippen, ein mechanisches Wackeln, ein Tick und ein Tack, wie das allererste Spielzeug mit beweglichen Teilen.
Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte. Der Augenblick hatte etwas Rohes, wie eine offene Wunde, und auch sie wurde aufgerissen, für Dinge, die außerhalb ihrer Erfahrung lagen, aber zugleich äußerst wichtig waren, irgendwie, zum Verzweifeln wichtig.
Mit dem Erscheinen von Mr. Tuttle wird die Dekonstruktion des Vertrauten noch weiter getrieben. Seine Marotte, automatenhaft anderer Leute Stimmen zu imitieren und aufgeschnappte Sätze nachzuplappern, stellt nichts anderes dar als die Auflösung des Zusammenhanges zwischen Wörtern und ihrer Bedeutung, zwischen den Stimmen und ihren Sprechern, zwischen den Figuren und ihren Geschichten. Zugleich erinnert Mr. Tuttles geheimnisvolle Anwesenheit in dem alten Haus mit den ächzenden Wänden an einen Schauerroman. Seine Nachäfferei hat etwas vom Gespensterulk, einem bösartigen Spiel mit den empfindlichen Nerven der Witwe. Doch seltsam genug: Der sonderbaren Gestalt mit "kinnlosem Kopf und Vogelscheuchenkörper" eignet absolut nichts Dämonisches. Was also dann? An diesem Punkt läßt sich nun unmöglich verheimlichen, daß DeLillo seinen Lesern mit dem Auftritt von Mr. Tuttle keineswegs wenig zumutet. Der ist nämlich weder ein Medium mit spirituellen Verbindungen zum Totenreich noch eine Ausgeburt von Laurens traumatisierter Phantasie. Schon eher könnte er als entlaufener Geisteskranker durchgehen, doch auch diese Möglichkeit bleibt ohne Belang. Mit anderen Worten: Hier verbiegt sich die Handlungskonstruktion gefährlich weit ins ziemlich Skurrile. Zwar läßt sich dieser Defekt notdürftig kompensieren, indem man Mr. Tuttle kurzerhand zum Joker erklärt, der eben den teilweise einigermaßen abstrakten Überlegungen seines Autors zu dienen hat. Aber das ändert nichts daran, daß es an der Schlüssigkeit dieser Passagen hapert, weil sie eher zum gewollt zusammengebastelten Konstrukt tendieren.
Überhaupt zeigt sich hier exemplarisch ein Webfehler im erzählerischen Muster des Romans. Auch wenn der keineswegs alles verdirbt, so macht er sich doch durchweg bemerkbar. Zum Beispiel darin, daß es schwer fällt, den Roman zu lesen, ohne für die mysteriös-vieldeutigen Vorgänge immer schon gleichzeitig nach Erklärungen und Interpretationshinweisen Ausschau zu halten. Die Funktion von Mr. Tuttle wird erst dann richtig deutlich, wenn man alle Hinweise eingesammelt hat, mit denen DeLillo seine Absichten erklärt. Was er seinen Lesern immerhin dadurch erleichtert, daß er trotz der wolkigen Fabel sprachlich die Spannung hält. Auch das insgesamt durchaus hochinteressante, ja kühne erzählerische Vorhaben hilft über manche Unebenheiten hinweg.
Denn DeLillo läßt seine Hauptfigur nicht nur einen Prozeß der Dekonstruktion, der Reduktion und Fragmentierung erleiden, er führt sie aus dieser Krise schließlich auch wieder heraus. Allerdings erscheint dabei Lauren ebenfalls - obwohl nicht ganz so stark wie Mr. Tuttle - als absichtsvoll fabriziertes Konstrukt ihres Autors. Bei ihr wird jedoch der reichlich abstrakte Figurenzuschnitt dadurch kaschiert, daß sie ja als Performancekünstlerin firmiert. Und als solche ist sie wie geschaffen dafür, die Intentionen ihres Autors sowohl zu verkörpern als auch zu vertreten. Denn das Gedankenexperiment scheint bei diesem Roman überall durch. Lauren gelingt es schließlich, durch die Einsichten, die sie aus der Begegnung mit Mr. Tuttle gewonnen hat, ihr eigenes Leben wieder zusammenzusetzen, noch dazu auf einem höheren Bewußtseinsstand als zuvor. Anders als Mr.Tuttle, der eingesperrt ist in der Unveränderlichkeit, kann sie ihre Zeit wieder in Gang bringen und damit auch die Erzählung ihres Lebens. Eine aus den Krisenerfahrungen heraus entwickelte Performance hilft ihr dabei.
Hier geht es um Menschen wie du und ich. Was mit dem einsamen Anderssein beginnt, mündet in Vertrautheit, ja, Intimität. Es geht darum, wer wir sind, wenn wir gerade nicht inszenieren, wer wir sind.
So beschreibt eine Journalistin die Performance in einem Artikel über Lauren Hartke. Dieses Porträt ist im Roman genau symmetrisch zu dem Nachruf auf den Filmemacher Rey Robles angeordnet. Reys Thema waren, so hieß es in seinem Nachruf, "Menschen in Landschaften der Entfremdung". Lauren setzt seine Arbeit also auf eigene Weise fort. Sie verkörpert in ihrer Performance verschiedene, auf wenige elementare Gesten reduzierte Figuren, und sie tut das allein mit den reduzierten Mitteln ihres hageren, nackten, künstlich gebleichten Körpers.
Hat mir je eine Figur auf der Bühne einen so einsamen Menschen gezeigt?
fragt die Journalistin in ihrem Bericht und fährt fort:
Seine Worte sind letztlich ein Monolog ohne Kontext. Verben und Pronomen fliegen durch die Luft, und dann geschieht etwas Verblüffendes. Der Körper springt auf eine andere Ebene. Er zuckt wie unter Strom und fuchtelt sich außer Kontrolle, peitscht und wirbelt in abstoßender Weise. [...] Es ist ein Anfall, der den Mann aus einer Wirklichkeit hinaus und in eine andere hineinzukatapultieren scheint.
"Körperzeit" heißt Laurens Performance, genauso wie der Romantitel der kongenialen deutschen Übersetzung von Frank Heibert. Der Originaltitel "The Body Artist" hätte allerdings dem fraglosen Bezug zu Kafkas "Hungerkünstler" besser entsprochen. Beiden gemeinsam ist die Kunst der Reduzierung. Hier jedoch führt diese nicht, wie bei Kafka, aus dem Leben hinaus. Vielmehr eröffnen sich Lauren durch ihre Kunst andere, vielleicht meditativ, vielleicht mystisch hergestellte Erfahrungsebenen. Am Ende des Buches jedenfalls schließt sich der Kreis insofern, als Lauren die Anwesenheit Reys wieder zu verspüren meint. Nicht weil sie durchgeknallt wäre. Sondern weil sie sich ein vielschichtigeres Verständnis der Wirklichkeit erarbeitet hat. Doch Auskunft geben kann sie darüber nicht.
Worum es geht, ist zu klein und abseitig und kompliziert, und ich kann und kann und kann es nicht.
Und ihr Autor will es nicht. DeLillo gibt sich als Erzähler hier durchweg geheimnisvoll. Unwillkürlich erinnert man sich an ein Interview, in dem er verriet:
Alle meine Romane habe ich auf ganz unbestimmte Weise begonnen. Schreiben wird ausgelöst von der Erinnerung an Wunschträume, Tagträume, Gesichter auf den Straßen. So kommt etwas in Gang. Ein Roman kann durch ein Summen in der Luft angeregt werden.
Bei diesem Buch drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß das Träumerische der anfänglichen Idee sich doch in ein ziemlich zähes Ringen mit den thematischen Aspekten verwandelt hat. Obwohl sich DeLillo erzählerisch vorwiegend im Konkreten und Anschaulichen bewegt, spürt man doch allenthalben, wie abstrakte Überlegungen die Regie führen. So als hätte hier die Verwandlung von Reflexion in Handlung einfach nicht völlig gelingen wollen. Ganz abgesehen davon, daß auch diese Handlung selbst gelegentlich an ein Experiment erinnert, bei dem der forschende Autor seine Figuren im kalten klinischen Licht einer raffinierten Versuchsanordnung vorführt.
Was nicht heißt, daß man bei diesem bedeutenden Autor nun plötzlich schieres Unvermögen entdecken müßte. Es genügt völlig, der andächtigen Schlußfolgerung zu widerstehen, daß nach so vielen imponierenden Großwerken aus seiner Feder dieser kleine Roman nun partout als ein Kleinod gepriesen werden müsse. Das ist er nicht, sofern Sinnfälligkeit und Evidenz noch als ästhetische Kriterien gelten. Doch trotz seiner disparaten Struktur bleibt "Körperzeit" immer noch ein sehr beachtenswertes Werk aus Don DeLillos Schreibwerkstatt.