Die Deutschen sagen:
"Guten Tag!"
Die Schweizer:
"Grüezi!"
Die Portugiesen sagen:
"Bom dia!"
Und die Chinesen:
"Chi le ma?"
... was eigentlich bedeutet:
"Hast du schon gegessen?"
Es wäre freilich falsch, diese Worte als Einladung zum Büfett zu verstehen. Schließlich verschont man auch die "Hi, how are you?”-Amerikaner und die "How do you do?”-Briten mit detaillierten Analysen der eigenen Befindlichkeit. "Chi le ma?” ist eine höfliche Grußformel, nichts weiter. Wenn auch eine, die man durchaus zurecht als Hinweis auf den Stellenwert des Essens in der chinesischen Kultur interpretieren darf. Nun werden die Italiener und die Franzosen vermutlich in seltener Einigkeit aufheulen und auf ihren Rang als Weltmeister in Sachen besondere Esskultur pochen. Sie hätten es gar nicht nötig, jeder Zufallsbekanntschaft gleich guten Appetit zu wünschen. Allerdings braucht derlei Gekläff die Chinesen nicht im geringsten zu kümmern, können sie doch auf eine viertausendjährige kulinarische Geschichte zurückblicken. Das heißt: Als Jean und Giovanni noch an rohen Mammutkeulen nagten, speisten ihre chinesischen Zeitgenossen bereits mit Essstäbchen und Etikette. Na ja, das mag ein bisschen übertrieben sein. Aber nur ein bisschen.
Erster Gang: Haifischfinnen mit Soße von Seekrebsen, Taubeneier mit Champignons, Huhn mit Schinkenschnitte.
Zweiter Gang: Wilde Ente mit Rotkohl, gebratener Fisch, fettes Schweinefleisch in Reis.
Dritter Gang: Lilienpflanzen geschmort, Hühnerfrikassee, junge Bambusschösslinge als Salat zubereitet.
Vierter Gang: Schellfisch, Fasan und gebratene Champignons.
Fünfter Gang: Eine süß zubereitete Ente.
Sechster Gang: Huhn in Öl gebraten.
Siebter Gang: Gekochter Fisch.
Achter Gang: Hammelkeule in Schweinefett gebraten.
So liest sich die Speisekarte eines Diners, das ein wohlhabender Chinese um die vorletzte Jahrhundertwende für sechs Freunde gab. Ein einfaches Mahl am Hof der Kaiserinwitwe Cixi um dieselbe Zeit beschreibt die erste Hofdame Ihrer Majestät Der Ling wie folgt:
An diesem Tag hatten wir gekochtes Schweinefleisch auf zehn verschiedene Arten zubereitet. Auf der Mitte der Tafel stand eine sehr große Schüssel aus gelbem Porzellan, worin ein Huhn, eine Ente sowie einige Haifischflossen in klarer Brühe angerichtet waren. Außerdem gab es gebratenes Huhn und Ente. Ferner war noch ein anderes Lieblingsgericht Ihrer Majestät aufgestellt, die Schwarte vom gebratenen Schwein, in ganz feine Streifen geschnitten und gebacken, bis es sich zusammenkräuselt. Nach dem Fleisch riet sie uns drei Hofdamen, Brei aus Mais sowie aus winzigem gelben Reis zu nehmen. Dazu gab es die verschiedensten Sorten Brot. Dann hatten wir saure und eingesalzene Gemüse, die Ihre Majestät sehr bevorzugte. Schließlich gab es noch Bohnen und grüne Erbsen, Erdnüsse zu Kuchen verarbeitet und mit Zuckerrohrsirup angerichtet.
Keine Frage: Die Chinesen wissen eine üppige Tafel zu schätzen. Trotzdem oder eben deshalb und zum Glück ist Thomas O. Höllmanns Kulturgeschichte der chinesischen Küche keine mit Beispielen dekadenter Menüs gespickte Chronik der Völlerei. "Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” ist vielmehr ein Buch über köstliche und ungenießbare Rituale, über Gemeinschaft und Gesellschaft, über kulinarische Hierarchien und Mythologien, über Hunger und Überfluss.
Thomas Höllmann hat diesen Rückblick auf vier Jahrtausende gastrosophisch-gastronomischer Tradition nach mehreren Themenbereichen gegliedert. So widmet sich einer davon den Grundnahrungsmitteln, ausgeklügelten Zubereitungsarten ein anderer, Staatswut und Saatgut ein dritter. Dazwischen gestreut sind Vignetten mit Zitaten aus asiatischen und westlichen Augenzeugenberichten, Geschichtswerken, aus Literatur und Dichtung. Und nicht zu vergessen: fünfundzwanzig Rezepte, von süß-scharfem Rettich bis zu Tintenfisch in Bohnensoße.
Bei einem Gespräch, das zwei verkrachte Existenzen über ihre Lebensziele führten, sagte der eine: "Alles, was mir fehlt, sind Schmaus und Schlaf. Sollte ich es noch zu etwas bringen, dann würde ich nur noch abwechselnd schlemmen und schlummern.” Daraufhin erwiderte der andere: "Da sind wir doch grundverschieden: Ich würde mich nur noch ans Essen halten, so dass mir zum Schlafen gar keine Zeit mehr bliebe.”
Eine Unterhaltung wie diese könnten natürlich auch Russen oder Mexikaner führen. Aufgezeichnet wurde sie allerdings vom Schriftsteller und Staatsmann Su Shi um elfhundert.
Bleiben wir also in China. Wo aber beginnen? Bei den Glückskeksen vielleicht? Oder bei Chop Suey und Affenhirn? Mit derlei China-Fantasien macht Thomas Höllmann dankbar kurzen Prozess. Bei den Keksen handelt es sich um eine Marketingidee aus den Vereinigten Staaten, beim dem in Sojasoße getränkten Restengericht um die Verlegenheitserfindung eines Kochs, dem je nach Überlieferung irgendwo im Wilden Westen oder im Waldorf-Astoria die Vorräte ausgegangen waren. Und wer immer noch glaubt, jede chinesische Kleinfamilie löffle gelegentlich niedlichen Äffchen bei lebendigem Leib das Hirn aus dem Schädel, für den kommt Aufklärung, wie sie Thomas Höllman bietet, möglicherweise ohnehin zu spät.
Nein, statt an derlei kulinarische Märchen hält man sich besser an Tatsachen. Tatsachen wie die schiere Größe Chinas. Dieses Land umfasst 9,6 Millionen Quadratkilometer und hat über 1,3 Milliarden Einwohner. Sie alle essen Reis. Nicht alle gleich viel, aber doch insgesamt so viel, dass inzwischen ein Teil davon importiert werden muss. Dies, obschon China der größte Reisproduzent der Welt ist. Thomas Höllmann wartet immer wieder mit Statistiken, Listen und Zahlen auf, mit denen er den Bezug zur Gegenwart herstellt. Denn es ist zwar beeindruckend, dass man in China bereits zur Zeit der Han-Dynastie vor zweitausend Jahren raffinierte Speicheranlagen baute. Fein gearbeitete Tonminiaturen belegen dies. Nicht minder aussagekräftig ist jedoch der Umstand, dass sich die Chinesen heute mit Vorliebe bei Kentucky Fried Chicken verpflegen und Coca-Cola trinken, wenn auch Letzteres nicht immer eisgekühlt, sondern bei Erkältungskrankheiten gerne heiß und mit etwas Ingwer versehen.
Dorthin, wo der Himmel endet,
wurde ich vermählt.
Als Unterkunft dient nun ein filzbespanntes Zelt,
als Nahrung rohes Fleisch und Stutenmilch.
Schwer wird mir das Herz,
so sehn' ich mich zurück!
Wär ich ein gelber Kranich,
heimwärts flöge ich sogleich.
So klagte Xijun im zweiten Jahrhundert vor Christus. Die dichtende Prinzessin war von ihrem kaiserlichen Großvater einem Steppenkönig in die Ehe gegeben worden und beschwerte sich bitterlich über die Ernährungsgewohnheiten ihrer neuen Familie.
Bei einem Land von der territorialen Vielfalt Chinas sollte es eigentlich nicht überraschen, dass sich die Regionalküchen ebenso stark voneinander unterscheiden wie die europäischen untereinander. Und doch tut es das. Ja, die meisten Chinesen essen Reis. Doch sind in manchen Gebieten, besonders im Norden, Nudeln und Brot weitaus üblicher. In anderen Gegenden konsumiert man große Mengen Milch- und Milchprodukte und kennt keine Laktoseintoleranz wie im Rest des Landes.
Thomas Höllmann bedient sich der gängigen Einteilung Chinas in vier kulinarische Regionen. Diese ist grob und vereinfachend, aber hilfreich. Nämlich: Shanghai im Osten, Kanton im Süden, Sichuan im Westen und Peking im Norden. Shanghai sauer, Kanton süß, Sichuan scharf und Peking salzig.
Der Norden bildet nicht nur des Brotes wegen ein interessantes Beispiel. Da in Peking während fast achthundert Jahren die Kaiser residierten und die kommunistischen Herrscher, die auf sie folgten, auch keine Kostverächter sind, zeichnet sich die dortige Küche durch ungeheure Vielfalt und Qualität aus. Das, obgleich das Klima eigentlich unwirtlich ist und exotische Zutaten über Handelsrouten und Häfen eher in den Süden gelangten. Doch für die Reichen und Mächtigen war und ist nur das Feinste gut genug, und das wurde für sie allen aus Ecken des Landes herbeigebracht. In Peking kochten traditionell auch die besten Köche. Dass der Stadt heute Shanghai und Honkong den Rang als Gourmetmetropole abzulaufen drohen, ist eine relativ neue Entwicklung.
Wer es sich leisten konnte, bekam in Peking also jede Delikatesse, die er sich wünschte. Wer es sich nicht leisten konnte - und das war die überwiegende Mehrheit - ernährte sich hauptsächlich von Weizen- und Hirseprodukten. Fleisch, frisches Obst oder Gemüse gab es kaum. Darüber täuschten auch reichlich Knoblauch und Sesamöl nicht hinweg.
Die reichen Schnösel der Hauptstadt lassen sich kräftig gewürzte Fleischgerichte auffahren. Aber sie verstehen sich nicht aufs kultivierte Trinken, sondern nur aufs Abfüllen der Kurtisanen in ihren roten Röcken. Dem Genuss des Augenblicks verfallen, gleichen sie beinahe einem Schwarm von Stechmücken.
Kulinarische Kulturgeschichten sind zwangsläufig Geschichten reicher Schnösel und abgefüllter Kurtisanen. Nur der Exzess bleibt in Erinnerung. Nur Potentaten nehmen Teigtaschen, Geflügel und Zuckermelonen mit ins Grab. Sattsein ist ein Privileg der Oberschicht. Da mag ein Technokrat wie Tan Zhenlin 1967 in der Rotgardistenzeitung noch so scheinheilig proklamieren:
Was bedeutet Kommunismus? Zunächst bedarf es guten Essens. Sich lediglich satt zu essen, reicht nicht. Zu jeder Mahlzeit gehören Huhn, Schwein, Fisch oder Eier und nach Bedarf erhält man Schwalbennester und weiße Wolkenohrpilze.
Und Bohnenquark mit Bambussprossen, gebratene Auberginen und Seeigel in Entenbrühe. Für die dürftigen Menüs der Bevölkerungsmehrheit interessiert sich niemand. Thomas Höllmann verweist wiederholt darauf, dass die Quellen - hauptsächlich archäologische Funde und schriftliche Aufzeichnungen, darunter frühe Formen von Kochbüchern, von denen das älteste bekannte aus dem Jahr 160 stammt -, dass einem die zur Verfügung stehenden Quellen also lediglich einen winzigen Einblick in den kulinarischen Alltag des alten Chinas gewähren. Gewiss, gleiches gilt für die Geschichte jeder anderen nationalen Küche. Allerdings ist der Gegensatz zwischen Fülle und nichts in China, wo es nie um Hunderte, sondern stets um Abertausende von Menschen geht, besonders frappieren.
Allein in der zweiten Hälfte des neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert forderten Hungerkatastrophen in China über fünfzig Millionen Tote. Die größten Volksaufstände gingen auf Nahrungsmittelknappheit zurück - was Machthaber wie Mao nicht davon abhielt, sich anbahnende Desaster kleinzureden:
Das bedeutet doch lediglich, dass es für eine gewisse Zeit etwas weniger Schweinefleisch gibt.
Etwas weniger Schweinefleisch für die dreißig Millionen Chinesen, die zwischen 1959 und 1961 starben. Dass Mao später ausgerechnet der Mango zu Kultstatus verhalf, indem er die Früchte an seine Propagandatrupps verteilte, mutet vor diesen Hintergrund geradezu grotesk an.
Schlau war der Schachzug aber allemal. Kein Volk ist gegen die Symbolik von Speisen gefeit. Erst recht nicht die Chinesen, die über alle religiösen und sozialen Grenzen hinweg seit dem ersten Jahrtausend vor Christus dem Herdfürst regelmäßige Opfergaben darreichen. Dieser Herdkönig oder Herdgeist, kurz, der chinesische Küchengott bevorzugt Süßigkeiten. Dadurch unterscheidet er sich kaum von den diversen Großen Vorsitzenden, deren Porträts in Chinas guten Stuben dem seinen umsonst Konkurrenz zu machen versuchen. Ihnen kommt man ja auch besser mit Honig als mit Kritik.
Kleine Kuchen wurden gebacken, die währen des neuen Jahres vor den Buddhas und Ahnentafeln aufgestellt werden sollten. Wir gingen in ein besonderes dazu hergerichtetes Zimmer, und die Eunuchen brachten die Zutaten herbei: Reismehl, Zucker und Hefe. Dies wurde zu einem Teig vermischt und gedämpft. Je höher der Reiskuchen aufgeht, desto mehr macht er den Göttern sowie dem glücklichen Verfertiger Freude.
Diese Beschreibung stammt wieder von Der Ling, die zwischen 1903 und 1905 als erste Hofdame der Kaiserinwitwe Cixi in Peking diente. Und ob bei Hof oder auf dem Land, ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart: Chinesen pflegen mit den Bewohnern anderer Sphären, seien das nun Götter oder Tote, nach Möglichkeit ein inniges kulinarisches Verhältnis. So wird Verstorbenen nach Ablauf einer gewissen Zeit auf dem Friedhof mit einem Picknick gehuldigt. Dabei brachte man früher Jujubenkuchen, gepökelte Enteneier, kandierte Früchte und verschiedene Milchprodukte mit. Heute tut man sich vor allem an Klebreisbällchen und Lotuswurzeln gütlich. Da Tote bekanntlich wenig essen, bleibt sicher genug für die Lebenden.
Auch in Klöstern, wo man gewissermaßen von Berufs wegen enge Kontakte mit der Geisterwelt unterhielt, spielten Speisen aller Askese zum Trotz eine wichtige Rolle. Speisen und Getränke:
Es gibt buddhistische Mönche, die Alkohol als "Suppe der Weisen" bezeichnen, Fisch als "auf dem Wasser treibende Blüten” und Hühner als "durch den Zaun wachsendes Gemüse”.
Im Erfindungsreichtum standen chinesische Mönche ihren Kollegen im Westen offenbar nicht nach, wenn es sich um das Umgehen allzu harscher Vorschriften handelte. Und an poetischer Ausdruckskraft übertrafen sie sie sogar. Dass man in Klöstern, diesen Horten geistiger Genüsse, oft Leibliches vorrätig hielt, hängt allerdings auch damit zusammen, dass sie oft als Herbergen dienten. Reisende übernachteten hier und mussten verpflegt werden. Leider ließ der Service manchmal zu wünschen übrig:
18. Tag des 4. Monats: Das Kloster war äußerst ärmlich, die Mönche verhielten sich pöbelhaft und ordinär.
19. Tages des 4. Monats: Die Mönche waren schlichten Gemüts und wurden nervös, als sie unseren Besuch wahrnahmen.
20. Tag des 4. Monats: Unser Gastgeber war von seinem Charakter her ein Bandit, der die Menschen betrog.
21. Tag: Als die beiden Mönche sahen, dass wir als Gäste kamen, vertrieben sie uns mehrmals unter wüsten Beschimpfungen. Nachdem es uns aber gelungen war, in das Kloster einzudringen, änderte sie ihre Gesinnung und sie bereiteten eigenhändig Nudeln für uns zu Besuch weilende Mönche zu.
Diese Tagebuchaufzeichnung stammt aus dem neunten Jahrhundert. Auf Michelin-Sterne müsste dieses Etablissement aber bestimmt auch heute verzichten.
Dem Gastgewerbe widmet Thomas Höllmann eines der mithin farbigsten Kapitel seines Buches. Farbig, weil es den lebhaftesten Eindruck in den chinesischen Alltag vermittelt, der in kaiserlichen Bankettprotokollen nun einmal nicht enthalten ist:
In der Hauptstadt sind die Zugänge zu den Schenken durch Tore markiert, die, mit Girlanden behängt, die Gäste willkommen heißen. Im Restaurant der Familie Ren gelangt man beim Betreten unmittelbar in einen hundert Schritt langen Zentralkorridor. Die beiden Höfe im Norden und Süden sind jeweils von zweistöckigen Galerien umgeben, von denen kleine Räume abgehen. Gegen Abend leuchten die Lampen von allen Seiten, und Hunderte von prächtig herausgeputzten Unterhaltungsdamen warten im Zentralkorridor auf den Zuruf der Besucher.
Und die Besucher kamen, wie der Schriftsteller und Historiker Meng Yuanlao im zwölften Jahrhundert berichtet …
… Tag und Nacht und ließen sich auch durch Sturm, Regen, Hitze und Kälte nicht abhalten./
Natürlich gab es auch bei den Gaststätten den Unterschied zwischen Nobelschänken und Garküchen. In den ersteren konnte man für viel Geld alles bekommen, von frittierten Krebsen über doppelt gekochten Hai bis zu Frauen. Die Garküchen spezialisierten sich dagegen meist auf ein einziges preiswertes Gericht, auf Kürbissuppe etwa oder auf Reis im Bambusrohr. Für Unterhaltung musste der Gast selber sorgen. Grundsätzlich scheinen Teehäuser und Restaurants jedoch ziemlich demokratische Institutionen gewesen zu sein. Hier traf man sich, um Geschäfte abzuwickeln oder zu mehr oder weniger gepflegter Konversation. Man und nur Männer trafen sich hier, dies gilt es dann doch zu betonen, denn Frauen waren als Gäste nicht willkommen. Jede Demokratie hat ihre Grenzen.
Was kann, was darf man von einer Kulturgeschichte der chinesischen Küche erwarten? Was soll, was müsste die Geschichte irgendeiner Nation im Spiegel ihrer Küche bieten? Einen Einblick ins Wesen eines fremden Landes und seiner Bewohner, gemäß Jean Anthelme Brillat-Savarins überstrapaziertem Diktum, wonach man ist, was man isst? Angesichts von 1,3 Milliarden Menschen, viertausend Jahren sowie Stutenmilchkäse neben Tofu und Mongolischem Feuertopf ist dies ein recht ambitioniertes Unterfangen.
Ein ambitioniertes Werk ist Thomas Höllmanns "Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” auf jeden Fall. Der Autor beleuchtet darin auf nur zweihundertfünfzig Seiten eine Vielzahl von Aspekten, die so gebündelt bisher in keinem Lexikon zu finden waren. Dass es sich dabei lediglich um eine kleine Auswahl handelt, verhehlt Höllmann dabei jedoch nie. Dass auch ein Buch wie dieses nur ein Steinchen im riesigen Mosaik darstellt, das China bildet, weiß ein Sinologe wie Höllmann sicher besser als viele andere.
"Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” ist wohltuend frei von kulinarischer Selbstfindung, die inzwischen zum Merkmal vieler anderer Werke geworden ist: Bekenntnisliteratur im Stil von "Wie ich beim Couscous-Krümeln in Marokko mein gebrochenes Herz heilte” oder "Mein Weg von Königsberger Klopsen zur Klarsicht”. Thomas Höllmann hält sich weitgehend heraus aus den goldenen Reisschalen, die er beschreibt. Er schreibt im Ton und mit der Genauigkeit eines Wissenschaftlers, ohne fürchterlich trocken zu klingen. Dass er sich für sein Sujet begeistert, merkt man seiner Sprache an. Einen zusätzlichen Genuss bietet die prächtige Bebilderung. Fotografien von Artefakten, frühe Buchillustrationen, Wandmalereien und Aquarelle verführen beinahe dazu, sich aufs Anschauen dieses Bandes zu beschränken und das Lesen auf später zu verschieben. Aber das wäre ein Fehler. Auch deshalb, weil doch niemand einen Leckerbissen wie den folgenden missen möchte:
Betrunkenes Huhn
Zutaten:
300 Gramm ausgelöste Hühnerbrust
1/4 Teelöffel Salz
1/4 Teelöffel weißer Pfeffer
1/4 Liter Reiswein
1/4 Liter Hühnerbrühe
1 Esslöffel Ingwer, feingehackt
Zubereitung:
Hühnerbrust salzen und pfeffern; anschließend im Dampf garen.
Abkühlen lassen und in eine Mischung aus Reiswein, Hühnerbrühe und Ingwer geben.
Behältnis fest verschließen und über Nacht in den Kühlschrank stellen.
Hühnerbrust in Stücke schneiden und kalt als Vorspeise oder Snack servieren.
Guten Appetit!
Thomas O. Höllmann: Schlafender Lotos, trunkenes Huhn. Kulturgeschichte der chinesischen Küche, C.H. Beck Verlag, München 2010, 256 Seiten, 19.95 Euro
"Guten Tag!"
Die Schweizer:
"Grüezi!"
Die Portugiesen sagen:
"Bom dia!"
Und die Chinesen:
"Chi le ma?"
... was eigentlich bedeutet:
"Hast du schon gegessen?"
Es wäre freilich falsch, diese Worte als Einladung zum Büfett zu verstehen. Schließlich verschont man auch die "Hi, how are you?”-Amerikaner und die "How do you do?”-Briten mit detaillierten Analysen der eigenen Befindlichkeit. "Chi le ma?” ist eine höfliche Grußformel, nichts weiter. Wenn auch eine, die man durchaus zurecht als Hinweis auf den Stellenwert des Essens in der chinesischen Kultur interpretieren darf. Nun werden die Italiener und die Franzosen vermutlich in seltener Einigkeit aufheulen und auf ihren Rang als Weltmeister in Sachen besondere Esskultur pochen. Sie hätten es gar nicht nötig, jeder Zufallsbekanntschaft gleich guten Appetit zu wünschen. Allerdings braucht derlei Gekläff die Chinesen nicht im geringsten zu kümmern, können sie doch auf eine viertausendjährige kulinarische Geschichte zurückblicken. Das heißt: Als Jean und Giovanni noch an rohen Mammutkeulen nagten, speisten ihre chinesischen Zeitgenossen bereits mit Essstäbchen und Etikette. Na ja, das mag ein bisschen übertrieben sein. Aber nur ein bisschen.
Erster Gang: Haifischfinnen mit Soße von Seekrebsen, Taubeneier mit Champignons, Huhn mit Schinkenschnitte.
Zweiter Gang: Wilde Ente mit Rotkohl, gebratener Fisch, fettes Schweinefleisch in Reis.
Dritter Gang: Lilienpflanzen geschmort, Hühnerfrikassee, junge Bambusschösslinge als Salat zubereitet.
Vierter Gang: Schellfisch, Fasan und gebratene Champignons.
Fünfter Gang: Eine süß zubereitete Ente.
Sechster Gang: Huhn in Öl gebraten.
Siebter Gang: Gekochter Fisch.
Achter Gang: Hammelkeule in Schweinefett gebraten.
So liest sich die Speisekarte eines Diners, das ein wohlhabender Chinese um die vorletzte Jahrhundertwende für sechs Freunde gab. Ein einfaches Mahl am Hof der Kaiserinwitwe Cixi um dieselbe Zeit beschreibt die erste Hofdame Ihrer Majestät Der Ling wie folgt:
An diesem Tag hatten wir gekochtes Schweinefleisch auf zehn verschiedene Arten zubereitet. Auf der Mitte der Tafel stand eine sehr große Schüssel aus gelbem Porzellan, worin ein Huhn, eine Ente sowie einige Haifischflossen in klarer Brühe angerichtet waren. Außerdem gab es gebratenes Huhn und Ente. Ferner war noch ein anderes Lieblingsgericht Ihrer Majestät aufgestellt, die Schwarte vom gebratenen Schwein, in ganz feine Streifen geschnitten und gebacken, bis es sich zusammenkräuselt. Nach dem Fleisch riet sie uns drei Hofdamen, Brei aus Mais sowie aus winzigem gelben Reis zu nehmen. Dazu gab es die verschiedensten Sorten Brot. Dann hatten wir saure und eingesalzene Gemüse, die Ihre Majestät sehr bevorzugte. Schließlich gab es noch Bohnen und grüne Erbsen, Erdnüsse zu Kuchen verarbeitet und mit Zuckerrohrsirup angerichtet.
Keine Frage: Die Chinesen wissen eine üppige Tafel zu schätzen. Trotzdem oder eben deshalb und zum Glück ist Thomas O. Höllmanns Kulturgeschichte der chinesischen Küche keine mit Beispielen dekadenter Menüs gespickte Chronik der Völlerei. "Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” ist vielmehr ein Buch über köstliche und ungenießbare Rituale, über Gemeinschaft und Gesellschaft, über kulinarische Hierarchien und Mythologien, über Hunger und Überfluss.
Thomas Höllmann hat diesen Rückblick auf vier Jahrtausende gastrosophisch-gastronomischer Tradition nach mehreren Themenbereichen gegliedert. So widmet sich einer davon den Grundnahrungsmitteln, ausgeklügelten Zubereitungsarten ein anderer, Staatswut und Saatgut ein dritter. Dazwischen gestreut sind Vignetten mit Zitaten aus asiatischen und westlichen Augenzeugenberichten, Geschichtswerken, aus Literatur und Dichtung. Und nicht zu vergessen: fünfundzwanzig Rezepte, von süß-scharfem Rettich bis zu Tintenfisch in Bohnensoße.
Bei einem Gespräch, das zwei verkrachte Existenzen über ihre Lebensziele führten, sagte der eine: "Alles, was mir fehlt, sind Schmaus und Schlaf. Sollte ich es noch zu etwas bringen, dann würde ich nur noch abwechselnd schlemmen und schlummern.” Daraufhin erwiderte der andere: "Da sind wir doch grundverschieden: Ich würde mich nur noch ans Essen halten, so dass mir zum Schlafen gar keine Zeit mehr bliebe.”
Eine Unterhaltung wie diese könnten natürlich auch Russen oder Mexikaner führen. Aufgezeichnet wurde sie allerdings vom Schriftsteller und Staatsmann Su Shi um elfhundert.
Bleiben wir also in China. Wo aber beginnen? Bei den Glückskeksen vielleicht? Oder bei Chop Suey und Affenhirn? Mit derlei China-Fantasien macht Thomas Höllmann dankbar kurzen Prozess. Bei den Keksen handelt es sich um eine Marketingidee aus den Vereinigten Staaten, beim dem in Sojasoße getränkten Restengericht um die Verlegenheitserfindung eines Kochs, dem je nach Überlieferung irgendwo im Wilden Westen oder im Waldorf-Astoria die Vorräte ausgegangen waren. Und wer immer noch glaubt, jede chinesische Kleinfamilie löffle gelegentlich niedlichen Äffchen bei lebendigem Leib das Hirn aus dem Schädel, für den kommt Aufklärung, wie sie Thomas Höllman bietet, möglicherweise ohnehin zu spät.
Nein, statt an derlei kulinarische Märchen hält man sich besser an Tatsachen. Tatsachen wie die schiere Größe Chinas. Dieses Land umfasst 9,6 Millionen Quadratkilometer und hat über 1,3 Milliarden Einwohner. Sie alle essen Reis. Nicht alle gleich viel, aber doch insgesamt so viel, dass inzwischen ein Teil davon importiert werden muss. Dies, obschon China der größte Reisproduzent der Welt ist. Thomas Höllmann wartet immer wieder mit Statistiken, Listen und Zahlen auf, mit denen er den Bezug zur Gegenwart herstellt. Denn es ist zwar beeindruckend, dass man in China bereits zur Zeit der Han-Dynastie vor zweitausend Jahren raffinierte Speicheranlagen baute. Fein gearbeitete Tonminiaturen belegen dies. Nicht minder aussagekräftig ist jedoch der Umstand, dass sich die Chinesen heute mit Vorliebe bei Kentucky Fried Chicken verpflegen und Coca-Cola trinken, wenn auch Letzteres nicht immer eisgekühlt, sondern bei Erkältungskrankheiten gerne heiß und mit etwas Ingwer versehen.
Dorthin, wo der Himmel endet,
wurde ich vermählt.
Als Unterkunft dient nun ein filzbespanntes Zelt,
als Nahrung rohes Fleisch und Stutenmilch.
Schwer wird mir das Herz,
so sehn' ich mich zurück!
Wär ich ein gelber Kranich,
heimwärts flöge ich sogleich.
So klagte Xijun im zweiten Jahrhundert vor Christus. Die dichtende Prinzessin war von ihrem kaiserlichen Großvater einem Steppenkönig in die Ehe gegeben worden und beschwerte sich bitterlich über die Ernährungsgewohnheiten ihrer neuen Familie.
Bei einem Land von der territorialen Vielfalt Chinas sollte es eigentlich nicht überraschen, dass sich die Regionalküchen ebenso stark voneinander unterscheiden wie die europäischen untereinander. Und doch tut es das. Ja, die meisten Chinesen essen Reis. Doch sind in manchen Gebieten, besonders im Norden, Nudeln und Brot weitaus üblicher. In anderen Gegenden konsumiert man große Mengen Milch- und Milchprodukte und kennt keine Laktoseintoleranz wie im Rest des Landes.
Thomas Höllmann bedient sich der gängigen Einteilung Chinas in vier kulinarische Regionen. Diese ist grob und vereinfachend, aber hilfreich. Nämlich: Shanghai im Osten, Kanton im Süden, Sichuan im Westen und Peking im Norden. Shanghai sauer, Kanton süß, Sichuan scharf und Peking salzig.
Der Norden bildet nicht nur des Brotes wegen ein interessantes Beispiel. Da in Peking während fast achthundert Jahren die Kaiser residierten und die kommunistischen Herrscher, die auf sie folgten, auch keine Kostverächter sind, zeichnet sich die dortige Küche durch ungeheure Vielfalt und Qualität aus. Das, obgleich das Klima eigentlich unwirtlich ist und exotische Zutaten über Handelsrouten und Häfen eher in den Süden gelangten. Doch für die Reichen und Mächtigen war und ist nur das Feinste gut genug, und das wurde für sie allen aus Ecken des Landes herbeigebracht. In Peking kochten traditionell auch die besten Köche. Dass der Stadt heute Shanghai und Honkong den Rang als Gourmetmetropole abzulaufen drohen, ist eine relativ neue Entwicklung.
Wer es sich leisten konnte, bekam in Peking also jede Delikatesse, die er sich wünschte. Wer es sich nicht leisten konnte - und das war die überwiegende Mehrheit - ernährte sich hauptsächlich von Weizen- und Hirseprodukten. Fleisch, frisches Obst oder Gemüse gab es kaum. Darüber täuschten auch reichlich Knoblauch und Sesamöl nicht hinweg.
Die reichen Schnösel der Hauptstadt lassen sich kräftig gewürzte Fleischgerichte auffahren. Aber sie verstehen sich nicht aufs kultivierte Trinken, sondern nur aufs Abfüllen der Kurtisanen in ihren roten Röcken. Dem Genuss des Augenblicks verfallen, gleichen sie beinahe einem Schwarm von Stechmücken.
Kulinarische Kulturgeschichten sind zwangsläufig Geschichten reicher Schnösel und abgefüllter Kurtisanen. Nur der Exzess bleibt in Erinnerung. Nur Potentaten nehmen Teigtaschen, Geflügel und Zuckermelonen mit ins Grab. Sattsein ist ein Privileg der Oberschicht. Da mag ein Technokrat wie Tan Zhenlin 1967 in der Rotgardistenzeitung noch so scheinheilig proklamieren:
Was bedeutet Kommunismus? Zunächst bedarf es guten Essens. Sich lediglich satt zu essen, reicht nicht. Zu jeder Mahlzeit gehören Huhn, Schwein, Fisch oder Eier und nach Bedarf erhält man Schwalbennester und weiße Wolkenohrpilze.
Und Bohnenquark mit Bambussprossen, gebratene Auberginen und Seeigel in Entenbrühe. Für die dürftigen Menüs der Bevölkerungsmehrheit interessiert sich niemand. Thomas Höllmann verweist wiederholt darauf, dass die Quellen - hauptsächlich archäologische Funde und schriftliche Aufzeichnungen, darunter frühe Formen von Kochbüchern, von denen das älteste bekannte aus dem Jahr 160 stammt -, dass einem die zur Verfügung stehenden Quellen also lediglich einen winzigen Einblick in den kulinarischen Alltag des alten Chinas gewähren. Gewiss, gleiches gilt für die Geschichte jeder anderen nationalen Küche. Allerdings ist der Gegensatz zwischen Fülle und nichts in China, wo es nie um Hunderte, sondern stets um Abertausende von Menschen geht, besonders frappieren.
Allein in der zweiten Hälfte des neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert forderten Hungerkatastrophen in China über fünfzig Millionen Tote. Die größten Volksaufstände gingen auf Nahrungsmittelknappheit zurück - was Machthaber wie Mao nicht davon abhielt, sich anbahnende Desaster kleinzureden:
Das bedeutet doch lediglich, dass es für eine gewisse Zeit etwas weniger Schweinefleisch gibt.
Etwas weniger Schweinefleisch für die dreißig Millionen Chinesen, die zwischen 1959 und 1961 starben. Dass Mao später ausgerechnet der Mango zu Kultstatus verhalf, indem er die Früchte an seine Propagandatrupps verteilte, mutet vor diesen Hintergrund geradezu grotesk an.
Schlau war der Schachzug aber allemal. Kein Volk ist gegen die Symbolik von Speisen gefeit. Erst recht nicht die Chinesen, die über alle religiösen und sozialen Grenzen hinweg seit dem ersten Jahrtausend vor Christus dem Herdfürst regelmäßige Opfergaben darreichen. Dieser Herdkönig oder Herdgeist, kurz, der chinesische Küchengott bevorzugt Süßigkeiten. Dadurch unterscheidet er sich kaum von den diversen Großen Vorsitzenden, deren Porträts in Chinas guten Stuben dem seinen umsonst Konkurrenz zu machen versuchen. Ihnen kommt man ja auch besser mit Honig als mit Kritik.
Kleine Kuchen wurden gebacken, die währen des neuen Jahres vor den Buddhas und Ahnentafeln aufgestellt werden sollten. Wir gingen in ein besonderes dazu hergerichtetes Zimmer, und die Eunuchen brachten die Zutaten herbei: Reismehl, Zucker und Hefe. Dies wurde zu einem Teig vermischt und gedämpft. Je höher der Reiskuchen aufgeht, desto mehr macht er den Göttern sowie dem glücklichen Verfertiger Freude.
Diese Beschreibung stammt wieder von Der Ling, die zwischen 1903 und 1905 als erste Hofdame der Kaiserinwitwe Cixi in Peking diente. Und ob bei Hof oder auf dem Land, ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart: Chinesen pflegen mit den Bewohnern anderer Sphären, seien das nun Götter oder Tote, nach Möglichkeit ein inniges kulinarisches Verhältnis. So wird Verstorbenen nach Ablauf einer gewissen Zeit auf dem Friedhof mit einem Picknick gehuldigt. Dabei brachte man früher Jujubenkuchen, gepökelte Enteneier, kandierte Früchte und verschiedene Milchprodukte mit. Heute tut man sich vor allem an Klebreisbällchen und Lotuswurzeln gütlich. Da Tote bekanntlich wenig essen, bleibt sicher genug für die Lebenden.
Auch in Klöstern, wo man gewissermaßen von Berufs wegen enge Kontakte mit der Geisterwelt unterhielt, spielten Speisen aller Askese zum Trotz eine wichtige Rolle. Speisen und Getränke:
Es gibt buddhistische Mönche, die Alkohol als "Suppe der Weisen" bezeichnen, Fisch als "auf dem Wasser treibende Blüten” und Hühner als "durch den Zaun wachsendes Gemüse”.
Im Erfindungsreichtum standen chinesische Mönche ihren Kollegen im Westen offenbar nicht nach, wenn es sich um das Umgehen allzu harscher Vorschriften handelte. Und an poetischer Ausdruckskraft übertrafen sie sie sogar. Dass man in Klöstern, diesen Horten geistiger Genüsse, oft Leibliches vorrätig hielt, hängt allerdings auch damit zusammen, dass sie oft als Herbergen dienten. Reisende übernachteten hier und mussten verpflegt werden. Leider ließ der Service manchmal zu wünschen übrig:
18. Tag des 4. Monats: Das Kloster war äußerst ärmlich, die Mönche verhielten sich pöbelhaft und ordinär.
19. Tages des 4. Monats: Die Mönche waren schlichten Gemüts und wurden nervös, als sie unseren Besuch wahrnahmen.
20. Tag des 4. Monats: Unser Gastgeber war von seinem Charakter her ein Bandit, der die Menschen betrog.
21. Tag: Als die beiden Mönche sahen, dass wir als Gäste kamen, vertrieben sie uns mehrmals unter wüsten Beschimpfungen. Nachdem es uns aber gelungen war, in das Kloster einzudringen, änderte sie ihre Gesinnung und sie bereiteten eigenhändig Nudeln für uns zu Besuch weilende Mönche zu.
Diese Tagebuchaufzeichnung stammt aus dem neunten Jahrhundert. Auf Michelin-Sterne müsste dieses Etablissement aber bestimmt auch heute verzichten.
Dem Gastgewerbe widmet Thomas Höllmann eines der mithin farbigsten Kapitel seines Buches. Farbig, weil es den lebhaftesten Eindruck in den chinesischen Alltag vermittelt, der in kaiserlichen Bankettprotokollen nun einmal nicht enthalten ist:
In der Hauptstadt sind die Zugänge zu den Schenken durch Tore markiert, die, mit Girlanden behängt, die Gäste willkommen heißen. Im Restaurant der Familie Ren gelangt man beim Betreten unmittelbar in einen hundert Schritt langen Zentralkorridor. Die beiden Höfe im Norden und Süden sind jeweils von zweistöckigen Galerien umgeben, von denen kleine Räume abgehen. Gegen Abend leuchten die Lampen von allen Seiten, und Hunderte von prächtig herausgeputzten Unterhaltungsdamen warten im Zentralkorridor auf den Zuruf der Besucher.
Und die Besucher kamen, wie der Schriftsteller und Historiker Meng Yuanlao im zwölften Jahrhundert berichtet …
… Tag und Nacht und ließen sich auch durch Sturm, Regen, Hitze und Kälte nicht abhalten./
Natürlich gab es auch bei den Gaststätten den Unterschied zwischen Nobelschänken und Garküchen. In den ersteren konnte man für viel Geld alles bekommen, von frittierten Krebsen über doppelt gekochten Hai bis zu Frauen. Die Garküchen spezialisierten sich dagegen meist auf ein einziges preiswertes Gericht, auf Kürbissuppe etwa oder auf Reis im Bambusrohr. Für Unterhaltung musste der Gast selber sorgen. Grundsätzlich scheinen Teehäuser und Restaurants jedoch ziemlich demokratische Institutionen gewesen zu sein. Hier traf man sich, um Geschäfte abzuwickeln oder zu mehr oder weniger gepflegter Konversation. Man und nur Männer trafen sich hier, dies gilt es dann doch zu betonen, denn Frauen waren als Gäste nicht willkommen. Jede Demokratie hat ihre Grenzen.
Was kann, was darf man von einer Kulturgeschichte der chinesischen Küche erwarten? Was soll, was müsste die Geschichte irgendeiner Nation im Spiegel ihrer Küche bieten? Einen Einblick ins Wesen eines fremden Landes und seiner Bewohner, gemäß Jean Anthelme Brillat-Savarins überstrapaziertem Diktum, wonach man ist, was man isst? Angesichts von 1,3 Milliarden Menschen, viertausend Jahren sowie Stutenmilchkäse neben Tofu und Mongolischem Feuertopf ist dies ein recht ambitioniertes Unterfangen.
Ein ambitioniertes Werk ist Thomas Höllmanns "Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” auf jeden Fall. Der Autor beleuchtet darin auf nur zweihundertfünfzig Seiten eine Vielzahl von Aspekten, die so gebündelt bisher in keinem Lexikon zu finden waren. Dass es sich dabei lediglich um eine kleine Auswahl handelt, verhehlt Höllmann dabei jedoch nie. Dass auch ein Buch wie dieses nur ein Steinchen im riesigen Mosaik darstellt, das China bildet, weiß ein Sinologe wie Höllmann sicher besser als viele andere.
"Schlafender Lotos, trunkenes Huhn” ist wohltuend frei von kulinarischer Selbstfindung, die inzwischen zum Merkmal vieler anderer Werke geworden ist: Bekenntnisliteratur im Stil von "Wie ich beim Couscous-Krümeln in Marokko mein gebrochenes Herz heilte” oder "Mein Weg von Königsberger Klopsen zur Klarsicht”. Thomas Höllmann hält sich weitgehend heraus aus den goldenen Reisschalen, die er beschreibt. Er schreibt im Ton und mit der Genauigkeit eines Wissenschaftlers, ohne fürchterlich trocken zu klingen. Dass er sich für sein Sujet begeistert, merkt man seiner Sprache an. Einen zusätzlichen Genuss bietet die prächtige Bebilderung. Fotografien von Artefakten, frühe Buchillustrationen, Wandmalereien und Aquarelle verführen beinahe dazu, sich aufs Anschauen dieses Bandes zu beschränken und das Lesen auf später zu verschieben. Aber das wäre ein Fehler. Auch deshalb, weil doch niemand einen Leckerbissen wie den folgenden missen möchte:
Betrunkenes Huhn
Zutaten:
300 Gramm ausgelöste Hühnerbrust
1/4 Teelöffel Salz
1/4 Teelöffel weißer Pfeffer
1/4 Liter Reiswein
1/4 Liter Hühnerbrühe
1 Esslöffel Ingwer, feingehackt
Zubereitung:
Hühnerbrust salzen und pfeffern; anschließend im Dampf garen.
Abkühlen lassen und in eine Mischung aus Reiswein, Hühnerbrühe und Ingwer geben.
Behältnis fest verschließen und über Nacht in den Kühlschrank stellen.
Hühnerbrust in Stücke schneiden und kalt als Vorspeise oder Snack servieren.
Guten Appetit!
Thomas O. Höllmann: Schlafender Lotos, trunkenes Huhn. Kulturgeschichte der chinesischen Küche, C.H. Beck Verlag, München 2010, 256 Seiten, 19.95 Euro