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Koloniale Kulisse

Die chinesische Bucht von Qingdao wurde 1897 vom Deutschen Kaiser besetzt. Ein Jahr später pressten die Deutschen China per Vertrag das Recht ab, die Bucht und die umliegende Region zu pachten, und begannen kurz darauf mit dem Bau einer Musterkolonie. Die Fachwerkhäuser und Kirchen kann man noch heute bei einem Bummel durch Qingdao sehen.

Von Silke Ballweg | 17.08.2008
    In den kleinen Gässchen der Altstadt von Qingdao ist das Läuten der Glocken zu hören. Die schlagen im Turm der evangelischen Christuskirche. Vor hundert Jahren wurde das Kirchengebäude auf einem kleinen Hügel umgeben von Bäumen errichtet. Und oben im Glockenturm tickt noch immer das gut einen halben Meter breite und hohe mechanische Uhrwerk des deutschen Herstellers, der es damals in die Christuskirche einbaute.

    "Die Uhr ist Made in Germany und sie ist sehr pünktlich. Sehr pünktlich. Die Besucher hier bewundern immer, dass die Uhr von 1909 stammt und noch ganz exakt funktioniert. Na ja, deutsche Qualität halt!"

    Herr Xing ist rund 60 Jahre alt. Er hat ein faltiges Gesicht und trägt eine abgewetzte blaue Arbeiterjacke. Er stellt sich vor das Uhrwerk und erzählt: Seit drei Jahren komme er täglich in die Kirche, um die Mechanik mit ihren Zahnrädern und Keilriemen zu überprüfen. Aber noch nie sei die Uhr kaputt gewesen, er müsse sie nur regelmäßig aufziehen. Aus einer Kirchturmecke holt er auch sogleich eine lange Kurbel hervor und steckt sie ins Uhrwerk.

    Unter ohrenbetäubendem Lärm leiert er damit ein rund 40 Zentimeter hohes Eisengewicht unter die Kirchturm-Decke. Dann stellt er die Kurbel zurück.

    "Sie geht pünktlich, genauso wie das Fernsehen, wenn die Nachrichten anfangen, dann machen die Glocken bambam."

    Nach der Unterzeichnung des Pachtvertrages über das koloniale Schutzgebiet im Jahr 1898 bauten rund viertausend Deutsche in Qingdao einen Stützpunkt auf. Innerhalb weniger Jahre errichteten sie eine typische deutsche Kleinstadt, mit prachtvollen Verwaltungs- und Geschäftshäusern, mit herrschaftlichen Villen, mit Schulen und Krankenhäusern. Die deutsche Vergangenheit in Qingdao zu entdecken, davon war Ulla Ullmann völlig begeistert, als sie vor zehn Jahren zum ersten Mal in die Stadt kam. Als DAAD-Lektorin ist sie bis heute geblieben.

    "Es gab alles. Es gab das erste Kaufhaus hier in Qingdao, es gab Geschäfte die waren spezialisiert auf Dinge, die man nur in Deutschland kannte, zum Beispiel elektrische Geräte. Es gab Sportvereine, es gab Vereine der Max-Planck-Gesellschaft und dann gab es Handarbeitsclubs, die haben gestickt für die Minderbemittelten, das wurde dann verkauft auf einem großen Weihnachtsmarkt. Also das Leben unterschied sich in nichts von dem in Deutschland."

    Das Deutsche Kaiserreich hatte die Bucht für 99 Jahre gepachtet. Der Erste Weltkrieg machte der kolonialen Machtentfaltung damals jedoch einen Strich durch die Rechnung. Denn 1914 nahmen die Japaner Qingdao ein und die meisten Deutschen wurden als Kriegsgefangene nach Japan gebracht. Nach 1918 kehrten einige Hundert dann nach Qingdao zurück:

    "Die Handwerker waren geschätzt wegen ihrer Berufskenntnisse, die haben hier Leute ausgebildet, die sich dann wieder selber selbständig gemacht haben. Die Marine hat tüchtige Leute hier gelassen, ob Schumacher, Schneider, Reinigung gab es damals schon, das haben die alles hierher geführt und den Leuten beigebracht."

    Noch heute wird in Qingdao Zwieback hergestellt, einige Metzger verkaufen eine Art Fleischwurst nach deutschem Rezept. Am meisten beeindruckt jedoch die Architektur, denn in der Altstadt stehen nach wie vor die meisten Häuser der Kolonialzeit.

    Diese Mischung aus chinesischem Alltag und deutscher Vergangenheit war es, die auch Clemens Bilkenroth sofort faszinierte, als er vor neun Jahren geschäftlich zum ersten Mal aus Deutschland nach Qingdao kam.

    "Was die innerhalb der 17 Jahren geschaffen haben ist aus heutiger Sicht atemberaubend, wenn man durch die Stadt geht und die alten Gebäude sieht, und weiß, dass hier nur viertausend Mann gewesen sind, zweieinhalb tausend Marinesoldaten und anderthalb tausend Kaufleute und Handwerker, all die ganzen Sachen, was die hier geschaffen haben, Wahnsinn."

    Seit neun Jahren pendelt Bilkenroth nun zwischen Hamburg und Qingdao. Die Altstadt mit ihrem bunten Treiben für ihn schnell zur zweiten Heimat geworden. Das liegt wohl auch daran, dass die Häuserfassaden eher an unsanierte Stadtkerne in Europa erinnern denn an China.

    Auf dem Markt, der jeden Tag in einer schmalen Gasse stattfindet, kauft Bilkenroth fast alles, was er tagtäglich so braucht. Es gibt Fleisch und Fisch, Tofu und selbstgemachte Nudeln. Bilkenroth zeigt auf Kartoffeln. Auch die sind vor hundert Jahren mit den Deutschen nach Qingdao gekommen.

    "Die haben die Erdbeeren mitgebracht, die normalen Zwiebeln, die runden gab es hier auch nicht, hier gibt es ja eigentlich nur Chinese Onion, also Lauchzwiebeln, ja und solche Kartoffeln kriegst du auch nur auf dem Wochenmarkt."

    Um sich vor Seuchen zu schützen, die massenweise in China auftraten, bauten die Deutschen damals auch ein Viertel für die Chinesen, die zu Tausenden arbeitsuchend in die Stadt strömten. Noch heute ist es fast komplett erhalten. Hier hat sich der Wochenmarkt angesiedelt. Von dem aus kann man jeweils durch eine steinerne Toreinfahrt in einen der Innenhöfe gehen. Wäscheleinen sind über den Hof gespannt, an die roten Backsteinmauern lehnen Fahrräder und Kisten. Und man sieht heute noch, wie die Deutschen das Viertel damals anlegten.

    "Die Häuser sind in Blöcken, 25 mal 25 Meter, dazwischen eine Straße mit den ganzen Versorgungen, also Zuwasser, Abwasser und Strom. Das war wie in Berlin die Mietskasernen, so sind hier die Häuser gebaut, und eben mit den Balkonen in Windrichtung, damit immer frische Luft da ist und Steine am Boden, damit die Leute nicht in ihrem eigenen Dreck laufen, 25 mal 25 Meter, so sind die ganzen Blöcke gebaut."

    Clemens Bilkenroth hat sich für China ein Motorrad mit Beiwagen zugelegt. Mit dem fahren wir ins ehemalige Wohnviertel der Deutschen. Es geht vorbei an prächtigen Villen mit Fachwerk und kleinen Erkern. In den Vorgärten hängt Wäsche, Chinesen sitzen auf Klappstühlen auf dem Gehsteig und knabbern Sonnenblumenkerne. Bilkenroth selbst hat sich in einem alten deutschen Haus eingemietet, vor dem kommen wir schließlich zum Stehen. Weiße Fassade mit rot angestrichenen Fachwerkbalken, zwei Stockwerke.

    "Das war die Irenenstraße, jetzt Dashe Lu, also Universitätsstraße. So, Schlüssel aus der Tasche kramen, so hier sind wir, sieht noch ein bisschen chaotisch aus."

    Das Haus wurde um 1904 von Deutschen gebaut, es ist ein sogenanntes Bremer Haus.

    "Das ist eine ganz spezielle Bauart, ein ganz besonderer Typ von Häusern, die haben im Eingang Küche und Badezimmer und Wohnraum, und oben Schlafzimmer und Badezimmer."

    Noch teilt sich Bilkenroth das Haus mit einem chinesischen Nachbarn, aber sobald der aus den oberen Räumen ausgezogen ist, will Bilkenroth das gesamte Haus mieten und dann renovieren.

    Denn nicht nur sein Haus, sondern fast alle Häuser der deutschen Zeit sind heute nach wie vor unsaniert. An vielen Stellen bröckelt der Putz von den Wänden, im Inneren setzt sich Schimmel fest. Kritische Stimmen fordern deswegen immer mal wieder, die Altstadt einfach abzureißen und durch moderne Hochhäuser zu ersetzen.

    Sobald irgendwo in der Innenstadt gebaut werden soll, halten Clemens Bilkenroth und einige andere deswegen die Ohren auf. Einer ihrer Mitstreiter ist der Chinese Lao Joe:

    Der 50-Jährige Chinese sitzt in einem Zimmer, das aussieht wie der Geschäftsraum einer Antiquitätenhandlung. Aber die vielen Standuhren, das hölzerne Schiffs-Steuerrad und die alten Bilder sind nicht zu Verkaufen. Sie dienen vielmehr als Dekoration für den Raum, den Lao Joe als Empfangszimmer für sein kleines Hotel benutzt. Das hat er vor fünf Jahren in einem alten Haus der Deutschen eingerichtet.

    Die, so sagt Lao Joe, hätten die Gegend zwar damals kolonialisiert und die Chinesen unterworfen. Aber heute sei es doch wichtig, die alten Gebäude als historisches Erbe zu bewahren. Und deswegen halte er zu Deutschen wie Clemens Bilkenroth regelmäßig Kontakt:

    "Wenn die Stadt einen Bebauungsplan für einen Teil der Altstadt auslegt, dann diskutieren wir darüber. Und wir reden mit Verantwortlichen bei der Stadt und sagen ihnen, ob wir das gut oder schlecht finden. Vor zwei Jahren gab es sogar eine Art Workshop mit deutschen Stadtplanern und Architekten, die haben in Qingdao mit chinesischen Experten ein Konzept erarbeitet, wie die alten Gebäude erhalten werden können."

    Bislang jedoch existiert auf städtischer Seite kein Sanierungsplan, so dass die Chinesen wohl auch weiterhin in den unsanierten Häusern der Jahrhundertwende wohnen müssen.

    Der Bau der Kolonie damals veränderte die Menschen auf beiden Seiten, Deutsche wie Chinesen. Und noch heute blicken viele Chinesen auf die Zeit, als die Deutschen in der Stadt waren, durchaus positiv zurück.

    Qingdao war eine der ersten Städte in China, die schon sehr früh mit der westlichen Zivilisation und auch mit dem westlichen Fortschritt in Berührung kam, sagt etwa der Historiker Lu Hai. Noch als kleiner Junge spielte er in Qingdao gegen deutsche Kinder Fußball, als Historiker hat er sich später mit der Entwicklung der Stadt beschäftigt.

    "In Qingdao gab es damals Klavier- und Geigenkonzerte, man spielte Fußball. Qingdao hatte die erste Bibliothek in China, und wir hatten schon ganz früh eine Universität und internationale Schulen."

    Aber, so Lu Hai, bei alledem dürfe man nicht vergessen, dass die Deutschen damals als Kolonisatoren in die Stadt kamen, mit eindeutigen strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Und dass Tsingtau eine Stadt war, in der die Deutschen herrschten und die Chinesen sich zu fügen hatten.

    "Die Deutschen haben Qingdao damals in zwei Hälften geteilt, der eine Teil war sehr schön, aber der war nur für die Deutschen. Und der Teil, in dem die Chinesen wohnten, war nicht so schön. Das gleiche galt auch für den Strand, es gab einen schönen Sandstrand für die Deutschen, aber den durften Chinesen nicht betreten."