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Kolumbien
Proteste gegen soziale Kluft und staatliche Gewalt

Aufstände und brutale Gegenreaktionen des Staates erschüttern Kolumbien. Die Ursachen für die Proteste sind vielfältig: Es geht um eine geplante Steuerreform, die vor allem die Ärmeren belasten soll, ein schlechtes Pandemie-Management und explodierende Arbeitslosenzahlen.

Von Burkhard Birke | 15.05.2021
Proteste in Kolumbien: In Bogota hat eine feministische Gruppe das Wort "Justicia" auf die Straße gepinselt. Hintergrund ist die Vergewaltigung einer 17-Jährigen im Zuge der Aufstände durch vier kolumbianische Spezialkräfte in der Stadt Popayan.
In Bogota hat eine feministische Gruppe das Wort „Justicia“ auf die Straße gepinselt. Hintergrund ist die Vergewaltigung einer 17-Jährigen im Zuge der Aufstände durch vier kolumbianische Spezialkräfte in der Stadt Popayan. (picture alliance / NurPhoto | Sebastian Barros)
Eine Station der schnellen Eingreiftruppe der Polizei steht in Flammen, Autos und Motorräder brennen, die Feuerwehr rückt an: Ein Videoreporter berichtet für die Zeitung El Tiempo aus Popayan. Die Wogen der Entrüstung schlugen hoch in der Stadt im Südwesten Kolumbiens: Auslöser dieser letzten Eskalation gewaltsamer Proteste war der Fall eines jungen Mädchens, Tochter eines Polizisten wie es heißt, die von Spezialkräften vergewaltigt worden sein soll und anschließend Selbstmord beging.
Der Fußball rollt - noch
Seit fast drei Wochen demonstrieren die Menschen in Kolumbien gegen Missstände. Aus der Welt des Sports gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen. Dennoch werden die internationalen Wettbewerbe fortgesetzt.
Kolumbien kommt nicht zur Ruhe. Seit dem 28. April, dem Auftakt eines Generalstreiks gegen die geplante Steuerreform, ziehen Tag für Tag vor allem junge Menschen auf die Straßen der Städte.
"Damit Kolumbien kein Land ist, in dem elf Prozent der Bevölkerung 90 Prozent der Ländereien besitzen, und kein Land, in dem Menschen nur ein Mal am Tag essen können, wenn sie Glück haben."

Erhöhte Steuerbelastungen für Mittel- und Unterschicht

Die Pandemie hat die soziale Kluft vergrößert. Die Wirtschaft ist letztes Jahr um mehr als sechs Prozent eingebrochen. Mit der Steuerreform wollte die Regierung weggebrochene Einnahmen kompensieren, auch um die Bedürftigsten zu unterstützen. Der große Fehler: Belastet werden sollte die Mittel- und infolge wegfallender Mehrwertsteuervergünstigungen auch die Unterschicht.
Die Reform war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zögerlich umgesetzter Friedensprozess mit der FARC Guerilla und fehlende Sozialreformen, eine geplante weitere Privatisierung des Gesundheitswesens taten ein Übriges. Kolumbien leidet zudem massiv unter der Coronapandemie. Die Armutsquote stieg auf über 42 Prozent, die Arbeitslosigkeit explodierte, viele Familien haben nicht mehr genug zu essen. 80 000 Tote bei einer Bevölkerung von 50 Millionen, Intensivbetten fast völlig ausgelastet, langsame Impfkampagne: Auch das Corona-Management der Regierung wird kritisiert.
Die Steuerreform wurde zurückgezogen, der Finanzminister nahm zuerst und zuletzt die Außenministerin ihren Hut. Claudia Blum habe ihr Land nicht gut genug gegen die international erhobenen Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte verteidigt, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

Verteidigungsminister Molano rechtfertigt brutales Vorgehen

Die staatliche Ordnungsmacht, vor allem das berüchtigte Schwadron gegen Ausschreitungen, Esmad, freilich ging Augenzeugenberichten und Videoaufnahmen zufolge brutal gegen Demonstranten vor. Verteidigungsminister Diego Molano, zuständig auch für die Polizei, rechtfertigte in einem Radiointerview vor einigen Tagen das Vorgehen:
"Wir gehen mit Schlagkraft vor, um die Kontrolle zurückzubekommen und vor allem diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Akte des Vandalismus verantwortlich sind, unter denen die Bevölkerung leidet. Die Armee und die Polizei sind an den kritischen Punkten, um zu garantieren, dass diese Randalierer, diese Terroristen gefangen werden."
Zweifelsohne wurden die Proteste, die nach Angaben von Temblores, einer Menschenrechtsorganisation, bisher weit mehr als 40 Tote gekostet haben, von radikalen Kräften unterwandert. Der Fotograf David Villegas hat jedoch auch andere Beobachtungen gemacht:
"Sicherheitskräfte sind in Zivil aufgetreten. Das bedeutet, die Proteste wurden unterwandert, es wurde auch beobachtet, wie Polizisten mit einer Gruppe in Zivil Gekleideten gesprochen haben, die dann provoziert haben. Und es wurde beobachtet, wie bewaffnete Zivilisten aus Polizeiwagen gestiegen sind."

"Unser Land muss entmilitarisiert werden"

Epizentrum der Proteste war die Stadt Cali im Südwesten, Einzugsgebiet nicht nur der Drogenmafia, im Hinterland operieren auch paramilitärische und Guerillagruppen sowie kriminelle Banden. Hier waren die meisten Opfer zu beklagen. Vor Ort zeigte sich Präsident Ivan Duque gesprächsbereit mit der Jugend:
"Wir müssen eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um unserer Jugend Hoffnung und eine Zukunft zu geben. Dazu gehört die Abschaffung der Studiengebühren, die politische Teilhabe, das Unternehmertum, Digitalisierung, aber es geht auch um kulturelle Teilhabe und Umweltschutz."
Coronakrise gefährdet Friedensprozess
In Kolumbien ist die Pandemie nicht nur eine gesundheitliche Krise, sie schwächt auch den Aussöhnungsprozess zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung.
Die Abschaffung der Studiengebühren für die Bedürftigsten an staatlichen Unis im zweiten Semester, ein erstes Treffen mit dem Streikkomitee vermochten die Wogen des Protestes bisher nicht zu glätten. Die Protestbewegung hat weitergehende Forderungen formuliert. Nelson Alarcon von der Gewerkschaft FECODE:
"Die Morde und Massaker durch die Regierung müssen aufhören. Zweitens müssen unsere Städte und muss unser Land entmilitarisiert werden, weil wir nicht länger hinnehmen können, dass weitere Attentate verübt werden. Während der ‚Präsident der Vermittlung‘ verhandelt, ermordet er weiter das kolumbianische Volk. 42 Bürger, junge Menschen, sind in den letzten 13 Streiktagen ermordet worden. Drittens verlangen wir Garantien für legale Sozialproteste, die wie immer friedlich und demokratisch von uns durchgeführt werden. Provoziert haben die Ordnungskräfte im Auftrag des Präsidenten. Viertens verlangen wir Garantien für Menschenrechtsaktivisten und Journalisten der alternativen Medien."
Denn fast täglich wird ein Aktivist, Journalist oder Ex Guerillero in Kolumbien ermordet. Durch Vermittlung von UNO und katholischer Kirche soll morgen wieder verhandelt werden. Die Fronten sind jedoch verhärtet, die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Was muss geschehen? Die Analyse von Kristina Birke Daniels, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien:
"Das Wichtigste ist zu entmilitarisieren und zwischen der Armee, der Polizei und der Bevölkerung Frieden zu stiften. Die Polizeigewalt muss aufhören und sie muss aufgeklärt werden. Dann muss die Regierung schnell auf die organisierten Teile der Proteste zugehen und messbare Fortschritte erzielen. Die Zusagen dürfen nicht wie beim letzten Mal im Sand verlaufen und gemeinsam beschlossene Maßnahmen müssen realistisch sein und auch umgesetzt werden. Und dann fehlt aber eigentlich noch der wichtigste Teil: Der Dialog mit den vielen unorganisierten Männern und Frauen, Marginalisierte, Indigene und afrokolumbianische Familien, die komplett desillusioniert sind, deren Armut und Zukunftsangst sie immer weiter auf die Straße treiben wird."