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Kometen

"Die "Allee der Kosmonauten" ist eine Straße in Ostberlin. Sie durchquert die Stadtteile Marzahn und Hohenschönhausen, vergessene Grünanlagen, Großtankstellen, Plattenbauten, Zwickelland. An was würde ein tatsächlicher Kosmonaut denken, ein Mensch, der vom Weltraum aus die Erde gesehen hat, wenn er die "Allee der Kosmonauten" entlangginge? Vielleicht würde er, um sich von der Belanglosigkeit abzulenken, an das Universum erinnern, an einen Kometen vielleicht.

Thomas Böhm |
    "Ein Komet ist im Grunde eine Kugel gefrorenen Eises, der im Kern das Ursprungsmaterial eingeschlossen hat, aus dem sich einst unser Weltall geformt hat, unser Sonnensystem. Und je weiter sich der Komet der Sonne nähert, desto weiter löst sich die Ei sschale auf und gibt das Ursprungsmaterial frei."

    So beschreibt der 33jährige Hamburger Schriftsteller Stefan Beuse das astronomische Phänomen der Schweifsterne. Die "Allee der Kosmonauten" kommt in Beuses Debüt-Roman "Kometen" nicht vor, sie gehört zu dem Material, das die Lektüre im Rezensenten freigesetzt hat. Solche Assoziationen, solche verlorenen Gedanken fordert der Text durchgehend heraus, denn zwischen den Fragmenten der Handlung gibt es große Leerstellen, Welt-Raum. Nur langsam erkennt der Leser, wie die über zwanzig Figuren des Romans zusammenhängen, so wie man bei sternvollem Himmel Probleme hat, die Sternbilder zu erkennen,

    Am Beispiel eines Handlungsstranges sei dies gezeigt: Ein Fotograph, der weiß, daß er erblinden wird, verliebt sich in ein zielloses Mädchen namens Kyra. Um ihr zu ersparen, Zeugin seiner Erblindung zu werden, nimmt er die Einladung eines Amerikaners an, dessen Bäume zu fotografieren, obwohl der Fotograph f'ürchtet, der Amerikaner könne ihn umbringen.

    Marie, eine Freundin Kyras, hat bemerkt, dass in amerikanischen Fernsehserien an unpassenden Stellen die Grillen zirpen. Sie schickt eine E-Mail an die amerikanische Studentin Suzie, deren Adresse sie per Zufall im Internet findet. Suzie liest die Nachricht, fährt in den Wald, um in einer Hütte nach den Grillen zu suchen. In der Hütte liegt die Leiche eines Mannes, dem eine Hand fehlt.

    Zwar werden die Verbindungen ansatzweise sichtbar, aber Erklärungen gibt es nicht, die Figuren werden stets von Außen gezeigt, ohne psychologische Einblicke, ohne Biographie, nur im Blitzlicht des Augenblicks. Wie hat Beuse diese Außenperspektive und die Zusammenhanglosigkeit konstruiert?

    "Das ist ein Roman, der extrem nicht am Reißbrett entstanden ist, das heißt, ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, wo ich rauskommen wurde oder wohin mich das tragen würde (... ) Es gibt Leute, die sind unglaublich klar im Kopf und haben eine kristallklare Poetologie und können druckreif reden, aber schreiben schlechte Bücher. Wenn ich etwas begriffen hätte, müßte ich auffiöre zu schrieben. Ich kann wirklich nur über Dinge schreiben, die ich noch nicht kenne und nicht begriffen habe. Und das ist im wahrsten Sine des Wortes ein Umschreiben, also ein Umkreisen des Kerns, ohne diesen Kern jemals treffen zu können."

    Das klingt nach einem romantischen Kunstbegriff, wie ihn beispielsweise Friedrich Schlegel formuliert hat, nach dem "die Willkür des Schriftstellers kein Gesetz über sich leide". Für Schlegel waren alle Dichtarten außer der romantischen fertig und konnten zergliedert werden, während die romantische Dichtung stets im Werden ist, "nie vollendet seyn kann". Anders als die Romantiker hat Beuse keine überhöhte Vorstellung vom Autor als Genie. In einem poetologischen Aufsatz vergleicht er das Schreiben mit einer Autofahrt mit geschlossenen Augen und die Wirkung eines guten Romans mit einem Kinnhaken. Daß sein eigener Schlag trifft, verdankt er jedoch einem Ansatz, der ebenfalls in der romantischen Literatur zu finden ist. Gemeint sind die Ansichten der Nachtseiten des technischen Zeitalters. Die schon erwähnte Marie verabredet sich in einem Internet-Chatroom zu einem "black-date" mit einem Perversen, der sie später ermorden wird. Es ist eben jene Marie, die über das Internet Menschen in der ganzen Welt verwirrt hat, indem sie sie nach Grillen suchen ließ. Im globalen Internet-Dorf verbreiten sich eben nicht nur Informationen auf schnellstem Wege, sondern auch Hirngespinnste und Alpträume.

    Mit der anrührendsten Passage des Romans hat Stefan Beuse beim letztjährigen Ingeborg Bachmann-Wettbewerb den zweiten Preis errungen. Es ist die Geschichte eines Alzheimerkranken, der nach und nach die Bedeutung der Worte vergißt, und darüber verzweifelt, daß er bei vollem Bewußtsein den Zugang zur Welt verliert. Leider sind nicht alle Episoden des Romans als Miniaturen so gelungen, haben nicht alle Handlungsstränge eine so zwingende Ausgangssituation. Doch auch die schwächeren Passagen fallen nicht aus der Gesamtkonstruktion heraus, weil es Beuse ausgezeichnet gelungen ist, zwei einnehmende Grundstimmungen zu erzeugen und konsequent zu erhalten: eine melancholische Trauer und die Ahnung eines kosmischen, romantischen Geheimnisses. Dazu Beuse:

    "Natürlich hat das auch beim Leser mit dieser großen Metapher der Suche zu tun und ist auch ein Spiel damit. Und vielleicht kann der ein oder andere etwas damit anfangen, wenn er merkt, daß er Teil des Spiels geworden ist beim Lesen. Das klingt jetzt auch kokett... Gott. "

    Die letzten, geflüsterten Worte Beuse waren.- "Das klingt jetzt auch kokett... Gott" Gott, wer oder was ist schon nicht kokett? Nehmen wir nur jenen Raumfahrer, der die Alle der Kosmonauten entlangläuft: Ein erfundener, romantischer, selbstbezogener, melancholischer Mann auf einer Allee in der Milchstraße.